Neulich fuhr ich durch Wagram am Wagram, ein kleines langgezogenes Dorf an der Bahnlinie Krems-Wien; es schlängelt sich so von den Weinberghöhen herunter. Am Bahnübergang musste ich warten, und weil ich Zeit hatte, schlug ich den „Dehio" auf, den ich eigentlich immer dabei habe. Das ist ein echter Ziegel von einem Buch, 1500 Seiten und trotzdem im Taschenbuchformat, eine Art Baedeker für jedes Dorf in Niederösterreich nördlich der Donau. Unerlässlich für jeden Niederösterreicher, finde ich. Da steht dann etwas über die Dorfgeschichte und die älteren Häuser und die Flurdenkmäler – zumeist nur ein paar wenige Zeilen, so auch im Fall von Wagram.
Darunter so unschuldige Sätze wie: „Funde aus dem Aurignacien, dem frühen und mittleren Neolithikum, der Urnenfelderzeit usw…" Schau schau, dachte ich mir, dieses unscheinbare Dorf ist doch schon recht lange besiedelt.
Bis ich am Abend in der Einleitung des Dehio nachblätterte, um dieses Aurignacien zeitlich einzuordnen. Und ziemlich still wurde. Zum Vergleich: Die älteste Schrift der Welt stammt aus Ägypten und Mesopotamien, ca. 3000 v. Chr. Nach Griechenland kam sie 800 v. Chr., nach Rom 500 v. Chr. Zu uns über die Alpen 15 n. Chr. Und das Aurignacien, die Zeit, seit der Wagram am Wagram mit kleinen Unterbrechungen besiedelt war, ist vor ca. 40.000 bis 31.000 Jahren angesiedelt.
Das ist so ein Moment, wo der feste Boden unter den Füßen plötzlich zu etwas wie einem gläsernen, gähnenden Lift in die finsterste Urzeit wird, einem nicht enden wollenden Schacht nach unten. 2000 Jahre zurück, die Zeit Christi, das kann man sich noch irgendwie vorstellen. Und dann jenseits der Zeitenwende nochmals 3000 Jahre zurück, dann sind wir in etwa bei der ältesten Schrift. Vor 5.000 Jahren also. Und dann noch mal gute 30.000 Jahre zurück. Dreißigtausend! Und da haben schon Menschen in Wagram gelebt und von den Hügeln heruntergeschaut und sich über das milde Klima gefreut. Und es dauerte noch mal gute 10.000 Jahre, bis einige Kilometer weit weg in Willendorf jemand diese gewisse rundliche Figur verlor, Sie wissen schon…
Wenn ich nur anfange, mir die Zahl der Generationen, der gesamten, abgeschlossenen Menschenleben vor der Erfindung der Schrift vorzustellen, dann wird mir schwindelig. Solche Gedankenexperimente machen wir viel zu selten, denn sonst wären wir ein wenig demütiger mit all unseren selbstsicheren Gewissheiten des 21. Jahrhunderts.
Denn: Ist irgend eines dieser tausenden von Lebensaltern in irgendeiner Weise weniger voll, weniger wert als das meine gewesen?
Manchmal braucht man gar nicht weit vor die Haustüre zu treten, um die Grenzen des Denkens zu berühren
Dr. Eduard Habsburg-Lothringen ist Autor, Drehbuchschreiber und Medienreferent von Bischof Klaus Küng.