Der Staat als Psychotherapeut

Wie mehreren Tageszeitungen zu entnehmen war, steht eine Gesetzesnovelle bevor, die Betriebe zur Erfassung stressauslösender Faktoren am Arbeitsplatz verpflichtet: Sie müssen von sich aus ausfindig machen, was Arbeitnehmer psychisch krank machen könnte und sich auf Maßnahmen zur Abhilfe festlegen. Um den Unternehmen bei dieser Aufgabe behilflich zu sein, sollen vermehrt Arbeitspsychologen zum Einsatz kommen, denen der Staat auf diese Weise zu unverhofften Stellen verhilft. Bei Zuwiderhandlung drohen nicht nur Verwaltungsstrafen: Eine besondere Delikatesse der Novelle liegt darin, dass fehlende oder unvollständige Listungen von Stressoren bzw. unzureichende oder nicht umgesetzte Abhilfeprogramme Anlass zu Klagsmöglichkeiten geben können.

Im Klartext heißt das wohl: Wer einen Psychiater findet, der attestiert, dass Stress im Job der Auslöser für eine Depression, eine Panikstörung oder eine psychosomatische Erkrankung gewesen sei (was angesichts der vergleichsweisen Schwammigkeit mancher psychiatrischer Diagnosen nicht allzu schwerfallen dürfte), klagt kurzerhand seine Firma und saniert sich. Ergo müssen Arbeitgeber schon darob Arbeitspsychologen konsultieren (und bezahlen), um einigermaßen „am sicheren Ufer" zu sein.

Wer nun glaubt, hierbei handle es sich bloß um eine weitere Schikane für Betriebe, der irrt. Der Staat meint es nämlich nur gut mit den Unternehmen. Es habe sich erwiesen, dass Firmen, die Stressoren systematisch erforschen und abbauen, besser wirtschaften. Das klingt plausibel. Doch es verhält sich hier wie bei Frauenquoten, die ebenfalls zu einer besseren Wirtschaftsleistung von Betrieben führen sollen: Der Staat will Unternehmen zu ihrem „Glück" zwingen.

Dabei übersieht er jedoch, dass er durch Überbürokratisierung – insbesondere aber durch eine auf sprachlichem und psychosozialem Gebiet systematische Rechtsunsicherheit – zugleich davor abschreckt, überhaupt unternehmerisch tätig zu werden. Das unausgesprochene Credo lautet, dass der beste Unternehmer eigentlich der Staat sei. Nachdem dies mannigfach widerlegt ist, „rettet" man diese Anmaßung, indem man allerlei „Segnungen" nicht bloß dekretiert, sondern mit wissenschaftlicher Untermauerung als genuin „unternehmerisch" ausgibt. Ohne freilich wirtschaftlich verantwortlich sein zu wollen.

Neu an diesem Selbstverständnis ist allerdings nur der Ausgriff auf das private Unternehmertum. (Auch zur Korruption konnte man jüngst lesen, dass diese vorwiegend von Männern begangen wird. Wenn das kein Argument für Frauenquoten ist!) Längst schon wissen Frauenpolitikerinnen besser, was gut für die Frauen ist. Wenn Mütter mit großer Mehrheit die längste Kindergeldvariante wählen (und auch regelmäßig beteuern, die ersten Lebensjahre bewusst mit ihren Kindern verbringen zu wollen), so können sie nur rechtsideologisch verblendet sein. Doch der Staat scheint auch kein guter Erzieher zu sein, wie publik gewordene Praktiken in manchen Kinderheimen zeigen.

Ist der Staat vielleicht ein guter Geschichtslehrer, wenn er definiert, was als „kollektive Erinnerung“ zu gelten hat, wie diese würdig zu vollziehen sei und welche z.B. migrationspolitischen Konsequenzen sich aus der „Geschichte“ ergeben? Der US-amerikanische Soziologe Paul Edward Gottfried spricht in seinem Buch „Multikulturalismus und die Politik der Schuld“ von einem „therapeutischen Staat“, zu welchem sich der moderne Verwaltungsstaat entwickelt habe.

Wer glaubt, der Holocaust fungiere als altbekannte und alleinige Folie für diese Art eines anmaßend-gouvernantenhaften Umgangs der politischen Klasse mit den Bürgern, wird in dem Buch übrigens eines besseren belehrt: Auch der rezente US-amerikanische Umgang mit dem Sklavenhandel oder mit der Ausrottung der Indianer ist von der Politik einer nie zu tilgenden Schuld geleitet. Das politisch-mediale Establishment wird – nicht von ungefähr just am Ort einer Kritik an den christlichen Großkirchen! – zum modernen Priestertum, das ein beständiges Sündenbekenntnis zelebriert, um sich selbst von der Sünde freizusprechen, indem man sich wenigstens unermüdlich darum bemüht, die Welt von der Sünde zu befreien.

Wer den wenigen Erwählten folgen will, hat deren Sündenbekenntnis eifrig nachzusprechen – um darob allerdings zum Wutbürger zu mutieren, wütend darüber, seine Freiheit verkauft zu haben. Verkauft an eine politische Klasse, die sich eine Rolle anmaßt, welche ihr nicht zusteht und der darob ihre eigenen Spielräume abhanden kommen. Ein Wechsel dieses Politikverständnisses steht leider nicht so bald ins Haus, denn mit dem beiderseitigen Verlust der Freiheit rücken Politik und „Gutmenschen“ nur enger zusammen, um sich mitsammen als „Opfer“ zu gerieren – als Opfer böser Mächte, die einmal mehr, bloß ohne ethnisch-religiöse Konnotation, im internationalen Finanzkapital verortet werden.

Dieses Konstrukt eines Staats, der nicht Staat sein will und der insofern nicht Staat sein kann, als er sich nicht denjenigen Aufgaben stellt, die er tatsächlich hat (z.B. eine ausgeglichene Budgetpolitik), nennt sich „Zivilgesellschaft“. Die „Zivilgesellschaft“ ist längst zur dominierenden Staatsmacht geworden und hat den Staat doch immer nur als eine numinos-feindliche (offenbar „unzivilisierte“ bzw. „militärische“) Macht außer sich. Sie will tun, aber nicht Täter sein, denn wer wollte schon Täter gewesen sein? Das aber gibt jene Lethargie, unter der Europa gegenwärtig leidet.

Dr. Wilfried Grießer, Jahrgang 1973, ist Philosoph und Buchautor. Jüngst erschienen: Verurteilte Sprache. Zur Dialektik des politischen Strafrechts in Europa. Peter Lang, Frankfurt/Main 2012.

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