Der Euro schafft Europa ab

„Europa braucht den Euro nicht“, betitelt Thilo Sarrazin sein neuestes Buch. Die Aussage ist das Ergebnis einer „sauberen Analyse“, urteilt der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, im Einklang mit einem laufend größer werdenden Kreis von Fachökonomen. Nach ersten Wutausbrüchen – der deutsche Finanzminister Schäuble sprach von „himmelschreiendem Blödsinn“ – wagt es heute kaum noch ein Politiker, ökonomische Gründe ins Treffen zu führen, die für das Festhalten am Euro sprechen.

Die Nachteile der Europäischen Währungsunion (EWU) – stagnierendes Wachstum, erhöhte Arbeitslosigkeit, Ungleichgewichte, Strukturschwächen, Blasenbildungen, übermäßige Staatsverschuldung, Sparzwang, nicht funktionierende „Stabilitätsmechanismen“, löchrige Rettungsschirme, Staatsschuldenfinanzierung durch die EZB, unverhältnismäßige Kreditausweitung, Inflationsgefahren, Bankenpleiten durch uneinbringlich gewordene Kredite – sind inzwischen so offensichtlich geworden, dass die Rede vom „Profit“ der gemeinsamen Währung nur noch auf Unglauben und Protest stößt. Kaum jemand bestreitet, dass der Euro eine „Fehlkonstruktion" war und ist. „Es war ein schwerer Fehler, in der EU ohne politische Union eine gemeinsame Währung einzuführen" (S. 387). Und es ist Utopie zu glauben, dass selbstbewusste Völker wie die Briten, Dänen, Schweden, Polen oder Tschechen ihre Souveränität an einen europäischen Bundesstaat abtreten werden (vgl. S. 407).

Selbst für die heutigen Bundesstaaten wie Deutschland, Österreich, Belgien oder Spanien würde ein europäischer Bundesstaat die Existenzfrage stellen: „Praktisch alle wesentlichen Zuständigkeiten der nationalen Bundesebene würden bei einem europäischen Bundesstaat nach Brüssel wandern und die nationalen Bundesstaaten als leere Hüllen zurücklassen … Das wäre nicht wünschenswert und auch nicht mehrheitsfähig (S. 406f)." Die „Vereinigten Staaten von Europa“ werden nie kommen!

In Deutschland muss nun das berühmte H-Wort herhalten, um den Verbleib im Euro und die damit verbundenen Vermögensübertragungen zu Lasten der Bevölkerung zu rechtfertigen. Besonders übelgenommen wurde Sarrazin jene Passage, in der er den deutschen Befürwortern von Eurobonds vorwirft, sie seien „getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben".

Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der SPD-Abgeordnete Reinhold Robbe, nannte die Verbindung der Euro-Währung mit der Buße für den Holocaust „Schwachsinn". Er vergaß ganz, dass Helmut Schmidt, Peer Steinbrück oder Günter Verheugen lange vor Sarrazin die Teilnahme Deutschlands an der europäischen Integration und Währungsunion samt ihren hohen Transferzahlungen mit der Verantwortung der Deutschen für die beiden Weltkriege und die Nazi-Verbrechen begründet hatten. Sie werden allerdings kaum Verständnis für eine solche Argumentation von Finnen, Holländern, Slowaken oder Bürgern aus anderen Ländern der Eurozone erwarten dürfen, die ebenfalls Transferzahlungen leisten oder Garantieerklärungen abgeben müssen.

Das Buch Sarrazins, so Alan Posener in DIE WELT, sei kein Skandal, „an keiner Stelle!“ In der Euro-Debatte finde hier vielmehr eine „Rückkehr zur Seriosität“ statt. Es wurde geschrieben von einem Fachökonomen, der als Spitzenbeamter an der Konzeption der Währungsunion mitwirkte, als Finanzsenator half, das Budget Berlins zu sanieren und schließlich in den Vorstand der Deutschen Bundesbank entsandt wurde. Aber vielleicht bestünde gerade darin der Tabubruch, der die politische Elite aufheulen lässt, dass einer aus ihrer Mitte das Lügengespinst und die Illusionen entlarvt, welche zur Existenzkrise von Europäischer Union und Euro-Währung geführt haben. Die gemeinsame Währung wurde zum Sprengstoff der Union!

Sieben Kapitel des Buches machen den Leser mit Vorgeschichte, Konzept, Bruchstellen, Fehlschlägen, Rettungsaktionen sowie den Vor- und Nachteilen der Europäischen Währungsunion in sachlich-nüchterner Weise vertraut. Im achten und letzten Kapitel wagt Sarrazin den Blick auf die Zukunft Europas und seinen gemeinsamen Währungsraum zu lenken. Er lässt uns darüber nicht im Unklaren, welche schicksalhaften Entscheidungen jetzt anstehen und welche Auswirkungen sie auf uns und künftige Generationen haben werden.

Deutsche Komplexe und europäische Identität

Der Rezensent muss gestehen, dass er das Buch nicht ohne innere Bewegung gelesen hat. Sarrazin steht ihm nicht nur fachlich nahe, so dass er sich in seinen eigenen Überzeugungen zur Währungsunion bestätigt sieht. Viel wichtiger ist, dass Sarrazin zu jenen gebildeten und grundanständigen Charakteren zählt, die aus ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk und aus ihrer Sorge um sein Überleben kein Hehl machen.

Sarrazin wehrt sich mit Verve und hoher Intelligenz gegen eine Politik, die „Deutschland zur Geisel aller jener (macht), die künftig noch im Euroraum hilfsbedürftig werden könnten" (S. 417). Es geht nicht an, dass sich Euroländer, ob groß oder klein, auf Kosten der Gemeinschaft der Eurozone aushalten lassen. „Jede Form eines solidarischen Finanzausgleichs oder solidarischer Mithaftung ist ein grundsätzlicher Irrweg, der den Wohlstand der Geberländer schmälert, während er gleichzeitig die tieferen Gründe der Defizitproblematik der Nehmerländer nicht beseitigt oder mildert, sondern sogar verschärft und zugleich dort den Hass auf die Nordländer und insbesondere die Deutschen nährt".

„Wenn ein Land unter der Disziplin der gemeinsamen Währung nicht leben kann oder will, so soll es jederzeit frei sein, zu seiner nationalen Währung zurückzukehren. Dies ist übrigens auch die langfristige Chance für Europa: Ein Kontinent der Nationalstaaten, der seine Kräfte dort bündelt, wo es zweckmäßig ist, und dort Flexibilität lässt, wo das einzelne Land dies wünscht" (S. 415).

„Haushalts- und Finanzpolitik ist der Kern der staatlichen Souveränität und wird niemals wirksam von außen gesteuert werden können. Es würde nur böses Blut schaffen und die Verständigung der Völker beschädigen, wollte man den Franzosen, Italienern oder Griechen Vorschriften machen, wie sie ihre Staatshaushalte gestalten und ihre inneren Angelegenheiten regeln sollen (S. 416). "
„Völker sind Völker …, weil sie sich aus Gründen der Sprache, der Kultur, der Ethnie oder der gemeinsamen Geschichte als solche empfinden. Und sie empfinden sich auch dann als solche, wenn dieses Empfinden von Intellektuellen als rückständig und zivilisationsfeindlich gebrandmarkt wird" (S. 415). „Die Völker sind unterschiedlich und sie sollen auch unterschiedlich sein dürfen" (S. 385f).

„Internationale Sportereignisse oder Gesangwettbewerbe, die Internationale der Smartphonebenutzer und der Facebook-Mitglieder stützten nicht die spezifisch europäische Identität" (vgl. S. 385). Man kann Völker nicht in eine Zwangsjacke stecken. „Warum sollen die Franzosen so viel arbeiten wie die Deutschen? Warum sollen sie nicht andere soziale Gebräuche und Regeln zur Konfliktlösung haben?“ (S. 385f).

„Die Mentalität des Südens, die so angenehm berührt, wenn man dort im Sommer Ferien macht, verträgt sich nicht immer mit dem linearen Effizienzdenken des Nordens" (388). Deshalb sollten ja auch die inneren Angelegenheiten eines jeden Landes, wie Wettbewerbs-, Haushalts- und Finanzpolitik, „mit jenem Takt behandelt werden, der Außenstehenden gut ansteht" (S. 416).

Zu glauben, der Süden werde ähnlich funktionieren wie der Norden ist Wunschdenken, und eben daran scheitert die Währungsunion. Den Völkern durch ihre Regierungen und Europapolitikern einzureden, sie müssten „ihre eigene Nationalität in einer solchen für Europa ertränken" (S. 390), wird zur Erschütterung des gesamten politischen Systems und seiner Legitimität führen.
Mit der drohenden Staatspleite einzelner Länder hat die Europäische Währungsunion ihren Glanz verloren. Heute „müssen wir uns fragen, ob wir um jeden Preis am Euro festhalten wollen". Weder politische noch ökonomische Gründe legen das Festhalten nahe. Sie sprechen eher dafür, dass der Euro die europäische Integration schwächt und gefährdet.

„Ökonomische Vorteile, die durch Daten und Fakten belegbar wären, hat die gemeinsame Währung in den ersten 13 Jahren ihres Bestehens nicht erbracht.“ Und auch „die von vielen gehegte Hoffnung, die Währungsunion werde eine Automatik in Richtung politische Union auslösen, hat sich bislang nicht erfüllt“ (S. 171f).

„Die Option, den Euro aufzugeben, ist nicht mehr tabu“, zumindest nicht für jene, welche die mit Bailout-Verbot, Verbot der Staatsausgabenfinanzierung durch die EZB, effektiven Schuldenbremsen und strikter Haushaltskontrolle durch die EU verbundenen „germanic rules“ ablehnen (vgl. S. 462, Fußnote 78: Europe Against People? The Economist vom 12. November 2011, S. 32). Ihre ausnahmslose Einhaltung wäre die Voraussetzung für das Funktionieren der Währungsunion. Setzen sollte man darauf nicht. „Die unterschiedlichen Formen europäischer Zusammenarbeit und die gemeinsame Währung sind Instrumente der Politik. Ihnen solle aber kein Eigenwert zugeschrieben werden, der über ihre Zweckmäßigkeit hinausweist. Das wäre nämlich Ideologie und nicht Politik“ (S. 416).

Über die „Unzweckmäßigkeit“ der gemeinsamen Währung besteht für Sarrazin kein Zweifel. Er überlässt es dem Leser, daraus letzte Schlüsse zu ziehen. Von „der politischen Klasse“, meint Sarrazin, sei das wohl zuviel verlangt, denn die habe „in naivem Leichtsinn und unter Missachtung zahlreicher Warnungen zunächst eine Währungsunion ohne politische Union eingerichtet und sodann beim ersten Gegenwind alle wichtigen Sicherungsklauseln des Maastrichtvertrages missachtet“ (S. 415).

Thilo Sarrazin: Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat. 463 Seiten. Deutsche Verlagsanstalt, München 2012. ISBN978-3-421-04562-1.

Der Rezensent lehrte Politische Ökonomie in Wien, Graz und Aachen.?Angesichts der Bedeutung des Buches hat sich das Tagebuch zur Veröffentlichung einer zweiten Rezension entschieden.

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