Stellen Sie sich vor, man ließe 14-jährige Schüler ohne jede Vorbereitung eine Zentralmatura in Biologie schreiben! Die Schüler wären wohl völlig chancenlos? Ein wissenschaftliches Experiment in Deutschland bewies das Gegenteil: „Bis auf vier von 27 Schülern haben alle die reale Abituraufgabe erfolgreich bewältigt, fünf mit Note drei, drei mit Note zwei und einer mit Note eins.“[i]
Wurden hier Genies getestet? Sind die Prüfungsfragen von einem findigen Computer-Freak im Vorfeld gehackt worden? Weit gefehlt! Die Lösung des Rätsels ist ganz einfach. Die Fragen waren „an Kompetenzen und Bildungsstandards orientiert“[ii], konkretes Wissen war bei dieser Matura nicht gefragt. Die Biologie-Zentralmatura ist de facto nicht viel mehr als ein Intelligenztest, in dem logisches Denken weit wichtiger ist als Wissen und Können in Biologie.
Wenn 14-Jährige ein Biologie-Abitur locker bestehen können, eröffnen sich natürlich für OECD & Co fantastische Zukunftsperspektiven: Bachelor in Biologie mit 16, Master in Pharmazie mit 18, und ab in die Apotheke! Ob Sie von einem dermaßen „kompetenten“ Apotheker Medikamente beziehen wollen, überlasse ich Ihnen. Mir persönlich ist sein Sachwissen durchaus wichtig. Ich möchte auch nicht über Brücken fahren, die ein bloß „kompetenz-getesteter“ Statiker berechnet hat.
Wenn Sie den tiefen Sinn dieses „bildungspolitischen“ Taumels nicht ganz nachvollziehen können, liegt es wohl an Ihrer mangelnden Lesekompetenz. Wären Sie schon OECD-konform „kompetenzorientiert“ unterrichtet worden, fiele Ihnen das sicher leichter. In den Vorschriften der deutschen Kultusministerkonferenz für die Allgemeine Hochschulreife im Fach Deutsch erfährt man nämlich: „Die Schüler können Verstehensbarrieren identifizieren und sie zum Anlass eines textnahen Lesens nehmen. […] Die Schüler können die Einsicht in die Vorläufigkeit ihrer Verstehensentwürfe zur kontinuierlichen Überarbeitung ihrer Hypothesen nutzen.“[iii]
Alles klar? Wenn nicht, mangelt es Ihnen womöglich auch an Vertikal-, Horizontal- oder gar an Meta-Kompetenzen? Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, identifiziert die Kompetenzenpädagogik in seinem pointierten Artikel „Fakten haben ausgedient“ als „das Trojanische Pferd der heutigen Schulpolitik“ und kommt damit auch zur Frage nach der Herkunft dieses Gauls und seiner Aufgabe: „Es geht um Ökonomisierung von Bildung, es geht um Utilitarismus. Es geht nicht um Persönlichkeit, sondern um Personal, um ‚Humankapital‘ (Unwort des Jahres 2004).“ [iv]
Das hohe Lied exklusiver Kompetenzen singen zumindest in Österreich primär Experten, die von Schule nichts wissen. Sie dürften dabei von sich ausgehen und ausschließlich für wichtig halten, ob man sich geschickt und gewinnbringend verkaufen kann, obwohl man von Fakten keine Ahnung hat. Kompetenz statt Wissen, Fiktion statt Fakten, Propaganda statt Wirklichkeit.
Mag. Gerhard Riegler ist Vorsitzender der Österreichischen Professorenunion und oberster AHS-Personalvertreter.
[i] Hans Peter Klein, Nivellierung der Ansprüche. In: FAZ Online vom 13. Oktober 2010, http://www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/politik/nivellierung-der-ansprueche-11057288.html
[ii] Josef Kraus, Fakten haben ausgedient. In: Tagespost Online vom 10.4.2012, http://www.lehrerverband.de/aktuell_kompetenzen.html
[iii] ebenda
[iv] ebenda