Beim zehnten, unter Beteiligung internationaler Fachleute abgehaltenen Wirtschaftskongress „Com.Sult“, der – wie in den Jahren zuvor – im prachtvollen Haus der Industriellenvereinigung in Wien stattfand, wurden zum Teil recht konträre Standpunkte hinsichtlich der Ursachen und denkbaren Strategien zur Überwindung der herrschenden Wirtschafts- und Finanzkrise vertreten.
Der glühende Befürworter einer politischen Vereinigung Europas, der österreichische Literat Robert Menasse, durfte seine Gedanken – die er in seinem im Vorjahr veröffentlichten Buch „Der Europäische Landbote“ formuliert hatte – als erster präsentieren. Menasse träumt von einem von Brüsseler Bürokraten zentral geführten, multikulturellen Einheitsstaat auf europäischem Boden. Der abfälligen Kritik an Bürokratien könne er überhaupt nichts abgewinnen. Bürokratie stelle vielmehr eine glanzvolle Zivilisationsleistung dar. Die Bürokraten der EU zeichneten sich zudem dadurch aus, dass sie nicht länger nationalstaatlichen Interessen verpflichtet wären. Nationalstaaten hätten in der Vergangenheit nichts als Unglück über die Menschen gebracht, hätten die schlimmsten aller Menschheitsverbrechen zu verantworten und wären überholt.
Eine unglaublich schlanke Brüsseler Bürokratie („die weniger Beamte beschäftigt als die Gemeinde Wien“), die mit ihrer Arbeit keinerlei Eigeninteressen verfolge, bestehend aus hochkarätigen Fachleuten („von 30.000 Bewerbern werden gerade einmal 100 genommen“), solle ein bisher nie gekanntes, friedliches Sozialparadies lenken. Die Kommission verkörpere diesen europäischen Gedanken in vorbildlicher Weise, während der Rat immer noch nationalen Interessen verpflichtet sei und stets als Bremser einer weiteren Integration auftrete.
Die Mitglieder des Rates würden schließlich auf nationaler Ebene gewählt und verkörperten allein dadurch den Widerspruch zur supranationalen Politik der Gemeinschaft. Keine Nation könne jedoch die anstehenden Probleme im Alleingang lösen [Applaus(!)]. Daher gelte es, die Macht des Rates zu beschneiden. Wir hätten es derzeit weder mit einer Wirtschafts- noch mit einer Finanzkrise zu tun, sondern vielmehr mit einer Krise der politischen Institutionen. Hier gelte es daher, mit Reformen anzusetzen. Das Modell der USA sei indes kein Vorbild für ein modernes Europa, da es altmodisch und auf „gewaltsamer Landnahme“ aufgebaut sei. Das von Menasse angestrebte Euroland dagegen wäre gewaltfrei, musterdemokratisch und auf der Basis völliger Freiwilligkeit aller Partizipanten errichtet.
„Subsidiarität“ hat im Denken Robert Menasses offensichtlich keinen Platz. Die dieser Tage zunehmend sichtbar werdende Realität der Brüsseler Funktionärarroganz könnte gar nicht weiter von der „schönen Alten Welt“ entfernt liegen, die sich der Schriftsteller erträumt. Brüssel maßt sich ja derzeit an, jeden noch so privaten Lebensbereich, von der Vorzimmerbeleuchtung bis zum Konsum von Genussmitteln – ja sogar die Gestaltung von Speisekarten in Wirtshäusern – seinem Diktat zu unterwerfen. Menasse hängt jedoch dem Traum nach, dem noch jeder seinen Elfenbeinturm niemals verlassende, konstruktivistische Weltverbesserer erlegen ist.
Auftritt der EU-Skeptiker
Nach dieser geballten Ladung haarsträubend naiven Wunschdenkens tat es gut, zwei gestandene Praktiker zu hören. Zunächst brach Philipp Blond, konservativer Berater des britischen Premierministers David Cameron, etwas überraschend eine Lanze für den Verbleib des Vereinigten Königrechs in der EU. Der Umstand, dass Europa sowohl im Osten als auch im Süden mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert sei, erfordere die Mitarbeit Großbritanniens – nicht nur in sicherheitspolitischer Hinsicht. In Großbritannien gebe es keinesfalls eine politische Mehrheit für einen Austritt aus der EU. Die Einführung des Euro sei ein schwerer Fehler gewesen, der die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft schwäche. Dauerhafte Subventionen an die Südländer seien dadurch programmiert und hinderten diese daran, aus eigener Kraft aufzuholen. Man müsse überdenken, was die Idee Europas bedeute. Dessen Stärke liege in seiner Vielfalt.
Danach erläuterte Václav Klaus – seit 2003 Präsident der Tschechischen Republik, gestandener Realist, liberaler Ökonom und Querdenker, der den konsequent umgesetzten Wunsch zur Zwangbeglückung durch eine abgehobene Funktionärselite Jahrzehntelang am eigenen Leibe erlebt hatte – seine Gedanken zum Eurozentralismus. Dabei stand die Kritik an der unseligen Einheitswährung der Gemeinschaft im Zentrum. Der spanische Wirtschaftsminister habe, angesichts der in seinem Lande besonders drastisch spürbaren Konsequenzen der Euroeinführung geäußert, dass „…man uns vor deren Folgen zu wenig gewarnt habe“.
Das entlarvt Klaus als einen schlechten Witz. Nahezu alle seriösen Wirtschaftswissenschaftler hätten nämlich schon lange vor der Einführung des Euro kein gutes Haar daran gelassen. Dieses Elitenprojekt sei als politisches Vehikel erdacht und eingesetzt worden, um die politische Integration Europas voranzutreiben. Von der sei man heute – ironischerweise gerade wegen der Währungsunion – allerdings weiter entfernt als jemals zuvor. Der Euro habe zu Zerwürfnissen zwischen den Nationen geführt, die es ohne ihn niemals gegeben hätte. Der Verlust der Währungshoheit habe die schwachen (südlichen) Ökonomien der EU ihrer Möglichkeit beraubt, währungspolitische Instrumente zur Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den leistungsstarken „Nordstaaten“ einzusetzen. Jetzt gehe es darum, Illusionen zu zerschlagen, die sich um den Erhalt Eurolands als zentralistisch geführten Wohlfahrtsstaat ranken. Damit sei ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum nämlich unmöglich. Die politische Integration sei ein schwerwiegender Fehler. Der wirtschaftlichen Inhomogenität Europas mit einer Währungsunion begegnen zu wollen, sei es ebenso.
In der anschließenden Podiumsdiskussion konnte Franz Fischler, als ehemaliger Landwirtschaftskommissar die inkarnierte Zentralbürokratie schlechthin, der Kritik an den Tendenzen der EU zur Machtakkumulation naturgemäß wenig abgewinnen. Er räumte zwar ein, dass der Euro für gewisse Schwierigkeiten einiger Länder der Eurozone verantwortlich sein könnte. Er meinte aber, dass das Ziel, „mehr wirtschaftliches Wachstum“ zu generieren, nur gemeinschaftlich zu erreichen wäre und dazu der Einsatz „innovativer Konzepte“ notwendig sei. Darauf konterte Václav Klaus, dass er dieselben Forderungen einst bereits aus dem Munde Leonid Breschnews gehört habe, als dieser erkannte, dass es mit dem zuvor von Chruschtschow angekündigten, wirtschaftlichen Aufholprozess gegenüber den USA nicht klappen würde. Liberale Ökonomen waren damals schon die vom System zu Feinden erklärten Personen. Sie seien es heute wieder [an dieser Stelle brandete spontan Applaus auf].
Trostloses Fazit: Für die EU gilt seit „Lissabon“ dasselbe wie weiland in der UdSSR, als in sagenhafter Verkennung der Tatsachen und in maßloser Selbstüberschätzung der Möglichkeiten der politischen Eliten, das Ziel formuliert wurde, die EU zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen…
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.