Wir werden viele Richter brauchen

Am Ostersonntag lief im Fernsehen ein „Tatort“, in dem die Kommissarin ohne richterlichen Hausdurchsuchungsbefehl in die Wohnung eines Verdächtigen eindringt und den Laptop beschlagnahmt. Der Laptop beinhaltet den entscheidenden Hinweis, der zur Aufklärung des Mordes führt. Die Kommissarin wird zur Heldin des Films – weil sie sich über das Gesetz hinweggesetzt hat.

Der Zuschauer scheint es hinzunehmen: Der Staat kann alles, der Staat darf alles, der Zweck heiligt die Mittel.

Die große Errungenschaft des liberalen Rechtsstaates war es, den Staat an Gesetze zu binden. „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“ lautet das noble Legalitätsprinzip des Artikels 18 der Bundesverfassung. Heute scheint der Trend in eine ganz andere Richtung zu laufen: Befreit den Staat von der Bindung durch die Gesetze, bindet die eigenen Bürger.

Wenn die Bindungswirkung der Gesetze in erster Linie die eigenen Leute treffen soll, kehren wir dem liberalen Rechtsstaat den Rücken zu und zum reinen Gesetzesstaat zurück. Die Politiker erkennen den Staatsbürger als die Hauptgefahr für die sittliche Ordnung und überschwemmen ihn daher mit Regelungen, die auch strafrechtlich abgesichert werden. Du sollst nicht diskriminieren, du sollst sexuell nicht lästig sein, du sollst nicht anfüttern, du sollst nicht insiderhandeln, du sollst nicht marktmanipulieren. Dass der normunterworfene Durchschnittsbürger mehr als eine vage Ahnung hat, was mit diesen Bestimmungen gemeint ist, darf bezweifelt werden. Auf diese Weise nähern wir uns jener Willkür, die wir mit der „rule of law“ zu überwinden geglaubt hatten. Selbst Fachleute dürften auf ihrem Gebiet heute kaum mehr wissen, wie sehr der Staat seine Kriminalisierungslust ausgelebt hat. Eine Grazer Anwaltskanzlei hat daher vor kurzem eine 64 Seiten starke Broschüre herausgegeben, um dem Bedürfnis nach einer übersichtlichen Auflistung der Straftatbestände im Bank- und Börsenrecht nachzukommen.

Da Tugendwächter nie ohne Gewalt auskommen, lieben auch die modernen Tugendwächter die Staatsgewalt, mit der sie ihre Vorstellungen einer idealen Gesellschaft haftungsfrei durchsetzen können. Dabei wenden sie auch Methoden an, die sie vor Jahrzehnten noch abgrundtief verabscheuten. Mokierten sie sich damals noch über einen Pornojäger, der eine ganze Gerichtstabteilung zu beschäftigen wusste, haben sie heutzutage den Whistleblower als Held entdeckt. Die Korruptionsstaatsanwaltschaft hat in diesem Geist eine eigene Homepage geschaffen, auf der sich die anonymen Vernaderer austoben dürfen. Ganz eifrige Whistleblower werden auch gleich aufgefordert, diese Homepage als „Favorit“ hinzuzufügen. Das Volk liebt eben den Verrat, nicht aber den Verräter. Leseempfehlung für die Initiatoren: Niccolo Machiavelli, Discorsi, 1. Buch, 8. Kapitel: „So nützlich einer Republik die Anklagen sind, so verderblich sind ihr die Verleumdungen." In diese Kategorie wird sich nämlich das meiste von dem einordnen lassen, was auf die Homepage geblasen werden wird.

Die Denaturierung des Rechts zu einem Instrument der Umerziehung hat zu einem beispiellosen Verlust des Respekts vor dem Gesetz geführt. Mit der Überkodifizierung steigt nicht die Güte des Menschen, sondern dessen Rücksichtslosigkeit. Je mehr Ampeln es gibt, desto öfter fahren die Autolenker noch bei Gelb in die Kreuzung. Der Widerwille gegen das Gesetz wächst, daher auch der Widerstand. Dies lässt sich auch mit einer Armee von Richtern nicht verhindern.

Schon bei Max Weber kann man nachlesen, wie gering die erzieherische Wirkung neuer Rechtsregeln ist. Wenn sich das Strafrecht von der Durchschnittsmoral der Bürger entfernt, züchte es keine besseren Menschen, sondern Aversion. Das Recht als Symbolträger zu verwenden, weil man ein Zeichen setzen möchte, überschätzt die Grenzen der Machbarkeit. Dass eine Gesellschaft scheitern muss, wenn sie die Moral über die Freiheit stellt – statt in der Freiheit selbst eine moralische Dimension zu erkennen - hat die Menschheit immer wieder drastisch erfahren müssen. Wir sind daher immer wieder gefordert, den Großinquisitor in uns selbst zu besiegen.

„Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht“ meinte schon Pascal. Es gibt eine antimephistophelische Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Es ist höchste Zeit, dem Moralismus der modernen Verbotsgesellschaft den Rücken zu kehren.

Dr. Georg Vetter ist selbständiger Rechtsanwalt mit Schwergewicht auf Gesellschaftsrecht und Wahrnehmung von Aktionärsinteressen in Publikumsgesellschaften.

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