Dass politische Entscheidungen in eine Sackgasse führen, ist nichts unbedingt Neues und schon deshalb wenig Grund zur Aufregung. Diesmal muss man aber den Eindruck gewinnen, dass es sich nicht bloß um eine Sackgasse handelt, sondern, dass mit Vollgas gegen die selbst gebaute, turmhoch aus Haftungen bestehende Wand gefahren wird. George Soros hat gerade von einer kommenden „Tragödie historischen Ausmaßes“ gesprochen.
Mildere Beschreibungen sind dem Drama namens Europäischer Finanzkrise wirklich nicht mehr angemessen. Eigentlich ist alles da, was sich ein geschickter Regisseur nur wünschen könnte: Gute und Böse, Gute Vorsätze und heimliche Ängste, wenig Wahrheit und viel Schönfärberei, viel Anstrengung für falsche Ziele, ungeheure Gefahren bei gleichzeitigen heroischen Durchhalteparolen, und vor allem jede Menge Widersprüche.
Dabei ist die Handlung des Dramas eher simpel: Etliche Europäische Staaten haben so viel Schulden gemacht, dass Ihnen keiner mehr Geld borgen will. Wie so üblich, wird bei derartigen Problemen statt nach einer Lösung zunächst einmal nach Schuldigen gesucht: Favoriten dafür sind einerseits die böse Finanzindustrie (was im Falle Irlands sogar stimmt), oder andererseits der massive Ausbau des Sozialstaates (ist auch etwas zu einfach).
Die Reaktion der EU ist bekannt: Mit enormen Mitteleinsatz wurde eine vorläufige Weiterfinanzierung besonders gefährdeter Staaten erreicht. Diese mussten sich dafür verpflichten, durch konsequente Sparprogramme ihre Budgetdefizite abzubauen. Zeit hat man auf diese Weise gewonnen. Aber ist das auch eine Lösung?
Die offizielle Meinung ist, dass die betroffenen Staaten auf diese Wiese stabilisiert werden und es ihnen möglich gemacht werden sollte, irgendwann ihren Schuldenberg abzutragen. Inoffiziell hoffen so manche, dass ihnen das harte Brot der Schuldenrückzahlung durch eine kräftige Inflation erleichtert würde.
Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Die EU hat verkündet, der jüngste Schuldenschnitt solle es Griechenland möglich machen, seine Schulden bis 2020 auf 120 Prozent des BIP zu reduzieren. Das ist schon rein rechnerisch absurd. Denn dazu müsste es den Griechen gelingen, ihr jährliches Defizit auf 5 Prozent zu reduzieren und zugleich ein Wirtschaftswachstum von zumindest 4 Prozent jährlich zu erzielen. Tatsächlich läuft die Entwicklung genau in die Gegenrichtung. Griechenland steckt in einer tiefen Rezession mit kräftigem Schrumpfen des BIP. Das Defizit steigt absolut und im Verhältnis zum BIP relativ umso stärker. Glaubt irgendwer, in Portugal und Spanien werde alles besser laufen?
Inflation ist keine Lösung
Und die Weginflationierung des Problems ist so harmlos wie das Austreiben des Teufels durch Beelzebub. Deutschland und Österreich haben dieses Rezept kurz nach dem ersten Weltkrieg versucht. Das Ergebnis war nicht nur eine Vernichtung der Schulden (übrigens nur der inländischen, die in fremder Währung stiegen ins Astronomische), sondern auch eine Vernichtung aller Ersparnisse – und aller alten Pensionsansprüche – und ebenso die ziemlich komplette Vernichtung des Mittelstandes.
Außerdem hat eine Inflation ganz bestimmte Voraussetzungen: Eine wäre, dass sich die Konsumenten nicht wehren können – wie derzeit beim Benzinpreis, oder bei staatlichen oder kommunalen Tarifen. Wie kräftig solche ausfallen können, hat ja kürzlich die Stadt Wien recht eindrucksvoll demonstriert. Aber das reicht trotzdem nicht.
Sehen wir einmal vom technisch eher komplexen Phänomen einer asset-price inflation ab, dann ist eine weitere Voraussetzung für Inflation nicht bloß eine im Übermaß vorhandene Geldmenge. Dafür hat die EZB ja gesorgt. Aber die müsste erstens an Konsumenten oder Unternehmen transferiert werden – als Kredit oder Einkommen – und zweitens von diesen wieder in großen Mengen ausgegeben werden, als Konsum oder als Investitionen. Ohne solche Transfers kann es gar nicht zu einer nachfragebedingten Inflation kommen.
Solche Transfers finden aber gerade in den besonders betroffenen Südstaaten der EU nicht statt, Sie können es auch nicht, weil dort die erzwungene restriktive Budgetpolitik sie gar nicht möglich macht. Genau genommen fährt die Kolonne der EU-Staaten derzeit gleichzeitig mit Vollgas und mit Vollbremsung. In der Währungspolitik wird mit Vollgas die Geldmenge ausgeweitet wie nie zuvor, in der Budgetpolitik wird in den betroffenen Staaten gebremst wie nie zuvor.
Die Arbeitslosigkeit in der EU hat derzeit mit 17 Millionen einen neuen absoluten Höchst-stand erreicht. Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen: In Spanien ist derzeit bereits jeder zweite Jugendliche ohne Job. Auch für die Folgen einer strammen Sparpolitik gibt es ein eindrückliches historisches Beispiele aus dem Deutschland der Zwischenkriegszeit, mit Massenelend und anschließender politischer Radikalisierung.
Die EU hat mit ungeheurem, so nicht wiederholbarem Geldaufwand Zeit gewonnen und sich zugleich eine Reihe weiterer Probleme eingehandelt. Selbst mit der Zeit ist es so eine Sache. Kein Monat nach der Einigung auf achthundert Milliarden gutes Geld, um es dem schlechten nachzuwerfen, sind die Märkte schon wieder nervös. Kann, darf man eine solche Politik als alternativlos bezeichnen oder ist sie nicht vielmehr phantasielos?
Was ist wichtiger: Der Euro oder die spanische Jugend?
Was soll das Beharren auf einem einheitlichen Euro, wenn immerhin zehn Mitgliedsstaaten der EU auch ohne die Gemeinschaftswährung ganz gut zurecht kommen und mit diesem Beharren nur auf das so wichtige – und bei leider offenkundig fehlender Konkurrenzfähigkeit unerlässliche – Instrument der Abwertung einzelner Währungen verzichtet wird?
Und warum bricht man unter Berufung auf über-gesetzlichen Notstand bedenkenlos gut erwogene vertraglich fixierte Grundsätze wie den des No Bail Out, statt diese Vertragsbestimmung als Containment, als wohl durchdachte Riskenbegrenzung zu verstehen und zu versuchen, ähnliche Lösungen wie seinerzeit für Argentinien zu finden? In diesem Fall haben die USA bei der Bewältigung der Finanzierungskrise geholfen, ohne sich selber bis an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu verpflichten, wie es Deutschland derzeit macht.
So kann man nicht bewahren, was mühselig genug als EU geschaffen wurde, und so wird der heutigen komplexen Wirklichkeit einfach nicht genügend Rechnung getragen. Und weil so gerne von Solidarität die Rede ist: Welche ist dringender – die gegenüber den immer ärmer werdenden Menschen in den Südstaaten, oder die gegenüber dem abstrakten Konzept einer einheitlichen Währung? Die EU sollte sich dazu durchringen, die eigene Linie auf den Prüfstand zu stellen. Nur wenn sie lernt, wird sie überleben.
Vielleicht ist es aber zu lästig, aus der Geschichte lernen zu sollen – vor allem, wenn sich historische Vergleiche geradezu aufdrängen. Die chinesische Bürokratie hat vor gut einem halben Jahrtausend die eigene Seefahrt so gründlich sabotiert, dass Europäer auch dort Fuß fassten, wo die Chinesen längst hätten sein können. Das alte römische Reich ging (auch) deshalb zugrunde, weil dort so erbarmungslos besteuert wurde, dass die Bevölkerung die Herrschaft der barbarischen Germanen bald der der eigenen Leute vorzog.
Gründlichkeit kann man den Staaten der EU nicht absprechen. Derzeit marschieren sie mit Überbürokratisierung und weiteren Steuererhöhungen entschlossen gleich auf beiden Wegen. Irgendwann sollten die Bürger beginnen, sich aufzuregen.
Dr. Manfred Drennig ist Bankvorstand i.R., aktuell Geschäftsführer einer Wertpapierfirma und Verfasser gesellschaftskritischer Bücher ( „Die Krise sind wir selbst", „Tauschen und Täuschen").