Griechenland – einmal anders betrachtet

Vom Film „Alexis Zorbas“ war ich Mitte der 1960er Jahre als Gymnasiast zum ersten Mal fasziniert. 1975 lernte ich meine spätere Frau kennen, eine Griechin aus dem Norden des Landes. 1977 besuchten wir zum ersten Mal gemeinsam ihre Heimat. In den Folgejahren waren wir mindestens einmal jährlich auf Urlaub in Griechenland. Seit meiner Pensionierung 2011 verbringen wir fast die Hälfte des Jahres in Griechenland. Und trotzdem – ich bin immer noch am Lernen, wenn es darum geht, die griechische Mentalität zu verstehen.

Letztendlich münden alle Beobachtungen in der Frage: Warum verhalten sich die Griechen so anders als wir Mitteleuropäer? Zum einen muss man festhalten, dass es wohl keine Mittel- oder sonstigen Europäer gibt, die so viel Herzlichkeit vermitteln können wie die Griechen. Von dieser Warte her betrachtet kann man schnell auf die Griechen neidisch werden. Zum anderen gibt es wohl nur wenige Mittel- oder sonstige Europäer, die so „anders“ sein können, wie es die Griechen oft sind. Zumindest anders, als wir das erwarten. Wahrscheinlich erwarten wir uns von den Griechen, dass sie sich ähnlich rational verhalten sollten, wie wir es gelernt haben und dann treffen wir auf manchmal irrationale Spontaneität und Impulsivität. Es mag vielleicht keinen Sinn machen, aber es hat allemal Charme.

So fragte ich kürzlich meinen jahrelangen Freund und Griechenland-Mentor, warum sich denn beispielsweise die jungen Griechen, die sich jetzt mit einer Rekordarbeitslosigkeit konfrontiert sehen, nicht um Arbeit in anderen Ländern bemühen, beispielsweise in Deutschland. Mehr hätte ich nicht fragen müssen, um eine umfassende Vorlesung von meinem Freund zu bekommen.

Das liegt, sagte er, an der „griechischen Psyche“. Griechenland sei eine Gesellschaft, so fuhr er fort, die sich von ihrer Geschichte überfordert fühlt. Dazu kommt noch, dass Griechen zumindest bisher eine überfürsorgliche und total verwöhnende Erziehung (vor allem seitens der griechischen Mütter) erfuhren, was nicht unbedingt zur optimalen Entfaltung einer Persönlichkeit beiträgt.

Mein Freund empfahl mir das Büchlein „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ von Nikos Dimou, das 1975 erschienen war. Es besteht aus 193 Aphorismen auf nicht einmal 70 Seiten. Als ich es las, musste ich mich an „Die Österreichische Seele“ von Prof. Erwin Ringel erinnern.

Dimou schreibt (sehr unterhaltsam!), dass die Griechen bis ins 18. Jahrhundert eine Mischung von Türken, Albanern, Slawen, Walachen, etc. etc. waren, die auf relativ primitive Weise in einem kargen Land ums Überleben kämpften. Wenn man sich beispielsweise ein Bild von Athen zur Zeit des Kampfes um die Unabhängigkeit anschaut, dann sieht man ein türkisches Dorf mit circa 4.000 Bewohnern und mit einer Akropolis, die den Türken als Waffendepot diente (angeblich wollte man sogar die Akropolis niederreißen). Und dann – so schreibt Dimou – kamen die Deutschen und Engländer und redeten diesen einfachen Menschen ein, dass sie nicht Türken, Albaner, Slawen, Walachen oder was sonst noch waren, sondern stattdessen die direkten Nachfahren der großen Hellenen!

Dimou leitet daraus das Kernproblem der heutigen Griechen ab – eine Mischung aus einem nationalen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn.

Griechen „bewerben“ sich nicht; sie „lassen sich umwerben“, erklärte mir mein Freund. Griechen ignorieren die Realität, weil – wie Dimou schreibt – die Griechen mit der Realität nicht fertig werden würden. Mein Freund wies mich darauf hin, dass die Griechen in den Schulbüchern ihre Geschichte seit der Unabhängigkeit teilweise umgeschrieben haben. Da lernen die jungen Griechen, dass ihre Vorfahren direkte Nachkommen der großen Hellenen waren, die sich in einem mutigen Befreiungskrieg erfolgreich gegen die Türken durchgesetzt haben. Dass auf dem heutigen Territorium Griechenlands immer nur Griechen lebten; etc.

Laut meinem Freund ist das eine gewaltige Dehnung der Realität. Im heutigen Nordgriechenland (Makedonien) war beispielsweise vor dem Bevölkerungsaustausch mit den Türken der Anteil der Griechen nur 45 Prozent. Und die Griechen haben, so sagte mein Freund, so Einiges an ethnischen Säuberungen durchgeführt, damit das heutige Griechenland „ganz griechisch“ sein konnte (bis heute weigert sich Griechenland angeblich, eine systematische Erfassung der Minderheiten, die vor allem im Norden ganz gewaltig sind, zu machen).

Unvereinbar mit dem übrigen Europa?

Mein Freund erklärte, dass sich aus all diesen Strömungen eine nationale Psyche ergibt, die mit dem rationalen Westen sehr wenig und mit der protestantischen Ethik aber schon gar nichts zu tun hat. Interessanterweise gilt das für die Griechen in Griechenland. Sobald griechische Auswanderer beispielsweise Fuß auf amerikanischen Boden setzen, saugen sie buchstäblich über Nacht die amerikanische Arbeitsethik auf.

Mein Freund behauptet, dass ein Griechenland-Kenner vor 40 Jahren sagen hätte müssen: „Liebe EU, liebe Griechen – bitte nehmt zur Kenntnis, dass Ihr nicht zusammen passt. Euch trennen Kulturwelten! Ihr werdet Euch gegenseitig zerreiben!“ Und vor 20 Jahren hätte man sagen müssen: „Liebe Griechen, seid vorsichtig mit dem Euro; der könnte Euch umbringen“. Offenbar hat es in der elitären EU keine Griechenland-Kenner gegeben.

Mein Freund weigert sich, die Flinte ins Korn zu werfen und fatalistisch über Griechenlands Zukunft in der Eurozone zu spekulieren. Deswegen kommt er immer wieder mit Ideen, wie es Griechenland vielleicht doch noch schaffen könnte (wohl wissend, dass solche Ideen wohl nie umgesetzt werden könnten). Trotzdem meint er, dass über kurz oder lang Griechenland wieder zur Drachme zurückkehren wird/muss.

Eine deflationäre Anpassung in jenem Ausmaß, das Griechenland benötigt, wäre selbst für das aufgeklärteste Volk eine enorme Herausforderung. In Griechenland wird dadurch – wie man sieht – die Situation immer nur schlimmer. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als wollten die Griechen der Troika beweisen, dass ihre Maßnahmen nicht funktionieren können, nur damit sie als Opfer bestätigt werden.

Mein Freund legt Wert darauf, seine obigen Ausführungen über die „griechische Psyche“ etwas zu qualifizieren. Bis zu einem gewissen Grad wächst heute schon eine neue junge Generation heran. Das sind junge Griechen, die weniger von den Mythen der Vergangenheit, sondern vom Studium an Universitäten geprägt sind. Junge Griechen, die Fremdsprachen hervorragend beherrschen. Junge Griechen, mit denen man ganz vernünftig über Griechenland diskutieren kann, ohne dass sie in narzisstische Wutanfälle gegen die Ausländer (vor allem gegen die Deutschen) geraten. Das sind aber – leider für Griechenland – auch jene jungen Griechen, die ihre Heimat verlassen wollen, um sich anderswo besser verwirklichen zu können.

Zum Schluss erwähnt mein Freund die griechischen Eliten. Das seien Eliten, von denen sich die Eliten anderer Länder etwas abschauen könnten: bestens gebildet; international versiert; höchst kultiviert; Eliten eben. Aber leider sind es auch Eliten, die bisher immer meinten, dass das Land für sie da sei und nicht umgekehrt.

Klaus R. Kastner
Vier Jahrzehnte Bankmanagement in sechs Ländern (Österreich, Deutschland, England, USA, Chile, Argentinien), davon 1980-87 in Chile/Argentinien als Country Manager vor Ort einer der größten amerikanischen Gläubigerbanken; Studien an Harvard und INSEAD; derzeit in Griechenland tätig.
 

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