Wenn es in Geschichts- und Politikwissenschaft spannend werden soll, muss man nach Ungarn kommen. Dieser Eindruck verfestigt sich angesichts von Aussagen in Referaten und Forschungsergebnissen, welche unlängst auf einer internationalen Konferenz „Südtirol in Vergangenheit und Gegenwart“ an der Andrássy-Universität (AUB) in Budapest vorgetragen worden sind. (mit nachträglicher Ergänzung)
Da tat der in Hildesheim lehrende Historiker Michael Gehler – er steht der Kommission für Geschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vor – kund, die Südtirol-Frage sei „Ergebnis eines entfesselten italienischen Nationalismus, der durch Expansionsbestrebungen gekennzeichnet war“. Im Lichte von Aussagen des italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti, wonach es sich „um eine inneritalienische Angelegenheit“ handle, reklamierte Gehler zu Recht die in internationalen Verträgen verankerte Schutz(macht)funktion Österreichs und fügte mutig hinzu: „Die Südtirol-Frage ist nach wie vor offen; es ist nichts entschieden.“
Ebenso starkes Erstaunen riefen Ergebnisse jahrelanger Forschungen Hubert Speckners von der Wiener Landesverteidigungsakademie hervor. Der promovierte Oberst unterzog bei erstmaliger Auswertung bisher unveröffentlichter Sicherheitsdokumente und unter Verschluss gehaltener Gerichtsakten den „Vorfall auf der Porzescharte“ – wie er das bisher als „Terror-Anschlag“ eingestufte Ereignis nennt – einer gänzlichen Neubewertung. Der Vorgang, bei dem am 25. Juni 1967 vier italienische Soldaten respektive Carabinieri zu Tode kamen, hatte seinerzeit zu enormen Spannungen zwischen Österreich und Italien und zum absoluten Tiefpunkt des bilateralen Verhältnisses geführt.
In Italien waren drei Österreicher – Peter Kienesberger, Erhard Hartung und Egon Kufner – in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt, in Prozessen hierzulande dagegen „im Zweifel für den Angeklagten“ freigesprochen worden. Speckner deckt nun sensationelle Ungereimtheiten auf, bringt italienische Dienste und Angehörige der ominösen „Gladio“-Einheiten sowie die damalige „Strategie der Spannungen“ ins Spiel, sodass er, feststellen kann: „Die drei, die dafür verantwortlich gemacht worden sind, waren es mit absoluter Sicherheit nicht“. Damit wird eine gewichtige Phase Gesamttiroler Geschichte umgeschrieben werden müssen.
Provokant sind die Thesen Reinhard Olts, des ehedem langjährigen Wiener F.A.Z-Korrespondenten, der seit Beginn des Wintersemesters 2012/13 als Gastprofessor an der AUB lehrt und neulich von der benachbarten Eötvös-Loránd-Universität zum „Doctor honoris causa“ promoviert sowie zum Professor ehrenhalber ernannt worden ist. Olt hinterfragte und korrigierte das gängige Südtirol-Bild: Das „System Durnwalder“ sei am Ende; dessen Partei, die seit 1945 regierende SVP, stecke in einer Führungskrise; die als modellhaft gepriesene Autonomie habe ersichtliche Kratzer abbekommen und sei diskreditiert; die Südtiroler Oppositionsparteien (Freiheitliche, Süd-Tiroler Freiheit und Bürgerunion) seien mit ihrem Verlangen nach Selbstbestimmung und „Los von Rom“ allen demoskopischen Befunden zufolge auf der Siegerstraße.
All das und einiges mehr hat nicht nur Madeleine Kohl, eine Südtiroler Studentin an der AUB, mit natürlichem Interesse an ihrer Heimat in den Bann gezogen, sondern nicht wenige ihrer Kommilitonen dazu bewogen, sich mit der Südtirol-Problematik näher zu befassen. Und Professoren, Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern der AUB war der Stolz anzusehen, dass ihnen die Platzierung und Ausrichtung einer so publizitätsträchtigen und echoreichen Konferenz gelang, womit wieder einmal die internationale Beachtung ihrer vergleichsweise jungen Hochschule unterstrichen werden konnte.
Die Grundidee der Andrássy-Universität
An deren Wiege standen anno 2001 Ministerpräsident Viktor Orbán – der im Frühjahr 2010 seine jetzt zweite Regierung gebildet hat – der damalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber und der baden-württembergische Regierungschef Erwin Teufel. Die Gründerväter der AUB wollten eine Hochschule mit deutscher Unterrichtssprache, mit breitem Sprachangebot und mit der zwingenden Vorgabe, Forschung und Lehre besonders auf Mitteleuropa abzustellen.
Schon der Namensgeber verriet das: Gyula Graf Andrássy (1823-1890) war einer der Architekten des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 und von 1871 bis 1879 Außenminister der mittels des Ausgleichs geschaffenen Doppelmonarchie. Die kleine, aber feine Universität mit mitteleuropäischem Programmschwerpunkt und internationaler Ausrichtung knüpft unter dieser traditionellen Vorgabe an eine bewegte Geschichte der deutschsprachigen Hochschulausbildung an, die bis zur Schließung (aufgrund der Benesch-Dekrete) im Jahre 1945 mit der deutschsprachigen Karl-Ferdinands-Universität in Prag bestanden hatte.
Indes sollte durch die Budapester Gründung nicht etwa eine Art restaurativer Prozess eingeläutet werden – wie einst 1882 in Prag, als auf Betreiben Wiens die „Alma Mater Carolina", die älteste Hohe Schule Mitteleuropas, in eine tschechische und in eine deutsche Lehranstalt aufgeteilt worden war. Die Gründung im einstigen Budapester Stadtpalais der Grafen Festetics, ganz in der Nähe des Nationalmuseums gelegen, möchte sich bewusst durch einen übernationalen Charakter auszeichnen – ganz der Idee eines friedlich geeinten aber vielseitigen und vielgestaltigen Europas über Staatengrenzen hinweg verpflichtet.
Weshalb sich die Initiatoren, welchen sich auch die Schweiz anschloss und denen zudem das Auswärtige Amt in Berlin Unterstützung zuteil werden lässt, die „Multinationalität als Konstruktionsprinzip" auf die Fahnen hefteten. Die offene Geisteshaltung, welche dieses Gemeinschaftsprojekt auszeichnet, zieht eine bunte Mischung junger Absolventen aus ganz Europa an und lässt sie dort auf bestens ausgewiesene und höchst interessante Forscher und Lehrende treffen.
An den Fakultäten werden in postgradualen Studiengängen 200 Absolventen von Hochschulen aus 20 Ländern – mit Schwerpunkt Ungarn, Deutschland, Österreich, Schweiz, Rumänien, Slowakei und Polen – interdisziplinär für ihre künftigen Führungs- und Fachaufgaben vorbereitet. Nicht wenige sollen und wollen später im diplomatischen Dienst ihrer Herkunftsländer tätig werden und erwerben an der AUB sozusagen ihr Entrée-Billet.
Die Studiengänge und der Donauraum
So führt die Fakultät für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften graduierte Juristen in der Pflege kontinentaleuropäischen und internationalen Rechtsdenkens sowie in der Vertiefung des europäischen Gemeinschaftsrechts zusammen. Absolventen kommen nach Erwerb des Abschlusstitels – eines Magister Legum (LL.M.) – ihrem Berufswunsch in einer europäischen oder internationalen Behörde, Organisation oder einem international tätigen Unternehmen einen Schritt näher. Ähnliches geschieht an der Fakultät für internationale Beziehungen: Sie verfolgt das Ziel einer allumfassenden Ausbildung. Zum einen vermittelt sie im Studiengang „Internationale Angelegenheiten“ breite (Spezial-)Kenntnisse auf den Feldern (mittel)europäischer Politik, Wirtschaft und Gesellschaft; zum anderen im Parallelstudiengang „Internationale Beziehungen/Ökonomie“ neben dem klaren Schwerpunkt in der Volkswirtschaftslehre ein fundiertes Verständnis für europäische Wirtschaftspolitik und -integration.
Dem Profil der Gesamtuniversität folgend sind die Studiengänge auf das Ziel der „Einheit der Gesellschaftswissenschaften" ausgerichtet. Das eigens installierte Donau-Institut fungiert dabei quasi als Dachorganisation für die auf die „Donauraum-Strategie“ der EU bezogenen Aktivitäten der Fakultäten sowie der Doktoratsschule. Rektor András Masát und die Studiendekane der AUB sowie die Leiterin der Doktoratsschule – die deutsche Politikwissenschaftlerin Ellen Bos, die zugleich den Vorsitz innehat – sind im Vorstand des Instituts.
Für die Donauraum-Strategie ist die AUB als Modellprojekt für die internationale Kooperation im Donauraum geradezu prädestiniert. Weshalb sie von der ungarischen Regierung auch in deren Aktionsplan „Entwicklung der Wissensgesellschaft durch Forschung, Bildung und Informationstechnologien“ aufgenommen worden ist. Dessen Ziel deckt sich mit dem Ehrgeiz der Hochschule, nämlich in Kooperation mit weiteren Universitäten einen internationalen Studiengang zu entwickeln, der eigens, aber allumfassend, dem Donauraum gilt. Damit hat die AUB, an der ausschließlich weiterführende Masterstudiengänge und Promotionsprogramme angeboten werden, die Möglichkeit, sich noch stärker als Forschungsinstitution zu etablieren.
Organisation und Finanzierung der Universität
Die geringe Zahl der pro Studienjahr aufgenommenen Studierenden, die alle eine Aufnahmeprüfung bestehen müssen – zugelassen werden nur Postgraduierte, die über gute Deutschkenntnisse verfügen – ist Garant gegen Phänomene der „Massenuniversität" die von unpersönlichen Begegnungen und schlechter oder fehlender Betreuung durch Professoren und Dozenten gekennzeichnet ist. An der „Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität“, wie die Hochschule in der Pollack-Mihály-tér 3 im VIII. Budapester Stadtbezirk offiziell heißt, beträgt das Verhältnis Lehrende zu Lernenden 1:7, was zweifellos auch die Lehrveranstaltungen fachlich und didaktisch begünstigt sowie die Teilnehmer persönlich herausfordert. Das gilt im Besonderen für das Klima an der eigens eingerichteten Doktorats-Schule, in deren Rahmen sich jeder Promotionswillige vor Abgabe seiner fertig gestellten Dissertation einer Reihe von Seminaren unterziehen muss.
Und die Finanzierung? Die AUB-Stiftungsmitglieder stellen das Lehrpersonal zur Verfügung und sichern die Stipendien. Bis zum Studienabschluss fallen für jeden Absolventen monatlich 500 Euro an Studiengebühren an. Für Studierende, die das nicht aufbringen können, stehen Stipendien aus einem durch Unternehmen und Stiftungen gespeisten Fonds bereit. Ungarn brachte das für 16 Millionen Euro renovierte Festetics-Palais ein und sorgt für den reibungslosen Lehrbetrieb; auch Unterkünfte in Wohnheimen werden vermittelt. Die anderen Beteiligten tragen die Personalkosten für die von ihnen an die AUB entsandten Professoren.
Unlängst ist als neuer „Mitförderer“ die Autonome Region Trentino-Südtirol hinzugekommen, die für zunächst fünf Jahre einen namhaften Beitrag zum Budget der AUB beisteuert. Was gewiss auch Anreiz für die Ausrichtung der gerade abgeschlossenen Südtirol-Konferenz gewesen sein dürfte. Die spannend war und Aufsehen erregende neue Erkenntnisse zeitigte.
(Nachträgliche Ergänzung:
Wegen einer bedauerlichen Verwechslung ist es leider zu einer Fehlangabe gekommen. So beträgt die Studiengebühr nicht, wie irrtümlich angegeben, monatlich 500 Euro, sondern 200.000 Forint pro Semester, was nach gegenwärtigem Umrechnungskurs 690 Euro entspricht. Der Autor entschuldigt sich für die fehlerhafte Angabe.)
Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Journalist