Ich habe sie gelesen, die geheim verhandelten Vereinbarungen nach Artikel 15a der Bundesverfassung. (Sie sind per e-Mail unter ernest_pichlbauer@hpi-sag.com zu bestellen). Und ich habe den Eindruck, die Ärztekammer muss etwas anderes gelesen haben. Denn diese Reformpapiere schlagen Regeln und Steuerungsinstrumente vor, die aus unserem Gesundheits(un)wesen ein Gesundheitssystem machen könnten.
Auch wenn die Variante vom 27.9.2012 gegenüber der vom 21.11.2012 (dazwischen liegen zwei Monate politische Verhandlungen, an deren Ende Texte statt klarer und gesetzesfähiger immer unschärfer und unverbindlicher klingen) im Sinne der Versorgungsforschung deutlich besser war: Das was herausgekommen ist, kann Grundlage einer echten Reform darstellen.
Wesentliche Aussage der noch immer geheimen Papiere ist, dass unsere Versorgung zielorientiert gestaltet werden soll, wobei Ziele patientenorientiert aufzustellen sind. Die Institutionen-Orientierung (also im Wesentlichen die Fixierung auf Spitalsstandorte und Kassenordinationen) soll einer integrierten Versorgung weichen. Patienten sollen dort behandelt werden, wo es richtig ist, und nicht dort, wo gerade eine Gesundheitseinrichtung steht und offen hat.
Messgrößen und Zielwerte sind zu entwickeln und zu implementieren, welche die Patientenorientierung sowohl in Ergebnissen, Strukturen und Prozessen messen. Es soll also transparent werden, ob der Patient zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle die richtige Leistung erhält.
Rahmenziele werden zwar zentral aufgestellt, aber sie sind dezentral unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten zu konkretisieren. Es sind definitiv keine „zentralistischen“ Diktate. Dezentral bedeutet übrigens auf Ebene der Versorgungsregionen des Österreichischen Strukturplans Gesundheit (ÖSG), und davon gibt es 32. Es ist also jedes Bundesland weiter unterteilt – das sollte dezentral genug sein.
Dass es die meisten Messgrößen und Zielwerte in und für Österreich noch nicht gibt, stört wenig. Die wissenschaftliche Literatur dazu ist ausführlich und vielfältig. Aus der Literatur ebenfalls bekannt ist, dass überall, wo man begonnen hat, mit Indikatoren zu arbeiten, am Anfang die „Datenunsicherheit“ beklagt wird und darauf aufbauend der Vorwurf erhoben wird: „Alle Daten sind falsch.“ Das wird auch bei uns passieren. Die Frage, die sich stellt: Werden unsere Entscheidungsträger jenen Mut und jene Tatkraft aufbringen, diese Eingangsphase durchzuhalten? Ist das so, dann verschwinden sowohl Datenunsicherheit als auch Vorwürfe. Wesentlich dabei wird wohl sein, dass die Messgrößen und Zielwerte von Anfang an international vergleichbar sind – und das verspricht das Reformpapier.
Das Monitoring, also das Beobachten, ob es zu echten, patientenorientierten Veränderungen kommt, und ob Messgrößen und Zielwerte nicht populistisch gesetzt, verändert oder „retrograd kalibriert“ werden, ist ebenfalls gut und plausibel erklärt. Damit alles nicht nur Schönreden und Schönfärben wird, wird die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) mit der wissenschaftlichen Begleitung und Berichterstattung befasst. Es ist zu hoffen, dass die GÖG unabhängig genug ist, um auch ungeliebte Ergebnisse publizieren zu dürfen. Leider zeigen sich aber hier bereits erste Risse. Denn der Kampf um die GÖG ist zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherungen entbrannt. Das ist kein gutes Zeichen dafür, dass sich die Systempartner gegenseitig vertrauen.
Aber wenn der Streit beigelegt werden kann und der Schulterschuss zwischen Ländern und Sozialversicherungen klappt, könnten sogar die vorgeschlagenen Sanktionen erstmals scharf sein. Denn bei Versäumen der Ziele werden Berichte erstellt, die analog zu Rechnungshofberichten veröffentlicht werden müssen. Transparenz eignet sich hervorragend, um Veränderungen positiv zu gestalten.
Mehr Geld für ambulante Behandlung
Klar festgehalten wird weiters, dass die Leistungsangebote in allen Sektoren (womit vor allem Spitäler samt Ambulanzen und Kassenordinationen gemeint sind) aufeinander abgestimmt werden müssen. Patienten sollen, entsprechend der Idee der integrierten Versorgung, an der richtigen Stelle behandelt werden, am „Point of best service“. Wo das ist, das wird aber nicht von Wien dekretiert, sondern das ist in jeder der 32 Versorgungsregionen festzulegen. Konsequenz dieses Denkens ist es, dass künftig eben nicht mehr in Kassenordinationen und Spitalsstandorten, sondern in den Kategorien „ambulante Versorgung“, „stationäre Versorgung“ und Patientenbedarf geplant werden soll.
Parallelstrukturen oder Überkapazitäten sind zu verhindern bzw. abzubauen. Ja, da steht wirklich „abbauen“ drinnen! Ob damit endlich die kleinen Spitäler verschwinden? Tenor jedenfalls ist, dass die ambulante Versorgung der stationären vorzuziehen ist.
Im ambulanten Bereich bereits festgehalten ist, dass (Rand)Öffnungszeiten ein wesentliches Quailitätskriterium sind. Damit könnte es endlich zu Gruppenpraxen kommen, die nicht an der Finanzierungslogik, sondern am Patienten-Bedarf ausgerichtet sind. Die jetzigen Rahmenbedingungen haben zu gerade einmal einer Hand voll Gruppenpraxen geführt, die noch dazu so aufgestellt sind (sowohl örtlich, als auch organisatorisch), dass sie kaum geeignet sind, die Patientenströme vom Spital wegzuhalten. Grund für den Optimismus ist, dass ein funktionierendes „Geld folgt Leistung“-System fixiert wird, das dafür sorgt, dass reales Geld aus der stationären in die ambulante Versorgung fließt. Auch wenn es für Außenstehende schwer vorstellbar ist: Spitalsambulanzen werden aktuell über die Bettenstationen quersubventioniert (die eigenen Einnahmen decken im Schnitt nur 25 Prozent der Kosten). Und noch nie hat ein Cent den Weg aus dem Spital nach „draußen“ gefunden, selbst wenn durch Kassen Maßnahmen gesetzt wurden, die lächerlich hohe Zahl der Spitalsaufnahmen zu reduzieren.
Abb.: Entlassungen pro 100 Einwohner im internationalen Vergleich
Beim Finanzrahmen muss es endlich dazu kommen, dass der Finanzdeckel nicht nur für Kassen, sondern auch für Spitäler gilt. Ein nicht unwesentlicher Grund für unsere extreme Spitalslastigkeit liegt darin, dass Spitalsausgaben ungedeckelt sind. Werden diese nun ebenfalls wie die Kassenausgaben gedeckelt, dann ist eine Leistungsverschiebung von stationär zu ambulant die logische Folge – bei zunehmend frei werdenden Mitteln, weil eben die Effizienz der ambulanten Versorgung die der stationären weit übersteigt – das zeigen zumindest alle Studien aus dem Ausland. Bei uns werden solche Studien nicht gemacht.
Es besteht die politische Absicht, wenigstens sieben Prozent der aktuellen Spitalsaufenthalte durch ambulante Versorgungskonzepte zu reduzieren. Sieben Prozent Reduktion bedeutet, dass etwa 150.000 Spitalsaufenthalte (oder etwa 800.000 Spitalstage) vermieden werden. Mit einer solchen Reduktion würde die Zahl der Aufnahmen von derzeit etwa 26,5 auf knapp unter 25 pro 100 Einwohner sinken, und noch immer weit über dem EU-Schnitt liegen.
Ziele bleiben unambitioniert
Man sieht also bereits anhand dieses Ziels, dass die Politik nicht sehr ambitioniert vorgeht. Dass drückt sich dann auch in den prognostizierten Ausgaben aus.
Abb.: Entwicklung öffentlicher Gesundheitsausgaben mit/ohne Reform
Die angenommene Kostenentwicklung OHNE Reform (rote Linie) setzt einen kaum erklärbaren Anstieg ab 2012 voraus (man beachte die „Orientierungslinien Steigerungen“ in der Grafik). Dieser Anstieg wurde politisch festgelegt. Je höher die Wachstumsraten sind, desto leichter lässt es sich dann nämlich realiter „Einsparen“. Die Entwicklung MIT Reform (grüne Linie) zeigt immer noch einen deutlich höheren Anstieg, als er in den letzten Jahren (graue Orientierungslinie) zu beobachten war. Also wurde auch hier sehr vorsichtig vorgegangen, um nur ja nicht den politischen Erfolg zu gefährden.
Die Fläche zwischen roter und grüner Linie ergibt dann die mehrfach kolportierten elf Milliarden Euro, die bis 2020 „einzusparen“ sind. Stellt man diese Einsparungen den mindestens 230 Milliarden Gesamtausgaben zwischen 2012 und 2020 gegenüber, sieht man rasch, wie wenig Ambition und Risiko in diesem Zahlenwerk liegt. Aber politisch betrachtet ist so ein vorsichtiges Vorgehen nicht dumm, nimmt es doch, oder sollte es wenigstens, den Kritikern den Wind aus den Segeln, die das Kaputtsparen proklamieren.
Fazit: Noch nie hat ein ausgereifterer Vorschlag die politischen Verhandlungen überlebt, daher war eine echte Reform nie realistischer als jetzt. Großer Wermutstropfen, wie bei jeder Gesundheitsreform bisher: Alle neuen und alten Gremien, die für die Umsetzung der Reform nötig und verantwortlich sind, entziehen sich der parlamentarischen oder oppositionellen Kontrolle! Dass die Ärztekammer nicht dabei ist, ist daher selbstverständlich. Und so, wie sie sich benimmt auch alles andere als ein Wermutstropfen.
Was stört die Ärztekammer?
Warum wehrt sich die Ärztekammer dagegen, statt aktiv an Umsetzung und (noch wichtiger) Umsetzungskontrolle mitzuarbeiten?
Nun, mit der Reform wird die Verhandlungsmacht der Ärztekammern, was die Vergabe von Kassen-Stellen betrifft, erheblich eingeschränkt. Da aber die Ärztekammer seit Jahrzehnten ihre Macht ausschließlich auf dieser Basis aufbaut, fürchtet sie nun um ihren Einfluss auf die Gesundheitspolitik. Dieses Denken der Kammer mutet seit Jahren eigenartig an. Schließlich sollte sie alle 41.000 Ärzte vertreten, und nicht nur jene etwa 8.000, die einen Kassenvertrag haben. Mehr noch, betrachtet man die Situation und Rolle der etwa 4.000 Hausärzte im Österreichischen Gesundheitssystem, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Kammer vertritt eigentlich nur Fachärzte mit Kassenvertrag. Diesen geht es nämlich im internationalen Vergleich sehr, sehr gut.
Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass selbst innerhalb der Ärzteschaft die Kämmerer immer weniger ernst genommen werden. Brisante Themen rund um den ärztlichen Beruf werden seit Jahren links liegen gelassen. Weder die mangelhafte Ausbildungsqualität im Turnus (es gibt übrigens fast so viele Turnus- wie Kassenärzte!), noch die Tatsache, dass das Ärztearbeitszeitgesetz (es gibt drei Mal so viele Spitals- wie Kassenärzte) seit jeher systematisch von den Spitalsträgern gebrochen wird, war bislang eine angemessene Reaktion wert. Interessant ist: Neben der englischen, war es nur die Österreichische Ärztekammer, die bei der EU Einspruch gegen die Begrenzung der Arbeitszeit auf 48 Stunden pro Woche eingelegt hat.
Alternativ zu diesem Machtdenken ist es allerdings auch möglich, dass maßgebliche Köpfe der Ärztekammer wirklich glauben, dass unser jetziges System bleiben muss, wie es ist – obwohl unsere gesunde Lebenserwartung verglichen mit z.B. Großbritannien fünf Jahre geringer, die Diabetiker-Sterblichkeit dreimal höher und die Zahl kaputter Zähne bei Zwölfjährigen doppelt so hoch ist. Und das bei deutlich höheren Kosten.
Dr. Ernest Pichlbauer ist Arzt und Österreichs führender Gesundheitsökonom, der zum Thema Gesundheit auch regelmäßig publiziert.