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Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert

„Demokratie … ist institutionalisierte Ungewissheit“: Mit diesen Worten endet Jan-Werner Müllers Buch „Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert“ (Suhrkamp 2013). Es ist ein Streifzug durch das an politischen Extremen reiche vergangene Jahrhundert. Seine Protagonisten sind Wissenschaftler, Agitatoren, Revolutionäre, Politiker, Philosophen, Schriftsteller – und ihre Ideen. Viele Gedanken sind „schlagend geworden“, manche dann sogar tödlich.

Es wurde für viele Bewohner Europas eine „bittere Erfahrung, dass die gelehrten Worte der Philosophen, so unverständlich und absurd sie dem Durchschnittsmenschen auch erscheinen mochten, auf ganz unmittelbare Weise ihr Schicksal bestimmen konnten“ (Czes?aw Mi?osz). Politische Glaubenslehren aller Art wurden produziert; nachgerade zwanghaft. Sie sollten die jeweilige politische Herrschaft – die existierende oder angestrebte – legitimieren und ihre Taten oder Untaten rechtfertigen. Dabei wurde oft auf der Klaviatur „demokratischer“ Werte gespielt; auch von jenen, die eine liberale parlamentarische Demokratie verachteten: Von den Ideologen der „Volksdemokratien“, die eine kommunistische klassenlose Gesellschaft versprachen ebenso wie von den Faschisten, die einen „Volksstaat“ theoretisierten.

Ursprünge der radikalen „politischen Religionen“

Im ersten Teil seines Buches beschäftigt sich Jan-Werner Müller vornehmlich mit den marxistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Ideen (und ihren Trägern), die allesamt – aus unterschiedlichen Gründen – durch eine Abwendung von der „liberalen Demokratie“ gekennzeichnet waren. Sie betonten ursprünglich, manche stärker, andere weniger stark – Gleichheit (nicht nur vor dem Gesetz), eine echte Einbeziehung in die politische Gemeinschaft, eine auf Dauer gestellte Teilhabe an der Politik, einen Kollektivkörper (eine „gesäuberte“ Nation oder ein sozialistisches Volk). Manche glaubten dafür einen „neuen Menschen“ erfinden/schaffen zu müssen – und wenn es denn sein musste, mit Gewalt.

„Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft“. Mit diesem Satz bezog sich Stefan Zweig 1942 auf die Vorkriegsjahre bis 1914. Die Kriegsjahre zeigten die Wirklichkeit des gedanklich „Unmöglichen“; und sie begünstigten die Entwicklung von Ideen, die schon vor dem Großen Krieg existiert hatten: Des Marxismus, der nun neue, höchst verschiedenartige Blüten trieb; die Absage an die Ideen der Aufklärung, die ideologische Verherrlichung der Gewalt (z.B. bei George Sorel. Er wurde von Rechten und Linken gepriesen und „genutzt“; sein Beispiel zeigt, dass man auch als kleiner Provinzbeamter durch Schriften Revolutionäre inspirieren kann).

Auch der Rassismus wurde gedanklich lang vor dem Weltkrieg grundgelegt. Es ist nicht das geringste Verdienst dieses Buches, auf die Möglichkeiten solcher „Spätzündungen“ aufmerksam zu machen, auf die Quellen, die im günstigen Augenblick auszubrechen beginnen.

Vielfach illustriert ist die Rolle der Intellektuellen bei diesen Ideen- und Produktionsprozessen: Oft als notwendige und zu gewinnende „Second-hand-dealer“ (A. v. Hayek), manchmal als „Ingenieure der menschlichen Seele“ (J. Stalin), oft als akademische Schüler, die ihren Lehrer (M. Weber) entsetzten (G. Lukacs und E. Bloch), andere als ambitionierte oder tatsächliche Chefideologen (G. Gentile), wieder andere als Dissidenten, die nicht mit der Macht schwammen, sondern – höchst risikoreich – gegen sie ankämpften (J. Pato?ka, V. Havel, A. Michnik).

Das Zeitalter der „politischen Religionen“ (E. Voegelin) war auch nach dem 2. Weltkrieg nicht vorbei. Die Faszination, die der Kommunismus für viele Eurokommunisten (Italien, Frankreich) hatte, bestand auch dann noch fort, als im östlichen Teil Europas der Glaube an ihn im Verschwinden begriffen war.

Die praktische „Europäische Ideologie“

Aber die praktische Politik war vielerorts mit anderen Fragen beschäftigt. Mit Fragen des Wiederaufbaus, der Sicherheit, der Vermeidung eines Rückfalls in totalitäre Strategien. Verfassungsgerichte sollten die neue Ordnung als ganze schützen und individuelle Rechte gewährleisten (Österreich war das dritte Land – nach den USA und Kanada – das einen eigenen Gerichtshof damit beauftragte). Für „undemokratisch“ hielt dies Hans Kelsen, anders als viele Gegner, nicht.

Eine „neue Ideologie“ müsse eine europäische sein, verkündete K. Adenauer 1952 und De Gasperi bezeichnete die europäische Föderation „als einen Mythos … im Sinne Sorels … dieser Mythos ist ein Mythos des Friedens“. Also wieder einmal Sorel…

Es entwickelte sich zunehmend und lagerübergreifend ein Glaube an „technokratische“ Lösungen für soziale und ökonomische Probleme. Die Ideale der Arbeiterselbstverwaltung blieben in den meisten Ländern auf der Strecke.

Bemerkenswert ist die Einschätzung des Autors bezüglich der Christdemokratie. Er nennt sie „die wichtigste ideologische Innovation der Nachkriegszeit und eine der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts überhaupt“. Sie trat für Subsidiarität und ein Europa ein, das „in seinem christlich-humanistischen Erbe vereint wäre, wobei über Details nicht allzu viel diskutiert wurde, solange sie unterm Strich auf Antikommunismus hinausliefen“.

Sie erklärte die Menschenrechte für unverzichtbar für eine wirklich katholische Weltanschauung; man scheute sich nicht „in der Mitte zu regieren und mit den Methoden der Rechten die Politik der Linken zu betreiben“ (G. Bidault).

Wirtschaftsliberale und sozialkonservative Katholiken fanden einen Kompromiss: „Wenn erstere die traditionelle Moral akzeptieren, fänden sich letztere mit dem Markt ab – so lautete der Deal“.

1968: Ursachen und Folgen

Die „Allerweltsparteien“ entstanden; langweilig, aber auch weniger gefährlich. Auch den Ideen der 68-er Bewegung(en) widmet der Autor einige Seiten. Er hat diese Zeit – so wie die davor – nicht erlebt, sondern erlesen. Sanfter Spott ist unverkennbar.

Für konservative und liberale Antitotalitäre hatten damals allerdings die Alarmglocken geschrillt, schließlich schienen „die Studenten das Parlament so sehr zu verachten, wie es die Links- und Rechtsextremen in den 1920er Jahren getan hatten." 68 schien die Webersche These zu bestätigen, dass die Herrschaft unpersönlicher Mächte wie der Technik, stets eine hocherregbare subjektivistische Kultur als vermeintliches Gegengewicht auf den Plan ruft. Er verweist aber auch auf die Verachtung, ja Wut, die die 68er mitunter von kommunistischen Intellektuellen erfuhren (P.P. Pasolini 1968: „Die Journalisten aus aller Welt (mitsamt/denen vom Fernsehen) / lecken euch (wie man glaube ich immer noch sagt in der Sprache der Uni), den Arsch. Ich nicht, Freunde / Ihr habt Gesichter von Vatersöhnchen“).

Auf die existierenden Verfassungen hatte 68 ff keine Auswirkungen. Auf die Sitten, so meint der Autor, schon. Manche diagnostizieren, dass die sozialen Beziehungen von Kindern und Eltern, Lehrern und Schülern, Vorgesetzten und Arbeitern aufgeschlossener geworden sind (U. Eco). Man kann sich auch fragen (J.W. Müller), ob es nicht auch ohne 68 zu einer Liberalisierung gekommen wäre. N. Luhmann formulierte als trockenes Resumeé: „Nach 68 konnte man über den Rasen laufen“.

Dissidenten im Kommunismus

Man mag über die gelegentlich geäußerte These streiten, dass es in Westeuropa auf die Intellektuellen immer weniger ankam. Für Mittel- und Osteuropa gilt sie mit Sicherheit nicht. Die Strategien der Dissidenz in den „Volksdemokratien“ waren relativ neu. Sie bestanden nicht in neuen Ideologien oder Kampfschriften, sondern u.a. in einer Art Rechtspositivismus mit unausgesprochenen politischen Absichten. Die „sozialistischen“ Regierungen (nicht alle) hatten die Helsinki-Schlussakte von 1975 unterzeichnet und damit auch den „Menschenrechtskorb“ (missachteten oder verhöhnten sie ihn gar im Stillen? Henry Kissinger tat es immerhin öffentlich).

Schon in den 60er Jahren hatte es in der Sowjetunion Versuche gegeben, mit radikalem „zivilen Gehorsam“ zu operieren. Jessenin-Wolpin versuchte eine „Revolutionierung der Art und Weise, wie Revolutionen gemacht werden“. Nach der Festnahme der Schriftsteller A. Sinjawski und J. Daniel organisierte er am „Tag der sowjetischen Verfassung“ eine Demonstration. Auf Flugblättern wurde „zur strikten Einhaltung der Gesetze“ aufgerufen, auf Spruchbändern zu: „Respektiert die sowjetische Verfassung!“ – Nach herrschender Sitte wurde er verhaftet und in die Psychiatrie eingewiesen.

Ein Jahrzehnt später trat die Charta 77 mit dem Anspruch auf, dem tschechoslowakischen Staat dabei zu „helfen“, die Helsinki-Schlussakte umzusetzen. Es war eine Konzentration auf Rechte, die der Strategie zugrunde lag. Man nahm die Regierung beim Wort. Den traditionellen politischen Kampf hielt man für aussichtslos; den Aufbau einer „Parallelgesellschaft“ nicht; nach 1989 übernahmen viele Länder, sehr zur Enttäuschung westlicher Linker, das Modell westlicher Demokratien und – oft in stärkerer Ausprägung als in Westeuropa – marktliberale Methoden.

Conclusio

Ein Buch wie dieses zeigt in der möglichen Kürze (ohne Anhang ca. 400 Seiten) das Aufkommen und Erodieren politischer Ideen (ihre Träger und ihre Opfer). Es vermittelt – ähnlich wie Tony Judt’s „Postwar“ – den Glauben (nein, nicht die Gewissheit!), dass wir in diesem Europa in einer besseren Zeit leben (das glaubten, siehe Stefan Zweig, auch viele Menschen vor 1914). Der Autor bemerkt nach diesem Streifzug, dass „wir mehr als einmal sahen, wie die Europäer das Vertrauen in liberaldemokratische Politik verloren haben … Es könnte sie die Dauerhaftigkeit und Flexibilität ihrer Art und Weise, seit 1945 Politik zu machen, mit einem gewissen (zweifellos gedämpftem) Gefühl des Vertrauens in vergangene Errungenschaften und zukünftige Möglichkeiten erfüllen“.

In der Nachbetrachtung ist es eine faszinierende Geschichte, voll von Aufbruchsstimmung und Scheitern, von wahnsinnigen Konstrukten und bemühten Visionen, von Visionären und Schurken.

Der Autor ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton. Der professorale Ton fehlt ihm – und das macht das Buch so gut lesbar, ja geradezu spannend; aus seiner Abneigung gegenüber manchen Ideenproduzenten macht er kein Hehl, viele behandelt er mit Ironie, aber stets versucht er ihre Botschaft und deren Motivation klar zu beschreiben. Es ist ein Buch, das politisch interessierte Menschen lesen sollten. Es hält einige Überraschungen und Erinnerungen für sie bereit.

Rudold Bretschneider ist seit Jahrzehnten in diversen Cheffunktionen bei GfK (früher Fessel-GfK) tätig und einer der prominentesten Marktforscher und politischen Analysten des Landes.

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