Eine ganz einfache politische Grundregel der Kommunikation lautet: Überbringe unangenehme Nachrichten dann, wenn möglichst wenige Menschen zuhören. Diese Taktik funktioniert oft, aber nicht immer – wie zuletzt das Beispiel Niko Pelinka gezeigt hat.
Nunmehr scheint diese Methode auch in der Gesetzgebung Einzug zu halten. Nachdem der Nationalrat in einer Marathonsitzung am 28. März das Stabilitätsgesetz 2012 verabschiedete, folgte am Freitag, dem 30. März, der Bundesrat. Am Samstag, dem 31. März, unterzeichnete der Bundespräsident und bestätigte das verfassungsmäßige Zustandekommen des Gesetzes. Noch am gleichen Tag erfolgte die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt und Stunden später, nämlich ab 00.00 Uhr des 1. April 2012 stand das Gesetz in Geltung. Da § 2 ABGB bestimmt, dass sich niemand auf die Unkenntnis eines Gesetzes berufen kann, sobald ein solches gehörig kundgemacht ist, war formal auch alles in Ordnung. Es kommt nämlich nur auf die gehörige Kundmachung an – und nicht auf die Möglichkeit, das Gesetz auch zu lesen.
Als der besagte § 2 ABGB vor 200 Jahren in Kraft trat, gab es noch kein Internet, mit dem der Staat seine Gesetze per Mausklick veröffentlichen konnte. Die längste Zeit wurden Gesetze im Amtsblatt zur Wiener Zeitung veröffentlicht, sodass zumindest die theoretische Möglichkeit des Lesens bestand. Gäbe es heute noch die Notwendigkeit einer Druckversion und die seinerzeitigen Setzer, wäre das Inkraftsetzen eines Gesetzes binnen weniger Stunden ab Unterzeichnung durch das Staatsoberhaupt eine technische Unmöglichkeit.
Geht man davon aus, dass es auch österreichische Staatsbürger ohne Internet gibt, so stellt sich die Frage, wie dieser Teil der Bevölkerung am Nachmittag eines Samstags in den Besitz eines Bundesgesetzblattes kommen soll, das eben erst unterzeichnet worden ist. Selbst wenn die Staatsdruckerei für das Stabilitätsgesetz 2012 Überstunden anordnen würde, wäre eine Auslieferung binnen weniger Stunden in ganz Österreich eine logistische Meisterleistung. Die Wiener Zeitung war ja schon erschienen und die Trafiken des Landes hatten auch schon ihre Tätigkeit beendet.
Aber auch dann, wenn wir uns mit der Veröffentlichungsfiktion per Internet abfinden können, und selbst dann, wenn wir davon ausgehen, dass der Inhalt des Stabilitätsgesetzes binnen acht Stunden gelesen werden kann, ist es unmöglich, das Gesetz auch zu verstehen. Dies hat seinen Grund in einer ganz spezifischen Gesetzgebungstechnik. Das Stabilitätsgesetz ist nämlich ein solches, das 13 andere Gesetze – vom Publizistikförderungsgesetz bis zum Pensionskassengesetz – ändert. Manchmal – und das ist die einfache Variante – werden vollständige Paragrafen gestrichen und durch andere Inhalte ersetzt (wie im vorliegenden Fall beim § 30 Einkommensteuergesetz). Meistens werden aber nur einzelne Worte, Wortfolgen, Ziffern, Verweisungsnormen etc. gestrichen oder geändert, sodass man ohne Kenntnis des Originaltextes gar nicht wissen kann, was da geändert worden ist.
Das Stabilitätsgesetz 2012 ist in seiner Originalversion also zuallererst eine Denksportaufgabe, deren Lösung einen guten Tag in Anspruch nehmen dürfte. Wer sich dieser Aufgabe gestellt und konsolidierte Versionen der 13 Gesetze erstellt hat, kann sich dem Studium des Inhalts der geänderten Gesetze widmen.
Dieser Denksportaufgabe stellt sich kaum ein Mensch. Jeder Rechtsanwender bedient sich anderer Quellen, insbesondere der konsolidierten Version des Bundesrechts im Rechtsinformationssystem RIS – einem Service des Bundeskanzleramtes.
So weit, so gut. Wer also den aktuellen Inhalt eines Gesetzes lesen möchte, bedient sich im Allgemeinen des RIS. Nur war dies am 1. April 2012 schlicht und einfach nicht möglich. Zwar erwartete der Bundeskanzler, dass die Rechtsunterworfenen ab diesem Tag die neuen Gesetze kennen und anwenden, doch stellte sein eigenes Amt an diesem Tag nach wie vor die alten Versionen als konsolidiertes Bundesrecht zur Verfügung. Das Bundeskanzleramt war nicht in der Lage, mit dem Inkrafttreten des Stabilitätsgesetzes 2012 aktuelle Gesetzesversionen zur Verfügung zu stellen.
Der Rechtsanwender konnte daher schon aus gesetzestechnischen Gründen die Rechtslage nicht kennen.
Dass zwischen der Beschlussfassung eines Gesetzes und seinem Inkrafttreten ein angemessener Zeitraum liegt, hat seine guten Gründe. Die Bürger sollen sich rechtzeitig auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen können.
Noch nie sind die Bürger so überfahren, um nicht zu sagen: überfallen worden, wie mit dem Stabilitätsgesetz 2012. Selbst das Bundeskanzleramt war mit der Kurzfristigkeit der neuen Gesetzeslage vor aller Augen hoffnungslos überfordert. Die Botschaft, die die Regierung aussendet, ist alles andere als vertrauenserweckend. Jede Regierung, die Pfusch produziert, spielt der Opposition in die Hände.
Dr. Georg Vetter ist selbständiger Rechtsanwalt mit Schwergewicht auf Gesellschaftsrecht und Wahrnehmung von Aktionärsinteressen in Publikumsgesellschaften.