Unlängst ging es wieder einmal hoch her im EU-Parlament. Redner der linken und liberalen Fraktionen sorgten sich um europäische Grundwerte, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte. Nein, es ging nicht um die Euro-Rettungsmaßnahmen oder um Zustände in Bulgarien, Griechenland und Rumänien. Es ging um Ungarn, einen der beliebtesten Auslandsstandorte deutscher Industrieunternehmen, um ein Land, das trotz Wirtschaftskrise – anders als die meisten EU-Staaten – nicht über seine Verhältnisse lebt, sondern mehr exportiert als importiert. Das aber zugleich auch versucht, seine eigenen (nationalen) Interessen gegen die internationaler Finanz-, Handels- oder Medienkonzerne durchzusetzen.
Seit dort vor drei Jahren eine nationalkonservative Regierung ins Amt gewählt wurde, weht ein kalter Wind aus Brüssel gen Budapest – und er bläst immer schärfer. Mit der Rückkehr Viktor Orbáns – zwischen 1998 und 2002 schon einmal Ministerpräsident – an die Regierungsspitze endete eine sozialistisch-linksliberale Herrschaft, die erstmals zwei Legislaturperioden währte. In den Jahren von 2002 bis 2010 war das Land ökonomisch abgestürzt: die Staatsverschuldung stieg von 53 (2002) auf 82 Prozent (2012) des Bruttoinlandsprodukts (BIP). So sah das Erbe aus, das Orbán übernahm.
Vom Wähler mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit seines aus dem Bund Junger Demokraten (Fidesz) und Christdemokraten (KDNP) bestehenden Parteienbündnisses im Parlament ausgestattet, bedient sich der 49 Jahre alte, fünffache Familienvater Orbán, der in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) aufwuchs, nach EU-Maßstäben weithin non-konformer Mittel, um postkommunistisch-oligarchische Erbhöfe aufzubrechen. Wegen seiner unkonventionellen Vorgehensweise werden ihm diktatorische Züge angedichtet – doch Orbán und seine Partei sind Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU sowie die ÖVP gehören.
Vor allem aber ist Orbán ein ungarischer Patriot, kein „netter Junge“, wie er kürzlich in Interviews mit deutschen Tageszeitungen betonte: „Ich würde mich sehr schämen, wenn das so wäre.“ Mit „Mainstream-Nice-Guys“ sei Ungarn nicht gedient. Die Wähler hätten ihn „nicht beauftragt, Mainstream-Politik zu betreiben“, er müsse sein Land „mit den schwierigsten Fragen konfrontieren und für diese Lösungen anbieten“. Doch mit Patriotismus und Vaterlandsliebe eckt man an in der schönen neuen EU-Welt. Schon 1989, als Student, hatte Orbán öffentlich den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Ungarn und die Rehabilitierung der Revolutionäre von 1956 verlangt. Deswegen schätzen es viele Ungarn auch heute noch, wenn sich Orbán „Einmischung jedweder Art von außen“ verbittet.
Dass sich Orbán mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) Wortgefechte liefert, spricht eher für den Ungarn. Doch dass jetzt auch die christdemokratische luxemburgische EU-Justizkommissarin Viviane Reding aus der EVP-Familie Artikel 7 des EU-Vertrags ins Spiel bringt, ist in der Tat ernst zu nehmen. Demgemäß kann ein Mitgliedsland mit Sanktionen bis zum Stimmrechtsentzug in den Unionsgremien belegt werden, wenn es „gegen demokratische Grundsätze verstößt“. Das erinnert fatal an das Vorgehen gegen die „falsche“ Wahl in Österreich anno 2000. Mit dem Unterschied, dass seinerzeit nicht die EU(-Kommission) selbst, sondern 14 Regierungen gegen die 15. (die Wiener ÖVP-FPÖ-Koalition) „besondere Maßnahmen“ (Sanktionen) einleiteten.
Die Wortwahl ist ähnlich martialisch: Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn nennt Ungarn einen „Schandfleck“. Unter Beifall des belgischen EU-Liberalen Guy Verhofstadt sieht der (selbst umstrittene) Grüne Daniel Cohn-Bendit Premier Orbán sogar „auf dem Weg, ein europäischer Chávez zu werden, ein Nationalpopulist, der das Wesen und die Struktur der Demokratie nicht versteht“. Sogar Vergleiche mit der „gelenkten Demokratie“ Wladimir Putins oder des weißrussischen Autokraten Alexander Lukaschenko wurden gezogen.
Und das nur, weil eine nationalkonservative Regierung in Budapest ihre Zweidrittelmehrheit – unbeeindruckt von Kritik – dazu nutzt, Ungarn von Grund auf umzubauen und somit die Revolution von 1989/90 zu vollenden. Die Intensität des Umbaus ist vielleicht vergleichbar mit der unter Margaret Thatcher in Großbritannien; inhaltlich geht es allerdings in eine etwas andere Richtung. Und die angeblichen Massendemonstrationen gegen Orbáns Politik haben in der Regel erheblich weniger Zulauf als die national orientierten Kundgebungen des Fidesz. Und Umfragen, so jüngst jene des liberalen Meinungsforschungsinstituts „Median“, bescheinigen dem Orbán-Lager derzeit weiter eine Mehrheit im Wahlvolk.
Orbáns Sündenregister
Wogegen verstößt dieser unbotmäßige Orbán eigentlich? Er gängle die Medien, behaupten seine Kritiker. Doch dass ein Umbau der von ausländischen Verlagshäusern sowie Privatsendern beherrschten und verschuldeten „Staatssendern“ dominierten Medienlandschaft vonnöten ist, können nicht einmal die opponierenden Sozialisten ernstlich bestreiten. In der Printpublizistik hat die den Sozialisten nahe stehende einstige Parteizeitung „Népszabadság“ eine ähnliche Auflage wie das fidesz-nahe Blatt „Magyar Nemzet“.
Was macht Orbán noch verdächtig? Mit Zweidrittelmehrheit wurde ein neues Grundgesetz beschlossen, das 2012 in Kraft trat. Schon seit der Zeitenwende 1989/90 sollte die allenfalls an demokratische Verhältnisse angepasste stalinistische Verfassung von 1949 durch eine gänzlich neue ersetzt werden. Daraus war nie etwas geworden. Orbán ergriff die Gunst der Stunde und ließ ein Grundgesetz ausarbeiten, das laut dem bedeutenden deutschen Staatsrechtler (und Ex-Minister) Rupert Scholz nach „objektiven Kriterien eine moderne, in vielen Punkten sogar vorbildliche Verfassung“ ist.
Darin wird allerdings nicht nur die „Heilige Krone“ Stephans I. als Symbol der Wahrung der historischen Kontinuität der Nation verehrt, sondern auch der „Segen Gottes“ für deren Gedeih erfleht. Ungarn gehört damit zu jenen wenigen Ländern in Europa, die einen Gottesbezug in der Verfassung haben – der übrigens wörtlich aus der ungarischen Nationalhymne entlehnt ist. Auch das „Nationale Glaubensbekenntnis“ ist keineswegs „antieuropäisch“, sondern es betont – fern jedweden territorialen Verlangens – die Verantwortung für die etwa 3,5 Millionen Magyaren außerhalb der Landesgrenzen: „Die Nation muss über Grenzen hinweg vereint werden. Nicht durch die Bewegung von Grenzen, sondern über die Grenzen hinweg, im kulturellen und geistigen Sinne“, pflegt Orbán seinen Kritikern zu entgegnen.
Das festgeschriebene Bekenntnis zur Familie sorgt für Unmut, weil die neue Verfassung die Gleichstellung der Ehe mit gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften ausschließt. Auch mit der Festlegung des 22. Juli zum vierten Nationalfeiertag – im Gedenken an den Sieg eines christlichen Heeres bei Belgrad unter Johann Hunyadi über die Osmanen 1456 – fordert Orbáns Ungarn den Zeitgeist heraus und setzt ihm ein Stück seines christlich geprägten Wertekanons entgegen.
Dass die ungarische Verfassung ohne Volksabstimmung in Kraft gesetzt wurde, hat sie mit dem deutschen Grundgesetz oder der US-Verfassung gemein. Dass das ungarische wie andere Verfassungsgerichte nicht über ähnliche Kompetenzen wie jenes in Karlsruhe verfügt, ist in Europa nicht ungewöhnlich; Großbritannien und Schweden haben gar kein Verfassungsgericht. Und in Österreich wurde der Verfassungsgerichtshof schon oft genug durch großkoalitionäre SPÖ-ÖVP-Gesetze im Verfassungsrang ausgehebelt – ohne dass Brüssel daran Anstoß genommen hätte.
Das „Orbán-Bashing“ wird auf politischer wie medialer Ebene weitergehen, selbst wenn Venedig-Kommission und Monitoring des Europarats Ungarn keine „schwerwiegende Verletzung“ von EU-Grundrechten nachweisen können.
Derweil lässt sich die Autoindustrie weiter von Fakten leiten statt von Vorurteilen: Audi betreibt in Gy?r (Raab) das weltgrößte Pkw-Motorenwerk mit einer Jahreskapazität von zwei Millionen. Zudem werden dort der Sportwagen TT und A3-Varianten montiert. Mercedes begann 2012 mit der Produktion seiner B-Klasse in Kecskemét (Ketschkemet); in diesem Jahr kommt das neue Coupé CLA dazu. Und aus Szentgotthárd (St. Gotthard) sollen von 2014 an 600.000 statt (derzeit) 300.000 Opel-Motoren jährlich kommen. Das stimmt nicht nur Orbán und die „unorthodoxe“ Wirtschaftspolitik seines früheren Ressortchefs (und jetzigen Nationalbankpräsidenten) György Matolcsy optimistisch.
Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist