Der Prozess, der Anfang April in Ankara gegen die zwei letzten noch lebenden Mitglieder der Militär-Junta begann, die 1980 in der Türkei die Macht übernommen hatte, wird vielfach als „historischer Prozess“ bezeichnet. Was zumindest insofern passt, als er weit zurückliegende Ereignisse behandelt – und damit an andere Prozesse erinnert, mit denen unter dem Banner der „Gerechtigkeit“ gegenwärtige Politik betrieben wird. Nicht zufällig steckt „Gerechtigkeit“ auch im Parteinamen der AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
Angeklagt sind der heute 94jährige Kenan Evren, damaliger Stabschef und Junta-Führer, und der 87jährige Ex-Luftwaffenchef Tahsin ?ahinkaya. Die Anklage lautet auf „Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, und Nebenkläger sind Regierung und Parlament, die damals von Evren aufgelöst worden waren, sowie mehrere NGOs. Da unter Evren die blutige Unterdrückung der Kurden eskalierte, war vielfach eine Anklage auf „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gefordert worden. Aber die Kurden werden ja auch heute noch unterdrückt, bloß weniger auffällig, und auch heute sind zahlreiche Journalisten inhaftiert.
Wie zuvor schon 1960 und 1971 hatte 1980 die türkische Armee, von Republik-Gründer Kemal Atatürk einst auf Laizismus eingeschworen, direkt in die Politik eingegriffen, um wachsendes Chaos zu beenden. Es kam in der Folge zu zahlreichen Verhaftungen sowie zu Folterungen und Exekutionen. Ob als kleineres Übel, bleibt umstritten, doch im Kalten Krieg kamen ernsthafte internationale Sanktionen gegen einen NATO-Partner mit strategischer Lage ohnehin nicht in Frage. Das Militär griff dann 1997 nochmals ein und erzwang den Rücktritt des konservativ-islamischen Premiers Necmettin Erbakan.
Mit dem Putsch 1980 wurde Evren auch Staatspräsident. Er ließ in der Folge eine neue Verfassung ausarbeiten, die 1982 per Volksabstimmung angenommen wurde und im Wesentlichen bis heute in Kraft ist. Grundlage der Machtübergabe an eine zivile Regierung war, dass die Verfassung auch die Bestätigung Evrens als Staatsoberhaupt bis 1989 umfasste und den Junta-Mitgliedern Immunität garantierte. Dass nun doch eine Anklage erfolgt, ist wieder einmal eine Empfehlung an alle Putschisten und Diktatoren, lieber weiterzumachen als unter Zusicherung von Immunität freiwillig die Macht abzugeben. Denn auf solche Garantien ist kein Verlass, auch nicht in Demokratien: Erdogan legte nämlich 2010 eine Verfassungsänderung vor, die er per Referendum in Kraft setzen ließ und die unter anderem die Aufhebung dieser Immunität umfasst.
Ob der Prozess etwas „bringt“, ist angesichts von Alter und Gesundheitszustand der Angeklagten zweifelhaft. Aber er ist jedenfalls bisheriger Höhepunkt von Erdogans Kampf gegen die säkularen Kräfte – deren mächtigste Stütze die Armee ist. Anders als sein geistiger Ziehvater Erbakan hat Erdogan erkannt, dass der direkte Weg zur Islamisierung auf zuviel Widerstand stößt und scheitern muss. Darum entschied er sich für eine schrittweise Unterwanderung der Institutionen und – zum Wohlgefallen aller „demokratischen“ Europäer – zur Einschränkung der Machtbefugnisse des Militärs. Absetzung und Ernennung einiger Kommandanten sind zwar kein Gradmesser dafür, wie weit die Armee selbst schon unterwandert ist. Auffällig ist aber, dass in den abgeriegelten Garnisonsbereichen in den Kurdengebieten Moscheen gebaut wurden, was früher undenkbar gewesen wäre.
Undenkbar war auch, führende Militärs anzuklagen. Deswegen nahm Erdogan zunächst Umbesetzungen in der ebenfalls laizistischen Justiz vor, und seit 2008 läuft nun der „Ergenekon-Prozess“ mit zahlreichen Verhaftungen wegen einer gemutmaßten Verschwörung zum Sturz der Regierung. Angeklagt sind bisher rund 150 Personen, darunter einige hohe Offiziere, pensionierte wie aktive. Im Jänner 2012 wurde sogar Ilker Ba?bu? verhaftet, der bis 2008 Generalstabschef war – eine Generalprobe für den Evren-Prozess.
Die Islamisierungspläne könnten aber aus ganz anderen Gründen scheitern: Einer AKP ohne Erdogan. Denn als dieser sich Ende November „einer kleinen Operation“ unterziehen musste, aber dann wochenlang verschwunden blieb, begannen sich prompt Lähmungserscheinungen in der Regierung und Richtungskämpfe in der AKP abzuzeichnen. Und trotz Dementi hält sich hartnäckig das Wort Darmkrebs…
Dr. Richard G. Kerschhofer lebt als freier Publizist in Wien.