Sein letzter großer Hit ist schon über zehn Jahre her. Auch seine neue Single ist alles andere als ein Ohrwurm. Der deutsche Sänger und Musiker Joachim Witt braucht dringend Publicity. Deshalb lässt er im Musikvideo (http://www.youtube.com/watch?v=eV_vlVDtpE0) zu seiner neuen Single deutsche Bundeswehrsoldaten ein Mädchen vergewaltigen. Dazu noch ein bisschen christliche Symbolik, fertig ist der vorprogrammierte Skandal.
Die Mainstreammedien nehmen das von Witt geworfene Stöckchen brav auf und berichten über das platte Video zu einem drittklassigen Song. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes kritisiert (zu Recht): „Bei aller künstlerischen Gestaltungsfreiheit: Das Video verunglimpft deutsche Soldaten in geschmackloser Weise." Sehr zur Freude von Witt hat der Bundeswehrmann außerdem dazu aufgerufen, auf Facebook dem Popmusiker die Meinung zu sagen.
Und weil – ebenfalls wie erwartet – auch deftigere Meinungen darunter sind, fühlt sich der abgetakelte Popsänger plötzlich bedroht, was er selbstredend den Medien mitteilt. Er habe Angst um sein Leben und er habe das Gefühl, dass da draußen 200.000 bissige Hunde auf ihn warten würden. Trotz so viel Pathos reicht es zu einem richtigen Skandal dann doch nicht, aber immerhin berichten die meisten großen deutschen Medien, wenn auch nur im hinteren Teil ihrer Blätter, über Witt und sein Video.
Szenenwechsel. Im Wiener Museumsquartier wirbt seit kurzem ein riesiger junger nackter Mann für eine Ausstellung im Leopoldmuseum. Die Künstlerin Ilse Haider nennt die begehbare Skulptur eindeutig doppeldeutig Mr. Big. Und weil sich weder katholische Organisationen noch aufgebrachte Bürgerinitiativen über den Nackerten aufregen wollten, sind dankenswerter Weise die heimischen Boulevardmedien eingesprungen, um zumindest ein kleines Skandälchen herbei zu schreiben. „Jö schau, so a Sau“ oder „Nackter sorgt im MQ für Aufregung“ lauten die etwas lustlosen Schlagzeilen zu den kurzen Zeitungsartikeln (http://www.heute.at/freizeit/kultur/art23668,798741).
Und das, obwohl sich die Künstlerin gemeinsam mit einigen anderen schon etwas aus der Form geratenen Damen mit breitem Grinsen und in milieutypischen Outfits vor Mr. Big für die Presse in Pose wirft. Doch die schon etwas abgeschmackte Skandalisierungsstrategie will und will nicht so richtig in die Gänge kommen; was übrig bleibt, ist ein harmloses Kunstskandälchen. Da helfen auch die Ausstellungsplakate mit drei nackten Männern nichts. Das Leopoldmuseum darf den Unterleib der Männer erst mit einem Balken überkleben, nachdem sich angeblich einige Anrufer über die Sujets beschwert haben. Naja, echte Skandale sehen anders aus.
Noch ein Szenenwechsel: In „Paradies: Glaube“, dem neuen Film des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl, masturbiert eine geistig verwirrte Frau mit einem Kreuz. Wow, Kirche und Katholiken mit postpubertären Obszönitäten und trivialer Symbolik zu provozieren, einmal ganz was „Neues“. Aber immerhin, bei den Filmfestspielen in Venedig reicht so etwas immer noch für den Spezialpreis der Jury und wie auf Bestellung übertitelt La Repubblica einen Artikel mit „Sex mit Kruzifix". Bingo!
Seidl hat mit seiner schon etwas ranzigen Sex/Kirche-Provokation noch einmal die Kurve gekriegt und darf die durchaus verhaltenen Reaktionen einiger Medien mit: „Damit musste man schon rechnen. Das bricht natürlich ein Tabu" kommentieren. Dass sein Film bei der Viennale trotz Masturbationsszene mit Kruzifix ins Vorabendprogramm verbannt werden sollte, ärgerte den schneidigen Tabubrecher aber dermaßen, dass er seinen „mutigen“ Film vom Wiener Filmfestival zurückgezogen hat. Schließlich hat Seidl eine besonders wichtige und drängende Mission – er will die „Scheinmoral der Kirche“ anprangern, ein wahrhaft aktuelles und akutes gesellschaftliches Problem.
Die Tabus der Politischen Korrektheit
Diese drei eigentlich unbedeutenden Kunstskandälchen haben eines gemeinsam: Sie sind ziemlich armselig, sie haben fast keine gesellschaftliche oder politische Relevanz und kaum einen Bezug zu aktuellen Problemen oder Auseinandersetzungen. Schließlich gibt es im Zeitalter der Politischen Korrektheit eine Unzahl an Tabus, gesellschaftlichen Zwängen, Ver- und Geboten. Von der vorgeschriebenen (gendergerechten) Sprache über die Auswahl des „richtigen“ Beleuchtungskörpers, der korrekten Fortbewegungsart bis hin zum Verbot, bestimmte Religionen zu kritisieren: Im Europa des Jahres 2012 haben die selbst ernannten moralischen Vorkämpfer für Klimaschutz, Weltfrieden, Geschlechter-, Bildungs- und Migrantengerechtigkeit alles bis ins letzte Detail geregelt.
Bei diesen vorgeschobenen hehren Zielen bleibt die Freiheit des Einzelnen auf der Strecke. Was auch Sinn und Zweck des Ganzen ist. Für die etablierte Kunst- und Intellektuellenszene ist das aber kein ernsthaftes Problem, ganz im Gegenteil. Da kritisiert man lieber die angebliche oder tatsächliche Scheinmoral einer Institution, für die sich außer den „kritischen“ Künstlern kaum noch jemand zu interessieren scheint.
Aber wehe dem, der sich nicht an die politisch korrekten Vorgaben und Verhaltensregeln hält. Abweichler werden nicht geduldet. Die Konsequenzen: Ausgrenzung, Verfolgung und immer öfter auch Kriminalisierung. Wer also tatsächlich provozieren oder gesellschaftliche Tabus brechen möchte, der hätte, wenn er den nötigen Mut dazu aufbringt, ein weites Betätigungsfeld und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zu verstören, zu schocken und die politische Elite samt ihrem gut bezahlten Hofstaat aufzuschrecken.
Und was macht die linke Intellektuellen- und Kunstszene? So, als ob 1968 die Zeit stehen geblieben wäre, versucht man stupide, immer und immer wieder, mit den stets selben Mitteln und Inszenierungen Tabus zu brechen und Grenzen zu überschreiten, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr existieren. Es geht nicht mehr um Sozialkritik, um das Aufzeigen von Missständen oder um politische Veränderungen. Denn die Kirche – mit ihren fast leeren Gotteshäusern und jährlichen Austrittsrekorden – zu attackieren, ist schlicht uninteressant und irrelevant. Es ist ein altes Ritual, das seine einstigen Funktionen längst verloren hat, das aber aus geistiger Trägheit und Tradition weitergeführt wird.
Oder man versucht, die Öffentlichkeit wie vor rund 50 Jahren mit entblößten Genitalien zu verstören, obwohl die verklemmten „Spießer“ fast nur noch in den Köpfen der spießigen Künstler existieren. Da werden Soldaten als Vergewaltiger und Mörder hingestellt, obwohl Bundeswehr bzw. -heer ohnehin kaum noch gesellschaftliches Ansehen genießen und längst tot gespart worden sind. Die Strategie ist leicht durchschaubar: Man tritt auf die ein, die ohnehin schon am Boden liegen. Das ist zwar billig und feig, aber auch ungefährlich. Wegen eines Seidl-Films haben noch keine aufgebrachten Christen österreichische Botschaften gestürmt. Schlimmeres als reichlich Fördergelder und der warme Händedruck eines linken Kulturpolitikers kann Seidl mit so einem Film nicht passieren.
Schwächliche Ablenkung von den wahren Problemen
Schließlich wird diese Art von „Gesellschafts-Kritik“ von den politischen Machthabern goutiert und gefördert. Ist es für sie doch allemal besser, über die Moral der Kirche oder über entblößte Penisse im öffentlichen Raum, als über die katastrophale Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU zu diskutieren. Aber nicht einmal diese recht durchsichtigen Ablenkungsstrategien funktionieren mehr richtig. All diese Provokationen, oder besser versuchten Provokationen, sind für die Künstler zu Geschäftsmodellen mit schwindender Ertragslage und zu sinnentleerten Ritualen verkommen.
Intellektuelle und Künstler inszenieren sich zwar nach wie vor gerne als Querdenker, Störenfriede oder Revoluzzer. In Wahrheit sind sie aber nur Opportunisten, Mitläufer und Profiteure des Politisch Korrekten Systems. Wer die Kirche kritisiert, ist der Liebling des Feuilletons, bekommt soziale Anerkennung, Auszeichnungen und Kunstpreise. Wer den Islam kritisiert, wird medial hingerichtet, an den Pranger gestellt und verfolgt. Da fällt Leuten wie den Herrn Seidl oder Witt die Entscheidung nicht allzu schwer.
Aus diesen Gründen haben Intellektuelle und Künstler zu den aktuellen Problemen und Herausforderungen unserer Zeit auch nichts Sinnvolles oder gar Konstruktives mehr beizutragen. Sie haben sich aus Feigheit, Bequemlichkeit und aufgrund ihrer ideologischen Scheuklappen selbst aus dem Spiel genommen. Trotzdem oder gerade deshalb wird so viel Kunst produziert wie nie zuvor (gleiches gilt auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften).
Die ewig gleichen Inszenierungen, Posen und abgeschmackten Provokationen langweilen aber mittlerweile selbst die breite Öffentlichkeit, wie die drei angeführten Beispiele zeigen. Aber solange das politische Establishment sich Künstler und Intellektuelle als Claqueure, Handlanger und Hofnarren kaufen kann und kaufen will, solange werden diese so weitermachen wie bisher.
Werner Reichel ist Journalist und Autor aus Wien. Vor kurzem ist sein Buch „Die roten Meinungsmacher – SPÖ-Rundfunkpolitik von 1945 bis heute" im Deutschen Wissenschaftsverlag erschienen.