Manche hat es richtig gefreut, als die Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise ausbrach. Endlich krache das morsche Gebäude des Kapitalismus in sich zusammen, dachten hartgesottene Linke. Auch weniger ideologisch festgelegte Zeitgenossen erkannten Endzeitsignale. Im September 2008 gab es Tage, da auch bürgerliche Politiker und Fachleute bis in die Spitzen der Zentralbanken eine Kernschmelze des Finanzsystems nicht für ausgeschlossen hielten. Drohte der Welt ein ökonomisches Tschernobyl? Es stand Spitz auf Knopf.
(Dieser ausführliche Beitrag verschafft einen gesamthaften Überblick über die wirklichen Ursachen der Finanzkrise. Der Autor Philip Plickert ist Wirtschaftsredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Der Beitrag ist Teil des Sammelbandes „Konservative Korrekturen“(edition noir, ISBN: 978-3-9502494-2-2), der einige sehr mutige Analysen und Konzepte zu einer neuen konservativen Standortbestimmung enthält.)
Doch dann trat er auf: der Staat, der Retter. Mit Notmaßnahmen wurde das System stabilisiert. Er spannte gigantische Rettungsschirme über die wankenden Banken; Bürgschaften in Billionenhöhe beruhigten die Märkte. Es gab nach der Lehman-Pleite keine unkontrollierte Kettenreaktion im Finanzsystem. Auch der rasante Einbruch der Realwirtschaft zum Jahreswechsel 2008/2009, dessen Tempo und Tiefe durchaus mit dem Anfang der Großen Depression nach 1929 vergleichbar war, verlangsamte sich zur Jahresmitte 2009. Gegen Jahresende hatten fast alle Industriestaaten die Rezession gestoppt, eine Erholung begann. Just in dieser Zeit griffen auch die ersten großen Konjunkturpakete. Die zeitliche Koinzidenz ließ auf eine Kausalität schließen: Ohne den rettenden Eingriff des Staates hätte es einen Totalabsturz gegeben.
Achtzig Jahre zuvor hatte die Große Depression einen wirtschaftspolitischen Klimawandel hin zu einer Großen Repression wirtschaftlicher und politischer Freiheit gebracht. Das Vertrauen in die Marktwirtschaft – den ungeliebten Kapitalismus – war dahin. Es traten Regime hervor, die das scheinbare Chaos der Märkte durch Interventionen und Steuerung zu überwinden trachteten. Intellektuelle schauten neidisch in die Sowjetunion, die von keiner Rezession berührt war. Nicht nur im faschistischen Italien und im NS-Deutschland, sondern auch im Amerika des „New Deal“, dem Herzland des Kapitalismus, nahm der Staat die Wirtschaft an den Zügel. Zentrale politische oder korporatistische Kontrolle ersetzte die dezentrale Koordination durch Märkte.
Diese Geschichte wiederholt sich nicht, Gott sei Dank. Doch das Vertrauen in die Marktwirtschaft ist auch heute wieder erschüttert, nicht nur unter linken und linksliberalen Intellektuellen. Unter den Ökonomen finden jene mehr Gehör, die wie Nobelpreisträger Josef Stiglitz oder Paul Krugman für mehr Regulierung und Staatseinfluss werben. Die Finanzkrise sei eine historische Zäsur, meinte Stiglitz: 1989 habe der Fall der Berliner Mauer den Kommunismus diskreditiert, nun sei 2009 eine zweite Illusion zerstört worden: der „Marktfundamentalismus“ und Neoliberalismus.
Solche historischen Parallelen sollte das bürgerliche Lager zurückweisen. Sie beruhen auf einer Legende. Nicht die Marktwirtschaft oder neoliberale Politik haben in die große Finanzkrise geführt, sondern die Verletzung zentraler Regeln der Marktwirtschaft. Vor allem das Grundprinzip der privaten Haftung wurde außer Kraft gesetzt. Da sich an den impliziten Garantien der Staaten für große Finanzinstitute nichts Grundlegendes geändert hat, bleibt eine wesentliche Krisenursache latent bestehen. Noch beunruhigender: Auch das Muster der expansiven Geldpolitik, die in Amerika die Kreditpyramide entstehen ließ, deren Zusammenbruch die Welt erschütterte, scheint sich nicht grundsätzlich zu ändern.
So unbestritten das Versagen und die moralische Schuld skrupelloser Banken und Spekulanten auch ist, so bleibt die Klage darüber doch oberflächlich und lenkt von den tieferen Ursachen der Krise ab: Dem viel beklagten Marktversagen ging, wie im Folgenden erklärt wird, ein (Geld- und Fiskal-)Politikversagen voraus. Im Ursprungsland der Krise, den Vereinigten Staaten, war über Jahre eine Mischung aus expansiver Geldpolitik, stimulierender Fiskalpolitik und fehlgeleiteter Sozialpolitik am Werke, die mit viel „billigem Geld“ die Immobilienpreisblase schuf, deren Platzen die Weltwirtschaft erschütterte. Die staatlichen Akteure, die sich in 2008/2009 als Feuerwehr betätigten, waren zuvor die Brandstifter.
In der Krise wird nun Feuer mit Feuer bekämpft. Nicht mehr tragbare private Schuldenberge werden durch neue Schuldengebirge der Staaten ersetzt und übertroffen. Mit Massen an billigem Geld, das die Zentralbanken, vor allem die amerikanischer Federal Reserve (Fed) in die Märkte presst, sollen Verluste vermieden werden. Dabei wächst die Gefahr neuer Preisblasen und Fehlallokationen, längerfristig auch das Risiko hoher Inflation.
Als Konsequenz der Krise ertönt allseits der Ruf nach einer Rückkehr des „starken Staats“, der die Finanzmärkte in die Schranken weist und „den Kapitalismus“ zähmt. Krisenökonom John Maynard Keynes, der für konjunkturstimulierende Ausgabenprogramme eintrat, erlebt ein Revival. Umfragen zeigen, dass sich die Bürger insgesamt wieder mehr staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft wünschen. Doch was sich als „starker Staat“ darstellt, der Banken rettet, Unternehmen stützt, Branchen fördert, Subventionen vergibt und die Bevölkerung durch Sozialpolitik ruhig stellt, ist in Wirklichkeit ein schwacher, ein erpressbarer, ein getriebener Staat. In seinem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ benannte Walter Eucken vor mehr als einem halben Jahrhundert das paradoxe Phänomen: „Die Zunahme der Staatstätigkeit nach Umfang und Art verschleiert den Verlust der Autorität des Staates, der mächtig scheint, aber abhängig ist.“
Statt sich auf die Schaffung einer festen Rahmenordnung für die Wirtschaft zu beschränken, wird der Staat in den Wirtschaftsprozess hineingezogen. Der Versuch einer (pseudo-) keynesianischen Dauerstimulierung der Konjunktur, wie sie besonders Amerika seit längerem betreibt, schafft neue Risiken. Es besteht die Gefahr, dass die Konjunkturstimulierung nur Strohfeuer entfacht. Am Ende ist alles finanzpolitische Pulver verschossen. Wie in den siebziger Jahren droht verbrannte Erde.
Mit der gewaltigen Verschuldungswelle zur Bekämpfung der Krise sind einige Staaten nahe an den finanziellen Abgrund gekommen. Kenneth Rogoff, der ehemalige IWF-Chefökonom, nahm schon im März 2009 – mitten in der großen Rettungsorgie – das „Deficit Endgame“ in den Blick: „Während die Schulden steigen und die Rezession anhält, werden wir sicherlich erleben, wie eine ganze Reihe von Regierungen versucht, ihre Last durch finanzielle Repression, höhere Inflation, teilweise Zahlungsunfähigkeit oder eine Kombination aus allen dreien zu erleichtern.“ Obwohl die Rezession einer Erholung gewichen ist und die Weltwirtschaft wieder wächst, geht das „Deficit Endgame“ der Staatsfinanzen weiter.
Drei Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise hat eine dritte Welle die Staatsfinanzen erfasst. Die Vereinigten Staaten haben weiterhin zweistellige Defizitquoten. Aber nicht sie, sondern einige kleinere europäische Staaten, die mit dem Staatsbankrott kämpfen, stehen im Fokus der Finanzmärkte. Zur Stabilisierung ihrer Finanzen haben die Staaten der Euro-Währungsunion ihnen Notkredite gewährt. Wohin soll das führen? In eine gewaltige Transferunion, lautet die bittere Erkenntnis. Auf Dauer droht Europa daran Schaden zu nehmen.
Neben den akuten Schuldenproblemen gibt es weitere mittel- und langfristige Risiken für die Handlungsfähigkeit der Staaten. Die Belastungen werden in der Zukunft zunehmen. Während das Wachstumspotential abnimmt, steigen die Ansprüche an den Sozial- und Interventionsstaat. In diesem Essay wird beleuchtet, wie mittel- und längerfristig seine demographischen Grundlagen schwinden. All dies sind düstere Perspektiven, nur ein entschiedenes Gegensteuern könnte einige Fehlentwicklungen aufhalten. Doch die Politik hält sich mit Scheinlösungen, Ablenkungsmanövern und oberflächlichen, opportunistischen Korrekturen auf, sie bedient Interessengruppen, statt das Gemeinwohl durch einen stabilen ordnungspolitischen Rahmen zu fördern.
Die Phrase vom „starken Staat“ ist trügerisch. Wir sehen „big government“ am Werk, doch es überdehnt sich und droht zu scheitern. Konservative und Liberale hegen unterschiedliche Vorstellungen von den Grenzen der legitimen Staatstätigkeit. Grundsätzlich aber stimmen sie im Ziel eines handlungsfähigen, nicht überbordenden Staates überein. Die vergangenen Jahrzehnte waren vom Gegenteil geprägt: Trotz einer hohen Staatsquote ließ die Handlungsfähigkeit nach, der Staat wurde in den Wirtschaftsprozess und die Lobbyinteressen hineingezogen. Wachstumsstimulierende Subventionen und verzerrende Eingriffe in den Markt machten korrigierende Gegeneingriffe notwendig, im schlimmsten Fall wird der Staat zur „Rettung“ einzelner Akteure auf Kosten der Allgemeinheit genötigt.
Die fundamentale konservative Korrektur bestünde darin, Abschied vom Staat als Marktteilnehmer zu nehmen und den Staat wieder als glaubwürdigen Schiedsrichter über die Spielregeln eines transparenten Marktes zu etablieren. Darin zeigt sich die Autorität des Staates. Den Weg, diese Autorität wiederherzustellen, weist das geistige Erbe des frühen Neo- bzw. Ordoliberalismus, der die Soziale Marktwirtschaft in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland geprägt und zum Erfolg geführt hat. Dazu ist es notwendig, den Staat gegen die Versuchung opportunistischer Eingriffe zu immunisieren. Dies geschieht, wie am Schluss dieses Essays dargestellt, durch eine regelgebundene Wettbewerbs-, Geld- und Finanzpolitik.
Politikversagen als Ursache der Krise
Bis heute gilt die Finanzkrise vielen als „Marktversagen“. Der Beinahezusammenbruch des Systems zeige, wohin unverantwortliche Spekulation von größenwahnsinnigen und profitgierigen Bankern die Welt bringen könne. Dass es gierige, verantwortungs- und skrupellose Banker gibt, die in unentschuldbarer Weise mit dem Feuer spielen, ist offenkundig. Doch die Deutung der Krise als Folge eines reinen „Marktversagens“ greift zu kurz.
Vielmehr liegen die Gründe in einem komplexen, verhängnisvollen Zusammenspiel aus Markt- und Staatsversagen. Staatliche Geldpolitik hat das Aufblähen der Finanzblase ermöglicht, wie John B. Taylor, einer der renommiertesten Makroökonomen, gezeigt hat. Die große Krise wäre nicht entstanden ohne die Politik des „billigen Geldes“, die ein exorbitantes Kreditwachstum zugelassen hat. Dass die Kreditlawine in Amerika zu einem großen Teil über den Häusermarkt rollte, lag an der sozialpolitischen Zielsetzung, möglichst vielen Leuten zum Hauseigentum zu verhelfen. Diese beiden Faktoren sollen zunächst erklärt werden, bevor dann die mikroökonomischen Fehlanreize in den Banken untersucht werden.
Als Reaktion auf den Börsencrash nach dem Internet-Aktienboom sowie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 senkte die amerikanische Notenbank Fed unter ihrem Vorsitzenden Alan Greenspan sturzartig den Leitzins von 6,5 auf 1 Prozent. Auf diesem tiefen Niveau blieb er lange stehen. Die Fed war besorgt, dass die Wirtschaft nicht schnell genug nach der Rezession neue Arbeitsplätze schuf („jobless recovery“), zudem gab es eine verfehlte Deflationsdebatte. Erst Mitte 2004 begann Greenspan, „der Magier“, in kleinen Schritten die Geldpolitik zaghaft zu straffen. Da befand sich die Wirtschaft aber schon in einem kräftigen Aufschwung, die Preise am Immobilienmarkt kletterten in die Höhe.
Die Normalisierung des Zinsniveaus kam viel zu spät. Schon 2002 hätte die Fed nach der Taylor-Regel die Kreditexpansion drosseln müssen. Doch die Fed blieb auf expansivem Kurs. Ihre Devise lautete damals, dass man entstehende Blasen nicht erkennen könne. Und wenn eine Blase platze, dann könne man die Scherben aufsammeln und der Wirtschaft durch abermalige Zinssenkungen neuen Schwung geben. Das war Greenspans Devise, der damit die extrem expansive Geldpolitik rechtfertigte. Die wenigen warnenden Stimmen galten als Nörgler, etwa Raghuram Rajan, der IWF-Chefökonom, der 2005 in Jackson Hole vor Risiken durch die Kreditaufblähung warnte, oder William White, Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der schon 2003 den überexpansiven Kurs kritisierte. Beide ernteten feindselige Reaktionen, die Fed wollte allenfalls langsam die Zügel straffen. Das Potential für eine große Krise aus dem großen Kreditwachstum sah sie nicht.
Ein „asymmetrisches Muster“ der Geldpolitik – schnelle Zinssenkungen im Abschwung, zögerliche Zinserhöhungen im Aufschwung – ist schon seit den späten achtziger Jahren zu beobachten. Daraus folgt eine Welle wandernder Blasen in verschiedenen Märkten und Ländern – und letztlich ein Teufelskreis aus Geldschwemme, Euphorie, Blasen und Krisen. Die Notenbanken haben in jeder Wirtschaftskrise, beginnend mit der geplatzten Immobilienblase in Japan, immer mehr Liquidität in die Märkte gepumpt. Besonders stark war der geldpolitische Impuls der Fed nach 2001, noch verstärkt durch die gewaltigen Kapitalexporte der Chinesen nach Amerika, die das dortige Leistungsbilanzdefizit finanzierten. Die Hunderte Milliarden vagabundieren um die Welt und suchen nach Anlagemöglichkeiten. Nicht nur verzerrt der „billige Kredit“ die Preissignale an den Kapitalmärkten, er verführt auch zu übermäßigem Risiko und zu Über- bzw. Fehlinvestitionen.
Hintergrund dieser Krisenanalyse sind die Konjunkturtheorien der österreichische Ökonomen Ludwig von Mises, Joseph Schumpeter und Friedrich August von Hayek, die im Zuge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise wieder entdeckt wurden. Sie interpretierten einen konjunkturellen Absturz als logische Folge des vorangegangenen, fehlgeleiteten Aufschwungs, der von zu billigem Geld und übertrieben positiven Erwartungen befeuert war. Die überzogenen Erwartungen können verschiedene Gründe haben, etwa einen „Hype“ um neue Produkte und Märkte („New Economy“) oder Finanzinnovationen (die Verbriefung von „Subprime“-Krediten, die den Kreditboom verstärkt hat). Die Märkte sind zunächst euphorisiert, doch kann der Herdentrieb der Anleger, den Hyman Minsky beschrieb, auch in die andere Richtung drehen und in Panik umschlagen.
Das Muster des geldpolitisch getriebenen „Boom“ und „Bust“ verläuft immer ähnlich: Im Boom wird mächtig investiert. Die Banken geben mehr und mehr Kredite aus. Der Risikoappetit der Investoren steigt, sie beginnen immer gewagtere und größere Projekte. Zugleich fühlt sich auch die Bevölkerung insgesamt reicher, sie gönnt sich mehr Konsum. Die Unternehmen machen mehr Profit, die Aktienkurse steigen. Irgendwann sind jedoch die Preise auf ein unhaltbares Niveau gestiegen. Das war am amerikanischen Immobilienmarkt 2007 der Fall. Die Euphorie der Spekulanten kann nun in Panik umschlagen. Banken verweigern neue Kredite, Unternehmen stoppen Investitionen. Am Ende steckt die ganze Wirtschaft in einer Rezession.
Eine solche Krise hat wenig mit Marktversagen zu tun; vielmehr war es eine staatlich ermunterte und verzerrte Spekulation, die schließlich platzte. Der ehemalige IWF-Chefökonom Rajan erinnert daran, dass Greenspan schon 2002 den Märkten versichert hatte, dass er nicht gegen Blasenbildung einschreiten werde. Die Fed werde aber im Fall eines Platzens einschreiten und den Übergang zur nächsten Expansion erleichtern. Dies war der berühmte Greenspan-Put – mit fatalen Folgen. Rajan schreibt dazu: „Die Logik war ... eindeutig gefährlich. Sie schürte die Flammen der Vermögenspreisaufblähung (asset price inflation), indem der Wall Street und den Banken quer durchs Land gesagt wurde, dass die Fed die Zinsen nicht anheben werde, um die Vermögenspreise zu drosseln, und dass sie, falls die Sache schrecklich schief ginge, einschreiten würde, um die Preise zu stützen.“ Das Versprechen der Rettung weckte „Moral hazard“, die Versuchung zu unverantwortlichem riskanten Handeln der Marktteilnehmer.
Während die lockere Geldpolitik die Kreditmassen schuf, die später wie Sprengstoff in den Bankbilanzen explodierten, war es eine gutmeinende Sozialpolitik, die das billige Kapital in den amerikanischen Häusermarkt lenkte. Auch hier war nicht ein unverzerrter Markt, sondern die lenkende Hand des Staates am Werke. Das sozialpolitische Ziel hieß „Wohneigentum für Jedermann“. Dazu wurde eine großzügige Hypothekenfinanzierung gewünscht und gefördert. Triebwerke waren die halbstaatlichen Immobilienfinanzierer Fannie Mae (gegründet 1936 vom linken New-Deal-Präsidenten Roosevelt) und Freddie Mac (gegründet 1968 vom linksliberalen Lyndon B. Johnson). „Fannie und Freddie“ übernahmen die Finanzierung eines Großteils der Hypotheken, die von Banken ausgegeben wurden.
Dass ein erheblicher Teil der Darlehen auch an Minderheiten und „sozial Schwache“ vergeben wurde, die sich später als „subprime“ entpuppten, geht auf den Community Reinvestment Act zurück, der 1977 vom sozial engagierten Präsidenten Carter eingeführt und danach vielfach verschärft wurde. Das Gesetz war ein typisches Produkt der Antidiskriminierungs- und Quotenpolitik. Unter Präsident Clinton wurde der CRA verschärft. Das Wohnungs- und Stadtplanungsdepartment schrieb 1995 den Banken eine Quote von 42 Prozent Hypotheken für sozial Schwache vor, nach 2000 sollten es 50 Prozent sein. Unter Bush wurde die Quote nochmals auf 56 Prozent erhöht – alles im Zeichen der „Ownership Society“, die auch aus Menschen mit wenig finanziellen Sicherheiten stolze Eigenheimbesitzer machen sollte. Im Extrem wurden sogar „Ninjas“ (no income, no assets, no job) mit Hypotheken bedacht.
Ein gewaltiger Preisboom gerade für Häuser im unteren Segment war die Folge. Die Zahlen der Hypothekengiganten Fannie und Freddie und der Federal Housing Administration (FHA), die Rajan erwähnt, machen schwindeln: 1997 wurden „Subprime“-Hypotheken für rund 85 Milliarden Dollar vergeben, bis 2003 stieg das jährliche Volumen auf 446 Milliarden Dollar und lag danach bei 300 bis 400 Milliarden Dollar neuen Krediten. Nach Schätzung von Edward Pinto, einem früheren Chief Credit Officer, hielten die Hypothekenriesen Fannie und Freddie, die FHA und andere staatliche Programme im Juni 2008 „Subprime“- oder Alt-A-Kredite für rund 2,7 Billionen Dollar. Das waren 59 Prozent aller Darlehen in dieser Kategorie. „Es ist sehr schwer, zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen, als dass dieser Markt weitgehend vom Staat und von staatsbeeinflusstem Geld getrieben war“, urteilt Rajan.
Als die Medien über die „Subprime“-Krise zu berichten begannen, wurde kaum klar, was sich dahinter verbarg. Es galt auch als politisch nicht korrekt, geradewegs zu sagen, wer die „schlechten Hypotheken“ erhalten hatte. Der an der Harvard Universität lehrende schottische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson fuhr damals nach Detroit, eine von der Krise besonders schwer getroffene Stadt, und besuchte die Stadtviertel mit den höchsten Kreditausfallrate. Eine „überproportionale Zahl von Subprime-Schuldnern gehörten ethnischen Minoritäten an“, berichtete Ferguson. „Als ich durch Detroit fuhr, begann ich mich zu fragen, ob ‚subprime’ in Wahrheit ein neuer Finanzeuphemismus für ‚schwarz’ war.“
Auch wenn es überspitzt formuliert klingt, ist doch sicher, dass die „Subprime“-Kreditschwemme im Wesentlichen aus einer staatlichen Lenkung in sozialpolitisch erwünschte Bereiche resultierte. Der Verkaufsdruck der Hypothekenvermittler, der vielfach angeprangert wurde, entstand unter dem Druck der CRA-Quoten. Der Immobilienboom endete für viele Hauseigentümer im Ruin. Die Hypotheken und andere Kreditschulden hingen wie Mühlsteine um ihren Hals, als der Wert der Immobilien zu sinken begann. Millionen Hauseigentümer wurden zahlungsunfähig. Sie entledigten sich der Last, indem sie den Hausschlüssel ihrer Bank zurückgaben. Die hatte nun faule Kredite in den Büchern, die mit unverkäuflichen Häusern besichert waren.
Und mit dem Vermögensverlust mussten die amerikanischen Bürger auch ihren Konsum reduzieren. Die schlichte Wahrheit ist, dass Amerika viele Jahre lang über seine Verhältnisse gelebt hatte: Mit der Politik des billigen Geldes, verstärkt durch die chinesischen Kapitalzuflüsse, wurde in den Vereinigten Staaten eine kreditgetriebene Investitions- und Konsumorgie gefeiert, die schon lange nicht mehr durch reale Ersparnisse gedeckt war. Von 1980 bis 2006, dem Vorabend der Finanzkrise, verdoppelte sich die private Verschuldung von 50 auf 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Sowohl die Geld- als auch die Fiskalpolitik half bei dem Spiel kräftig mit, getrieben von vage keynesianischen Ideen einer aktiven Konjunktursteuerung. 2007 war jedoch der Punkt gekommen, an dem dieses scheinbare Perpetuum Mobile nicht mehr weiterkam.
Die Krise verbreitete sich deshalb so rasend schnell um den Globus, weil die Hypothekenkredite durch Verbriefungen, vor allem ABS (Asset Backed Securities) und CDO (Collateralized Debt Obligations), weiterverkauft worden waren. Hunderttausende Hypotheken waren in diesen Wertpapieren zusammengefasst, die in mehrere Tranchen mit unterschiedlichen Renditen unterteilt waren. Da so viele Kredite in den Papieren zusammensteckten, galt das Risiko als gering, weil es breit gestreut schien. Allerdings waren die Risiken positiv korreliert, sobald der gesamte amerikanische Häusermarkt nachgab. Die Verbriefungen waren in Wirklichkeit eine Methode, die Risiken zu verschleiern und weiterzureichen. Auch dies hebelte das marktwirtschaftliche Prinzip der Haftung aus. Im Jahr 2007 begann der Markt für Verbriefungen auszutrocknen; sie verloren drastisch an Wert. Nun breitete sich der Fluch des billigen Geldes über den Globus aus, im Herbst 2008 wurde die Krise zum Flächenbrand.
In Deutschland hatten sich besonders die staatsnahen Landesbanken mit Verbriefungen eingedeckt. Nach einer Studie der Ökonomen Harald Hau und Marcel Thum machten die öffentlich-rechtlichen Banken 2007 und 2008 durchschnittlich zwei- bis dreimal so hohe Verluste wie die privaten Banken. Zudem stellten die Ökonomen auch einen eklatanten Mangel an Kompetenz in den Aufsichtsräten fest. Am schlimmsten war es in den öffentlich-rechtlichen Instituten, den Staatsbanken. Dort haben viele Aufseher kaum Banken- und Finanzerfahrung, merken die Forscher kritisch an. Diese bittere Erkenntnis sollte misstrauisch stimmen, wenn Politiker über inkompetente Banker schimpfen, die durch riskante Geschäfte hohe Verluste eingefahren haben. Politiker sind nicht die besseren Banker.
Kapitalismus und Bankensozialismus
Ohne Zweifel trägt die private Finanzwirtschaft einen großen Anteil der Schuld an dem Debakel, da sie leichtfertig auf eine gigantische Kreditpyramide setzte. Individuelle Gier und Größenwahn ergaben eine fatale Mischung. Doch von Marktversagen zu sprechen setzt voraus, den Begriff sauber zu definieren. In der Ökonomik sind drei Situationen bekannt, in denen es zu mehr oder minder schwerem Marktversagen kommen kann: bei externen Effekten, bei öffentlichen Gütern und bei asymmetrischer Information. Diesen dritten Fall, der bis zum Zusammenbruch von (Finanz-)Märkten führen kann, haben George Akerlof und Stiglitz treffend analysiert. Die Spannungen am Geldmarkt, der im Sommer 2007 stockte und im Herbst 2008 fast komplett austrocknete, war ein Beispiel dafür: Informationsasymmetrien und Intransparenz (jede Bank misstraute der anderen; jede konnte potentiell pleite sein) führte zur Lähmung des Marktgeschehens.
Der Finanzjournalist Walter Bagehot hat schon in seinem Klassiker „Lombard Street“ (1873) diese gefährliche Situation des allgemeinen Misstrauens beschrieben. Die Sorge der Sparer kann einen allgemeinen „Run“ auf die Banken auslösen, wie dies in England die Kunden von Northern Rock taten. Jeder Sparer handelt dabei individuell rational, indem er sein Geld abzieht, doch führt die Summe der Einzelhandlungen dazu, dass die Bank und die Ersparnisse untergehen. Bagehot folgerte, dass es einen „Lender of Last Resort“ geben müsse, eine oberste Instanz, die einschreite, um illiquide Banken zu stützen. Heutige Notenbanken gewähren die Liquidität meist zu sehr günstigen Zinsen. Sie stützen ganze Märkte und große Akteure, indem sie die Geldschleusen öffnen. Als 1987 der Hedge-Fonds LTCM nach einer gewagten Spekulation zusammenzubrechen drohte, hat die Fed den Markt mit Hunderten Milliarden Dollar geflutet. Das war ein starkes Signal an die Märkte. Und Greenspan wiederholte die Übung nach dem Zusammenbruch der „New Economy“.
Problematisch daran ist, dass die Märkte die Existenz einer obersten Rettungsinstanz mit ins Kalkül aufnehmen. Daraus entsteht das berüchtigte „Moral hazard“-Problem. Die ausgesprochene oder unausgesprochene Garantie verleitet zu übermäßiger Risikofreude, weil davon ausgegangen wird, dass im Falle zu hoher Verluste eine staatliche oder quasistaatliche Instanz eingreift und die strauchelnden Finanzinstitutionen auffängt. Sogenannte „systemrelevante“ Banken, die als „too big to fail“ (oder als „too connected to fail“) gelten, genießen einen impliziten Bestandsschutz. Aus Sicht der Bankmanager ist es daher rational, Spekulationen mit mehr Risiko einzugehen, die den Erwartungswert der Gewinne und individuellen Einkünfte maximiert.
Die implizite Staatsgarantie hebelt die Konkursgefahr aus, die untrennbar zur Disziplin des Marktes gehört. Es fehlt im Finanzsektor an privater Haftungsplicht, die konstitutiv für die Marktwirtschaft ist: Wer auf Gewinne spekuliert, muss auch für Verluste haften. Wer Chancen sucht, muss auch Risiken tragen. Walter Eucken, der Vordenker der neo- bzw. ordoliberalen Freiburger Schule und Gründervater der deutschen Sozialen Marktwirtschaft, formulierte in seinem Lehrbuch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“: „Investitionen werden um so sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für diese Investitionen haftet.“ Und weiter schrieb Eucken: „Die Haftung wirkt insofern also prophylaktisch gegen eine Verschleuderung von Kapital und zwingt dazu, die Märkte vorsichtig abzutasten. Nur bei fehlender Haftung kommt es zu Exzessen und Zügellosigkeit.“
Genau das ist in der Krise geschehen. Da allgemein die Erwartung eines rettenden „Greenspan-Put“ vorherrschte, wurde Kapital zu sorglos eingesetzt – und letztlich verschleudert. Nur eine Verstärkung der Haftung im Finanzsektor könnte solch unverantwortliches Verhalten zügeln. Das gilt für ganze Banken, die keine Bestandsgarantie haben dürfen, wie auch für einzelne Manager, die übermäßige Risiken eingehen. Daher müssen die Banken ihre Vergütungsstrukturen ändern, die durch asymmetrische Anreize die Risikoneigung verschärft haben. Bankmanager werden durch Boni-Versprechen, die an kurzfristige Gewinne gekoppelt sind, zu hochspekulativen Geschäfte verleitet.
Als Gegenmittel empfehlen sich Vergütungsstrukturen, die den Anteil der variablen Boni verringern und Haltefristen für Aktienoptionen vorsehen. Zum Bonus muss ein Malus kommen, wenn Verluste auflaufen. Das dämpft den individuellen Risikoappetit von Bankmanagern. Finanzsystemisch sind höhere Eigenkapitalvorschriften die richtige Antwort auf die Krise. Mit dem internationalen Regulierungswerk Basel III sollen die Eigenkapitalquoten schrittweise auf 10,5 Prozent der risikogewichteten Aktiva erhöht werden. Mehr haftendes Eigenkapital bedeutet größere Sicherheitspolster, die Verluste abfedern, so dass Banken auf einer stabileren Grundlage stehen.
Das „Moral hazard“-Problem gegenüber der Gesellschaft – dem Staat – bleibt aber bestehen, solange Banken eine implizite staatliche Bestandsgarantie genießen. „Der Umgang mit systemrelevanten Instituten – die schwerste Hinterlassenschaft aus der Finanzkrise – ist weiterhin ungeklärt“, heißt es warnend im jüngsten Gutachten der deutschen „Wirtschaftsweisen“. Das Ziel der Staaten, „nie wieder in Geiselhaft durch den Finanzsektor genommen zu werden“, sei verfehlt worden. Sehr große und stark vernetzte Finanzinstitute werden deshalb systemrelevant genannt, weil von ihnen, wenn sie in Schieflage geraten, eine Gefahr für das gesamte Finanzsystem ausgeht. Es kann zu Dominoeffekten auf andere Finanzinstitute oder ganze Finanzmärkte kommen. Um das zu verhindern, werden die Systemrelevanten gestützt.
„Das Problem ist, dass die Gläubiger der systemrelevanten Finanzinstitute dies wissen, dass sie implizit eine Garantie durch den Staat genießen und dass diese wie eine Subvention wirkt“, kritisiert Beatrice Weder di Mauro, Ökonomieprofessorin in Mainz und Mitglied des Sachverständigenrats. Daraus folgen „massive Verzerrungen und Fehlanreize im Finanzsektor“.Beispielsweise können Banken einen Anreiz zu übermäßigem Wachstum sehen. Für die Volkswirtschaft – gerade in kleineren Staaten wie der Schweiz, Irland oder Island – erwachsen Risiken aus der Existenz übergroßer Banken.
Wie hoch diese Subventionen für die Großbanken sind, haben Ökonomen mit verschiedenen Methoden zu ermitteln versucht. Sie kommen auf unterschiedliche, doch stets sehr große Summen. Der Hauptwert der Garantie liegt darin, dass sich die Banken, die als „too big to fail“ (TBTF) gelten, am Kapitalmarkt günstiger finanzieren können, weil das Ausfallrisiko geringer ist. Nach Berechnungen von Dean Baker und Travis McArthur ergeben sich aus der Staatsgarantie um bis zu 0,5 Prozentpunkte geringere Zinskosten. Im untersten Rechenszenario kamen Baker und McArthur auf knapp 5 Milliarden Dollar, im obersten Szenario schätzten sie fast 35 Milliarden Dollar Subvention jährlich durch die impliziten Garantien für die amerikanischen Banken. Eine andere Studie hat anhand von Übernahmeprämien bei Fusionen, aus denen TBTF-Banken hervorgingen, den Wert der Subvention in den Vereinigten Staaten auf 14 bis 25 Milliarden Dollar geschätzt.
Kritischer gegenüber ihren Großbanken sind auch die Schweizer geworden. 2008 machten UBS und Credit Suisse Verluste von rund 30 Milliarden Franken, die UBS wurde anschließend vom Staat gestützt. Die Bilanzsummen der beiden Großbanken machten damals rund das Sechsfache des Schweizer BIP aus. Angesichts dieser Dimension wuchs in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit die Sorge, ob ein Zusammenbruch einer Großbank nicht die ganze Volkswirtschaft der Eidgenossenschaft gefährden würde. Nationalbankchef Philipp Hildebrand sagte, man müsse nun ohne Tabus über die Zukunft der Banken reden. Auch in Großbritannien regte sich heftige Kritik. Zentralbankchef Mervyn King regte ein „Testament“ für Großbanken an, damit diese im Krisenfall rasch aufgespaltet und abgewickelt werden könnten.
Gerade liberale Ökonomen wünschen sich Reformen der Bankenregulierung, um die Marktordnung wiederherzustellen. „Die Erwartung, dass es immer eine Rettung, einen Bail-out, geben wird, muss gebrochen werden“, fordert Boris Zürcher vom liberalen Schweizer Thinktank Avenir Suisse, der eine kritische Studie über das „too big to fail“-Problem verfasst hat. Wenn die Aussicht auf Rettung schwinde, hätte dies einen disziplinierenden Effekt auf die Banker und ihre Gläubiger. Zürcher schätzt den Wert der impliziten Subventionen für UBS und CS auf 3 bis 6 Milliarden Franken im Jahr. Das sei mehr Subvention für die Banker als für die Bauern der Schweiz. Darüber hinaus resultiert ein Wohlfahrtsverlust, weil der Wettbewerb zu Lasten der kleineren und mittleren Banken verzerrt wird.
Eine von der Berner Regierung berufene „Expertenkommission zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Großunternehmen“ hat recht radikale Vorschläge gemacht: Auf mindestens 19 Prozent der risikogewichteten Aktiva sollten die Eigenkapitalquoten der Großbanken erhöht werden (das wäre fast das Doppelte der Basel III-Zielvorgaben), davon 10 Prozent hartes Eigenkapital und 9 Prozent in Form von bedingten Pflichtwandelanleihen („Contingent Convertibles“). Mit den CoCo-Bonds würden auch die Gläubiger einer Bank in die Pflicht genommen, wenn die Verluste einer Bank so hoch sind, dass die Eigenkapitalquote unter eine bestimmte Schwelle sinkt. Die Anleihebesitzer würden dann automatisch zu Aktionären und übernehmen Risiken. „Das Ziel ist, dass sich die Aktionäre und Anleihegläubiger nicht mehr darauf verlassen können, dass sie Verluste auf den Staat überwälzen können“, erklärt der St. Galler Wirtschaftsprofessor Manuel Ammann, der den Vorschlag in die Diskussion gebracht hat.
In Deutschland hat die Regulierung einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Für Banken soll es eine wirksame Insolvenzordnung geben, so dass auch systemrelevante Banken bei Überschuldung vom Markt geräumt werden. Nach dem neuen Restrukturierungsgesetz sollen quasi-bankrotte Banken aufgespaltet und geordnet abgewickelt werden. Finanziert werden soll das aus dem Topf der Bankenabgabe, in den jährlich 1,3 Milliarden Euro fließen sollen, die vor allem die großen Institute mit mehr als 100 Milliarden Euro Bilanzsumme zahlen müssen. Die Abgabe geht in die richtige Richtung. Um aber wirklich die „Too big to fail“-Garantie auszugleichen und dem Wachstumsanreiz entgegenzuwirken, müsste sie höher sein, hat der Sachverständigenrat klargemacht. Ob das geplante Restrukturierungsregime im Ernstfall wirklich greifen würde, ist völlig ungewiss. „Die Gefahr ist, dass solche Gesetze nicht funktionieren, weil im Notfall sehr wenig Zeit und die Unsicherheit groß ist“, meint Manuel Ammann. Die systemischen Großbanken bleiben also ein Risiko für die Allgemeinheit.
Wie in den dreißiger Jahren hat die jüngste Krise das öffentliche Image der Banker ruiniert. Finanzinstitute, die 1931 in einer Kettenreaktion zusammenbrachen, nachdem sie in den zwanziger Jahren, begünstigt durch das starke Geldmengenwachstum und riskante Investments, hohe Gewinne gemacht hatten, galten als Hauptschuldige des Desasters, das in die Weltwirtschaftskrise führte. Der Schimpfnahme „Bankster“ wurde geläufig. In der aktuellen Krise richtete sich die öffentliche Wut gegen Banker, die trotz hoher Verluste noch Millionen-Boni erhielten: Sie galten als Inkorporationen eines perversen Kapitalismus. Doch mit echtem Kapitalismus – verstanden als Wirtschaftssystem, das auf privaten Eigentumsrechten und privater Haftung basiert – hat dieses Finanzsystem eben nur begrenzt zu tun. Vielmehr erinnert es an halbseitigen Sozialismus: Gewinne landen auf privaten Konten, große Verluste werden sozialisiert.
Wie hoch die Kosten durch Bankenkrise, Bankenrettung und Wirtschaftskrise letztlich ausfallen, kann nur schwer geschätzt werden. Vieles ist noch im Fluss. In Deutschland stellte der Staat im Herbst 2008 knapp 500 Milliarden Euro – die gigantische Summe entspricht rund 20 Prozent des BIP – als Garantien und Kapitalhilfen in Aussicht, doch nur ein Teil wurde in Anspruch genommen. Die Kapitalhilfen, die zwischenzeitlich 21 Milliarden ausmachten, werden zum Großteil zurückgezahlt, nur in den Landesbanken sind einige Milliarden wohl dauerhaft verloren. Der Wert der „toxischen“ Papiere, die in den „Bad Banks“ für die Münchner Hypo Real Estate und für die staatliche WestLB ausgelagert wurden, ist unsicher. Der Bund hat für die Verbindlichkeiten der beiden „Bad Banks“ im Haushaltsjahr 2010 vorsorglich Schulden von 231 Milliarden Euro verbucht, doch können sich die Kurse erholen. Einen Teil der Hilfen für quasi-insolvente Banken muss der Staat aber wohl abschreiben. In Amerika hingegen könnte die Bankenrettung sogar einen Gewinn abwerfen, wie das Finanzministerium im April 2011 verlautete.
Eine Studie der Deutsche Bank Research machte schon früh eine relativ glimpfliche Rechnung auf. Dieser zufolge waren die direkten Kosten der Finanzkrise für die Steuerzahler geringer als angenommen – in den meisten Industriestaaten unter 1 Prozent. „Überraschenderweise dürfte die Krise damit im historischen Vergleich eine der am wenigsten kostspieligen werden“, schreiben die DB-Ökonomen. Zu den direkten fiskalischen Kosten kommen jedoch noch „enorme indirekte Kosten“ der Krise, räumten sie ein. Dazu zählen Verluste an Wirtschaftsleistung, Steuerausfälle, die Kosten für Konjunkturpakete und Ausgaben der Sozialsysteme wegen der Rezession sowie künftig höhere Zinslasten durch Staatsschulden und ein gedämpftes Wachstumspotential.
Lehren aus der Krise: Marktwirtschaft statt Finanzzauber
Das bislang Gesagte erlaubt ein Zwischenfazit zur Finanzkrise. Sie hatte mehrere Ursachen, kann aber nicht als reines Marktversagen klassifiziert werden. Eine moralisierende Erklärung mit der „Gier der Banker“ greift zu kurz. Vielmehr müssen institutionelle und politische Faktoren mit ins Bild genommen werden. Die Finanzkrise entstand zu einem großen Teil aus Politikversagen: Zum einen die Geldpolitik, die mit real negativen Zinsen eine übermäßige Verschuldung der amerikanischen Haushalte und einen Boom in bestimmten Sektoren anregte, begleitet von einer Sozialpolitik, die Immobilienkredite ohne Sicherheiten förderte; zum anderen eine Bankenregulierung, die es erlaubte, mit zu wenig Eigenkapital und viel Fremdkapital übermäßige Risiken einzugehen und diese mit Verbriefungen über die ganze Welt zu verteilen.
Zwei Hauptlehren für eine marktwirtschaftliche Ordnungspolitik nach der Krise sind zu ziehen:
Die erste Lehre betrifft die Zentralbanken. Sie müssen künftig viel vorsichtiger agieren. Ein Überangebot billigen Geldes führt zu Preisblasenbildung und zur Fehllenkung von Kapital. Doch verfolgt man die Krisenpolitik der Fed unter ihrem Vorsitzenden Ben Bernanke, der ungeachtet der wirtschaftlichen Erholung weiter massenhaft Liquidität in den Markt drückt, kommen Zweifel auf, ob nicht die nächste Krise programmiert wird. Der ehemalige IWF-Chefökonom Rajan warnt vor dem „Risiko, dass wir von Blase zu Blase gehen. Ebenso sieht es Ex-BIZ-Warner William White. Nach Ansicht vieler Beobachter wird die Fed die Leitzinsen noch für lange Zeit nahe Null lassen. Die Billiggeld-Lawine wird einen Anstieg der Inflationsraten zur Folge haben. Aufhorchen lässt, dass einflussreiche Ökonomen in Amerika und aus dem IWF höhere Inflation gar nicht schlecht fänden. Schon jetzt droht die amerikanische Liquiditätsschwemme die Schwellenländer zu destabilisieren, die mit hohen Kapitalzuflüssen kämpfen. Von einer symmetrischen Geldpolitik, die sich Regeln unterwirft und strikt das Ziel der Preisstabilität verfolgt, ist nichts zu sehen. Abermals steht in Amerika die kurzfristige Konjunkturstimulierung im Vordergrund.
Die zweite Lektion betrifft die Regulierung der Banken: Wir brauchen nicht einfach mehr, sondern eine bessere Regulierung und mehr Transparenz. Vor allem muss es künftig deutlich höhere Anforderungen an das haftende Eigenkapital der Banken geben. Wer die Chance auf Gewinn haben will, muss auch bei Misserfolgen die Konsequenzen tragen. Durch geeignete Insolvenzordnungen müssen Banken der Disziplin des Marktes unterworfen werden und sich ihre Risiken in höheren Finanzierungskosten ausdrücken. Die Stärkung der privaten Haftung ist der einzige anreizkompatible Weg der Regulierung, der eine Einmischung des Staates in die Geschäfts- und Kreditpolitik der Banken vermeidet, aber ebenso künftige Erpressung durch quasi-bankrotte Banken.
Wenn diese Reformen greifen würden, ergäben sie eine ordnungspolitische Revolution: Die Ohnmacht des Staates, der sich in der Not zur Rettung gezwungen sieht, würde zur tatsächlichen Stärke, die Hilfegesuche abzulehnen und private Finanzhasardeure nicht mit Steuergeld zu stützen.
Die heute viel gescholtenen neoliberalen Ökonomen haben schon vor siebzig Jahren, als Reaktion auf die damalige Wirtschaftskrise, ganz ähnliche Gedanken formuliert. Ihr Ansatz für eine echte Wettbewerbsordnung ist unverändert aktuell. Und sie widersprechen dem populären und politisch gezeichneten Zerrbild des historischen Neoliberalismus. Keinesfalls huldigte dieser einem regellosen „Laissez-faire“; zumindest auf die frühen Neoliberalen trifft das Gegenteil zu. Sie plädierten für einen starken Staat, der Regeln für den Wettbewerb setzt und durchsetzt. Die historischen Neoliberalen suchten, nachdem in den frühen dreißiger Jahren „der Kapitalismus“ in Verruf geraten war, nach einem modifizierten wirtschaftsliberalen Ansatz.
„Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da wo er hingehört“, erklärte Alexander Rüstow, später Mitstreiter von Ludwig Erhard. Sein Vortrag 1932 vor der Ökonomenorganisation Verein für Socialpolitik gilt als die Geburtsstunde des deutschen Neoliberalismus. Er kritisierte das Ausgreifen des Staates über die Grenzen des Regelsetzens, das Eindringen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche, die Interventionen, Subventionen und Hilfsmaßnahmen. All dies sei kein „Zeichen übermäßiger Stärke des Staates“, sondern „das genaue Gegenteil davon: nicht Staatsmacht, sondern Staatsohnmacht. Es ist Zeichen unwürdigster und jämmerlichster Schwäche.“ Der Staat werde nun von den Interessengruppen ausgenommen. „Jeder Interessent reißt sich ein Stück Staatsmacht heraus und schlachtet es für seine Zwecke aus“, warnte Rüstow.
Walter Eucken, der Kopf der Freiburger Schule, fand zur selben Zeit eine ganz ähnliche Position. Er beklagte einen Verflechtungsprozess von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, der seit dem neunzehnten Jahrhundert zu beobachten sei. Der in den Wirtschaftsablauf intervenierende post-liberale Staat rufe die politische Aktivität der betroffenen Gruppen hervor und werde in der Folge von organisierten Interessen okkupiert. Der Staat werde zur Beute der Lobbygruppen. In erster Linie richteten sich die Klagen dieser frühen Neoliberalen gegen Interventionen, die den Strukturwandel der Wirtschaft aufzuhalten versuchten; sie können aber auch auf die Strukturverzerrungen angewandt werden, die durch implizite staatliche Garantien etwa im Finanzsektor entstehen. Die Lobbymacht der Banken ist besonders stark – und ihr gegenüber erscheint der genötigte Retter Staat besonders schwach.
Ein fragwürdiges Keynes-Revival
Neben der Bankenrettung hat die staatliche Konjunkturstimulierung in der Krise ein ungekanntes Ausmaß erreicht. Im Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, fielen die Investoren zunächst in Schockstarre. Die Wirtschaftsleistung, zuvor durch kreditfinanzierten Überkonsum und Überinvestition angeregt, brach ein. Damit war jener Moment gekommen, in dem John Maynard Keynes, der britische Krisenökonom (1883 - 1946), staatliche Ausgabenprogramme empfahl. Die Unsicherheit über die Zukunft war so groß, dass ein staatlicher Impuls notwendig schien, um wieder Vertrauen zu schaffen, damit die Wirtschaft nicht ins Bodenlose fallen würde. Schon vor Keynes haben (neo-)liberale Ökonomen für besonders schwere Krisen, wenn eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale drohe, konjunkturstimulierende Maßnahmen empfohlen. Wilhelm Röpke empfahl 1930/1931 eine staatliche „Initialzündung“, um die darniederliegende Wirtschaft wieder anzukurbeln. Allerdings war für Röpke klar, dass staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme nur in absoluten Ausnahmezuständen gerechtfertigt seien. Doch nicht diese maßvolle, sondern die radikalere Version von Keynes wurde populär.
Als der Keynesianismus nach dem Zweiten Weltkrieg fast die ganze Volkswirtschaftslehre sowie die Wirtschaftspolitik der angelsächsischen, später auch kontinentaleuropäischen Länder erfasste, simplifizierten und vulgarisierten Keynes’ Anhänger die Lehre ganz erheblich. Aus dem Rat, in absoluten Krisen mit kreditfinanzierten Ausgabenprogrammen die Wirtschaft anzuschieben, wurde in der Praxis ein dauerhaftes „deficit spending“ und zudem eine expansive Geldpolitik, um die Arbeitslosigkeit auf ein Minimum zu drücken. Auch bürgerliche Politiker hingen dem an. Präsident Richard Nixon etwa kündigte 1971 eine „Vollbeschäftigungsfiskalpolitik“ mit den Worten an: „Ich bin jetzt ein Keynesianer“.
Doch die Praxis der staatlich induzierten Nachfragebelebung endete im Desaster der Stagflation (stagnierende Wirtschaft bei steigender Inflation): Die Wirtschaft antizipierte die zusätzlichen Staatsausgaben und erhöhte schlicht die Preise; statt mehr Wachstum war mehr Inflation die Folge. Die Arbeitslosigkeit stieg nach dem Ölpreisschock, dagegen kamen immer neue fiskalische Impulse nicht an. Die Wirtschaft stagnierte, einzig die Inflation und die Schulden stiegen. Konjunkturpolitik wirkte wie ein Rauschmittel, das in immer größeren Dosen konsumiert wird: Erst stimuliert es kurzfristig, doch langfristig macht die Einnahme süchtig und ist extrem ungesund. Nach dieser Erfahrung der siebziger Jahre schien der Keynesiamus diskreditiert.
Nun ist der Geist des Keynesianismus erneut aus der Flasche gekrochen. Zumindest unter ernsthaften Ökonomen bleibt die Effektivität der Konjunkturpakete aber stark umstritten. Das Geheimnis der keynesianischen Ökonomie, das die staatlichen Konjunkturpakete in ihren Augen so attraktiv macht, ist der erhoffte Multiplikatoreffekt: Für jeden Dollar, den der Staat zusätzlich ausgibt, soll die Wirtschaftsleistung um deutlich mehr als einen Dollar steigen, weil die Unternehmen und Arbeitnehmer, die das Geld erhalten, ihrerseits Ausgaben tätigen und weitere Geschäfte anregen. Ein Multiplikator zum Beispiel von 5 hieße, dass der Staat 1 Euro in die Volkswirtschaft reinsteckt und damit 5 Euro Wirtschaftsleistung anregt, durch zusätzlichen privaten Konsum und mehr Investitionen. Die frühen Anhänger von Keynes glaubten tatsächlich an so gewaltige Multiplikatoren.
Nach den Enttäuschungen der siebziger Jahre wurde man bescheidener. Immerhin noch einen Multiplikator von 1,6 errechneten die amerikanischen Regierungsberater Christina Romer und Jared Bernstein 2009 für das 800 Milliarden Dollar schwere Konjunkturpaket der Vereinigten Staaten. Das hieße, dass die staatlichen Ausgaben fast 1,3 Billionen Dollar Wirtschaftsleistung anregen würden. Präsident Obama sprach von mehreren Millionen Arbeitsplätzen, die mit dem Programm „geschaffen oder gesichert“ würden. Wenn aber der Ausgabenmultiplikator unter 1 läge, würde der staatliche Impuls weniger Wirtschaftsleistung anschieben als er kostet. Die ganze Aktion wäre ein eklatantes Verlustgeschäft für die Steuerzahler. Genau dies legen aber neuere Studien zur Wirkung der jüngsten Konjunkturpakete nahe.
Zur Berechnung der Wirkung der europäischen Konjunkturpakete haben die Ökonomen Volker Wieland und Tobias Cwik von der Universität Frankfurt fünf unterschiedliche makroökonomische Modelle benutzt. Es sind allesamt Modelle, die (neo-)keynesianische Eigenschaften haben, vor allem Preis- und Lohnrigiditäten. Ihr ernüchterndes Ergebnis: Vier der fünf Modelle ergaben einen Multiplikatorwerte von weniger als 1. Nur ein Modell, das erwartungsgetriebene Verhaltensänderungen von Konsumenten und Unternehmen weitgehend ausblendet, brachte einen Multiplikator knapp darüber.
Nach diesen Berechnungen erscheint es wahrscheinlich, dass die Konjunkturprogramme insgesamt mehr gekostet als gebracht haben. Die geringe konjunkturelle Wirkung liegt vor allem an den Reaktionen der privaten Haushalte und Unternehmen, die der Absicht des Ausgabenprogramms entgegenlaufen. Weil die Bürger erwarten, künftig höhere Steuern zahlen zu müssen, um die Staatsschulden zu bedienen, schränken sie ihre Konsumausgaben ein. Hinzu kommt, dass bei höheren Finanzierungskosten durch höhere Zinsen die Unternehmen weniger investieren. Staatliche Ausgaben verdrängen somit privaten Konsum und private Investitionen („crowding out“).
Fragwürdig ist auch, ob mit direkten Staatsausgaben, zum Beispiel für Infrastrukturprojekte, eine bessere und vor allem anti-zyklische Wirkung erzielt werden kann. Bauinvestitionen, Straßen und Brücken sind Investitionen, die einen längerfristigen Nutzen stiften. Allerdings haben sie den Nachteil, dass sie nur mit einer Zeitverzögerung angestoßen werden können. Nimmt man die Reaktionsfrist der Regierung hinzu, bis sie die Rezession erkennt und Bauprojekte beschließt und dann tatsächlich beginnt, ergibt sich eine kritische Verspätung von mehrere Quartalen. Sie führt dazu, dass die konjunkturpolitischen Maßnahmen oft gar nicht mehr anti-zyklisch wirken. Sie setzen nicht im Abschwung ein, sondern erst in der Erholung und wirken somit pro-zyklisch, verstärken den Konjunkturzyklus, statt ihn zu glätten.
Das lässt sich empirisch auch in der jüngsten Rezession nachweisen. Sie begann im Euro-Raum schon im Januar 2008, wie die CEPR-Statistiken in der Rückschau ergaben, was damals aber noch nicht klar war. Dass sich die Wirtschaft in der Rezession befand, wurde allgemein erst im Spätsommer 2008 erkannt. Die großen Konjunkturpakete wurden Ende 2008 und Anfang 2009 verabschiedet. Ein Großteil der damit beschlossenen Projekte wurde aber erst 2010 verwirklicht. Die Baugeräte rollten erst, als die Rezession schon geendet hatte. Insgesamt haben die elf wichtigsten europäischen Staaten Konjunkturpakete beschlossen, die fast 100 Milliarden Euro im Jahr 2009 und 80 Milliarden Euro im Jahr 2010 umfassen. Das war jeweils rund 1 Prozent des BIP. Ihre Wirkung sollte dennoch nicht überschätzt werden, wogegen die Schulden dauerhaft bleiben.
Eine besondere Vergünstigung erhielt 2009 die Autoindustrie. Um sie in der Krise zu stützen, zahlte der Staat Abwrackprämien für das Verschrotten eines Altwagens beim Kauf eines Neuwagens. In Deutschland betrug die Prämie 2500 Euro, damit wurde der Absatz von mehr als 1,7 Millionen Autos, vor allem Kleinwagen, subventioniert. Insgesamt kostete die Förderung den Steuerzahler fast 5 Milliarden Euro. Die Autoindustrie jubelte über den Stimulus, doch Ökonomen erkannten darin lediglich ein Strohfeuer. Denn viele Käufer hatten wegen der staatlichen Prämie einfach einen geplanten Autokauf vorgezogen. Nach dem Ende der Prämie fiel der Absatz entsprechend schwächer aus. Eine Studie über die amerikanische Abwrackprämie (im Volksmund„Cash for Clunkers“, das Programm kostete rund 2,9 Milliarden Dollar) hat gezeigt, dass der Effekt der Prämie nach bloß acht Monaten komplett verpufft war. Der Nettoeffekt für die Branche war also längerfristig gleich Null – der Staat und die Steuerzahler blieben aber auf zusätzlicher Verschuldung in Milliardenhöhe sitzen.
Schon während der Rezession waren die kritischen Stimmen nicht völlig verstummt, die von keynesianischer Politik keine Wunder erwarten. In Amerika protestierten 200 Ökonomen, darunter die Nobelpreisträger James Buchanan, Vernon Smith und Edward Prescott in Anzeigen gegen den Ausgabenrausch der Regierung Obama. Sie erinnerten an das Schicksal Japans: Immer mehr Staatsausgaben konnten dort das „verlorene Jahrzehnt“ in den neunziger Jahren nicht verhindern. Die japanische Regierung legte damals fast ein Dutzend Konjunkturprogramme auf, die Wirtschaft belebte sich aber nicht. Einzig die Baukonzerne profitierten, die noch die letzten Küstenstreifen mit Straßen zubetonierten und Tunnel und Brücken bauten. Japans Nettoschuldenposition verschlechterte sich von rund 20 auf 120 Prozent des BIP, die Bruttoverschuldung stieg über 200 Prozent des BIP. Noch schafft es der japanische Staat, seine gering verzinsten Anleihen im Inland, bei der staatlichen Postbank und Pensionsfonds unterzubringen. Doch schon bald wird er sich auch auf dem internationalen Kapitalmarkt finanzieren müssen. Dann wird der Schuldendienst extrem belastend.
Die große Finanz- und Wirtschaftskrise war ein Turbo für die öffentliche Schuldenzunahme. Niemals zuvor in Friedenszeiten sind die öffentlichen Schulden so rasend schnell gestiegen; Harvard-Historiker Ferguson verglich die finanziellen Auswirkungen der Krise gar mit denen eines Weltkriegs. Im Durchschnitt sind die Industrieländer nun mit rund 100 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung verschuldet: Japan hält den traurigen Rekord, die Vereinigten Staaten liegen bei rund 100 Prozent, Großbritannien und Frankreich über 85 Prozent, Italien bei fast 120 Prozent Schuldenquote. Deutschland kann sich bei 75 Prozent stabilisieren (inklusive der Bad-Bank-Schulden sind es fast 80 Prozent), Österreich knapp darunter bei 72 Prozent. Im Durchschnitt des Euro-Raums ist die Schuldenquote nach der Prognose der EU-Kommission von 66 Prozent im Jahr 2007 auf 86,5 Prozent im Jahr 2011 geklettert.
Derart hohe Schuldenstände sind Gift für künftiges Wirtschaftswachstum. Sie nähern sich dem kritischen Schwellenwert von 90 Prozent des BIP, ab dem die Wirtschaft deutlich geschwächt wird, wie Carmen Reinhart von der University of Maryland und ihr Harvard-Kollege Kenneth Rogoff empirisch ermittelt haben. Bei 90 Prozent Schuldenquote ist das Wachstum im Mittel um etwa 1 Prozentpunkt niedriger. Für Schwellenländer liegt die kritische Marke schon bei 60 Prozent. Die Volkswirtschaften schleppen dann zu große Schulden mit sich; hohe Steuern dämpfen die Investitionen, das Produktivitätswachstum schwächt sich ab. Nach einer Studie von IWF-Ökonomen bremst eine Zunahme der Staatsschuld um 10 Prozentpunkte das Wirtschaftswachstum um 0,2 Prozentpunkte, bei sehr hohen Schuldenständen nimmt der Bremseffekt überproportional zu.
Die offiziell ausgewiesenen, expliziten Schulden sind nicht die ganze Wahrheit. Hinzu kommen in allen Staaten mit umlagefinanzierten Sozialsystemen weitere, noch größere implizite Schulden. Darunter fallen alle Verpflichtungen aus den Rentenversicherungen, die Pensionszusagen an die Beamten sowie die stetig steigenden Sozial- und Gesundheitskosten, die über staatliche Versicherungen finanziert werden. In Deutschland beträgt die explizite Staatsschuld inklusive Bad-Bank-Schulden rund 2 Billionen Euro – also knapp 80 Prozent des BIP. Hinzu kommt laut Schätzung des Sachverständigenrats ein verdeckter Schuldenberg von 270 Prozent des BIP. Das wären aktuell mehr als 6 Billionen Euro. Schulden in Sozialsystemen zu verstecken, erscheint als bequemer Weg, um Kosten in die Zukunft zu verschieben.
„Fiskalischer Kindesmissbrauch“ nennt es der amerikanische Ökonom Lawrence Kotlikoff, der als einer der Ersten auf das Problem der verdeckten Schulden hingewiesen und sogenannte Generationenbilanzen und Nachhaltigkeitslücken ausgerechnet hat. Einer schrumpfenden Zahl von künftigen Beitragszahlern stehen die wachsenden Ansprüche der Transferempfänger in einer alternden Gesellschaft gegenüber. Unterbleiben drastische Reformen der Renten-, Sozial- und Gesundheitssysteme, dann werden die impliziten Schuldenberge nach und nach als Defizite sichtbar. Was für ein Schulden-Himalaya sich auftürmen könnte, hat die Ratingagentur Standard & Poor’s in einer Studie zu quantifizieren versucht. In den meisten entwickelten Staaten würden die Schuldenquoten bis zum Jahr 2050 theoretisch auf 300 Prozent des BIP steigen – völlig untragbare Lasten. Bevor es aber soweit kommt, wären die Staaten längst finanziell zusammengebrochen.
Stimulieren um jeden Preis
Schon die „große Rettung“ des Jahres 2009 hat die meisten Staaten völlig erschöpft. Ihre Reserven sind verausgabt, ihr künftiger Handlungsspielraum gering. Nun müsste das Ruder entschlossen herumgerissen werden. Statt Stimulus ist Sparen angesagt. Auch in Vereinigten Staaten wäre eine entschlossene fiskalische Bremsung notwendig, doch sind dort die Regierung und die Opposition über diese Frage tief zerstritten. Dort hoffen einige, die Schuldenquoten durch Wachstum reduzieren zu können. Diese Hoffnung kann aber trügen. Hohe Wachstumsraten weisen die Schwellenländer auf, die von der Krise kaum berührt waren. Deutschland profitiert mit seinem großen Exportsektor vom asiatischen Aufschwung, daher das Wachstum von 3,6 Prozent im Jahr 2010. Die deutsche Erholung sowie das osteuropäische Wachstum strahlen auf Mitteleuropa ab. Österreich erreichte 2 Prozent Wachstum erreichte und lag damit deutlich über dem Euro-Durchschnitt.
Die meisten westlichen Industrieländer sowie die Volkswirtschaften der Euro-Peripherie schleppen sich aber nur mühsam aus der Krise. Sie müssen sich schmerzhaft umorientieren. Verzerrte Wirtschaftsstrukturen mit aufgeblähtem Finanzsektor oder überdimensioniertem Bausektor gibt es in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Irland sowie in Spanien. Das Potentialwachstum dieser Länder ist für absehbare Zeit gedämpft, da die Finanzsektor- und Immobilienkrisen nachwirken. Bevor die Wirtschaft wieder stärker wächst und die Arbeitslosigkeit signifikant sinken kann, müssen sie sich strukturell neu ordnen. Einige Bereiche müssen „gesundschrumpfen“. In den Jahren des kreditgetriebenen Booms sind in Amerika viele Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut und stattdessen höher bezahlte Jobs in (Finanz-)Dienstleistungssektor geschaffen worden. Das vermeintliche Produktivitätswunder hat das nominelle BIP aufgebläht, war aber nicht nachhaltig.
Gegen den schmerzhaften Prozess der Anpassung und Rückbildung sträuben sich mächtige Interessengruppen und Wählerschaften. Wird versucht, mit immer weiteren fiskal- oder geldpolitischen Stimuli eine Rückkehr zum alten, aufgeblähten Wachstumspfad zu erzwingen, wie dies die amerikanische Regierung und Zentralbank tun, läuft die Politik ins Leere. Sie hinterlassen einen wachsenden Schuldenberg und legen die Saat für Inflation.
Damit könnte sich die Erfahrung der siebziger Jahre wiederholen, die der zypriotische Ökonom Athanasios Orphanides, heute EZB-Ratsmitglied, analysiert hat. Auch damals überschätzten einige Zentralbanker die „Output-Lücke“ und unterschätzten folglich die „natürliche“, also strukturelle Arbeitslosenquote. Sie schossen aus vollen Rohren mit billigem Geld, um die Wirtschaft nach der Ölpreiskrise anzufeuern. Die Folge war aber nicht mehr Wachstum, sondern anziehende Inflationsraten.
Angesichts der ungebremsten Liquiditätsschwemme der Fed und der hohen amerikanischen Staatsverschuldung, die schon mehr als 14 Billionen Dollar beträgt, erscheint auf längere Sicht die Position des Dollar nicht mehr gesichert. China, der Hauptgläubiger der Vereinigten Staaten, macht sich Gedanken, wie es seine Devisenreserven (fast 2 Billionen Dollar) besser diversifizieren könnte. Davon könnte der Euro profitieren, wenn die europäische Gemeinschaftswährung nicht gerade selbst eine tiefe Krise durchliefe.
Die Währungsunion in der Zerreißprobe
Das Beben der Finanzkrise hat in der dritten Welle zu extrem hohen Staatsdefiziten geführt und in Europa schonungslos die Schwachstellen der Währungsunion offengelegt. Nach gut zehn Jahren Schönwetterperiode, in der die Währungsunion trotz Regelverstößen recht gut zu funktionieren schien, ist sie in einen Sturm geraten, der sie zu zerreißen droht. Schon vor der Festschreibung der Wechselkurse 1999 und der Einführung des Euro gab es zahlreiche Warnungen: Ein gemeinsames Währungsdach für Volkswirtschaften mit unterschiedlicher Wettbewerbskraft kann zu Spannungen führen. Der Euro-Raum ist kein „optimaler Währungsraum“, denn für eine gemeinsame Währung sind die Volkswirtschaften zu heterogen, die (Arbeits-)Märkte zu inflexibel und die Faktormobilität zu gering, um exogene Schocks auszugleichen. Ein grundlegender Irrtum der europäischen Politik war, in der Währungsunion auf eine immer weitere Konvergenz der Volkswirtschaften zu hoffen. Das Gegenteil trat ein: Nach 1999 gab es keine Konvergenz zu beobachten, sondern ein Auseinanderdriften, was die Wettbewerbsfähigkeit angeht. Das zeigte sich in den Leistungsbilanzen.
Die Südeuropäer erlebten zunächst eine Sonderkonjunktur, getrieben durch den EZB-Einheitsleitzins. Für Deutschland und Österreich, die mit niedrigen Inflationsraten in die Währungsunion gingen, war der EZB-Leitzins real zu hoch. Für die Peripherie, die höhere Inflationsraten hatten, war er zu niedrig. Die realen Zinsen lagen dort über Jahre im negativen Bereich. Dies war eine ungeheure Verlockung zur Verschuldung, die Kreditvolumina wuchsen rapide. In Spanien und Irland kam es zu Baubooms, der plötzliche scheinbare Reichtum heizte den Konsum an. Insgesamt leisteten sich die Südländer, die allgemein stärkere, kampfbereite Gewerkschaften haben, übermäßig hohe Lohnzuwachsraten, die nicht von der Arbeitsproduktivität gedeckt waren. Die Lohnstückkosten in Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Irland stiegen gegenüber der Vor-Euro-Zeit um rund ein Drittel, in gleichem Maß sank ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit.
Daraus folgten stark steigende Leistungsbilanzdefizite in den „Piigs“-Staaten und steigende Auslandsverschuldung, die in Finanzkrisen besonders gefährlich werden kann. In Griechenland wuchs das Leistungsbilanzdefizit 2009 auf extrem hohe 14 Prozent des BIP, Portugal kam auf mehr als 10 Prozent, Spanien auf 5,5 Prozent und Italien und Irland auf mehr als 3 Prozent des BIP. Griechenland und Portugal hatten auch ihren schwerfälligen öffentlichen Dienst erheblich ausgeweitet, die Ausgaben für die vom Staat Beschäftigten verdoppelten sich in einem Jahrzehnt. In jeder Hinsicht lebten diese Länder über ihre Verhältnisse. Zunächst konnte der Überkonsum durch Kapitalzuflüsse aus dem Norden und die drastisch sinkenden Zinsen finanziert werden. Als mit der Finanzkrise die Kapitalmärkte plötzlich die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung misstrauischer beobachteten, verlangten sie von den „Piigs“-Staaten schlagartig höhere Risikoprämien.
Konnten die südeuropäischen Länder vor dem Euro noch ihre Währungen abwerten, um ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, ist dieser Ausweg nun versperrt. Statt Wechselkursabwertung droht Zahlungsunfähigkeit – was die Gläubiger, allen voran französische und deutsche Banken, schwer getroffen hätte. Hinter den Kulissen drohten die Banken der Politik mit einer möglichen Kettenreaktion im Finanzsystem, falls die Anleihen von Griechenland oder anderen Peripherie-Staaten ausfielen. So wurde abermals eine Rettung mit Steuergeld erpresst. Eigentlich schloss der Maastricht-Vertrag einen „Bail out“ aus. Es hieß klar, dass die Teilnehmer der Währungsunion nicht für die Schulden anderer Mitglieder haften. Doch dieser Grundsatz wurde über Bord geworfen. Die solideren Mitglieder der Eurozone, allen voran Deutschland, haften nun für die Schulden der Peripherie.
Als sich die Schuldenkrise zuzuspitzen begann, hatte der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing noch eindringlich vor einer Verletzung der „No bail out“-Klausel gewarnt. Wer diesen Grundsatz aufweiche, der lege „die Axt an den stabilitätspolitischen Rahmen der Währungsunion“. Dass jeder Staat für seine eigenen Schulden und Defizite hafte, sei entscheidend für die finanzpolitische Disziplin. „Ohne das gäbe es kein Halten mehr“, warnte Issing. Im Mai 2010 gab es kein Halten mehr. Die Regierungen der Euro-Länder, die EU-Kommission und der IWF richteten eine Kreditlinie von 110 Milliarden Euro für Griechenland und dann einen Rettungsfonds mit 750 Milliarden Euro für sämtliche finanzschwachen Euro-Länder ein. 2013 soll an seine Stelle der European Stability Mechanism (ESM) treten, der sogar nominal 700 Milliarden Euro Volumen haben soll. Entsprechend der EZB-Kapitalquoten gibt Deutschland den Löwenanteil von maximal 168 Milliarden Euro Garantien und leistet von 2013 an schrittweise eine Bareinlage von fast 22 Milliarden Euro, Österreich haftet für bis zu 17,3 Milliarden Euro mit zahlt 2,2 Milliarden Euro in die unverzinste Bareinlage.
Aus der Währungsunion droht damit eine Transferunion zu werden. Die Gefahr, dass der Euro zur Haftungsgemeinschaft mutiert, haben Kritiker, etwa der Tübinger Ökonom Joachim Starbatty, von Anfang an vorausgesagt. Die Mehrheit der deutschen Wirtschaftsprofessoren stand den Plänen für eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) in den neunziger Jahren skeptisch bis ablehnend gegenüber. Doch ihre Vorbehalte wurden ignoriert. Denn der Euro war in erster Linie ein politisches, kein ökonomisches Projekt. Frankreich forderte von Deutschland die Aufgabe der D-Mark als Preis für die Wiedervereinigung. Die ökonomischen Begründungen der angeblichen Vorteilhaftigkeit einer gemeinsamen Währung wurden nachgeschoben.
Ein Damm gegen unsolide Fiskalpolitik sollte der Stabilitätspakt sein, der aber in den Jahren 2003 bis 2005 von Deutschland und Frankreich gemeinsam aufgeweicht wurde. Nun soll der Pakt zwar verschärft werden. Es bleibt aber dabei, dass es bei überhöhten Defiziten keinen Sanktionsautomatismus gibt. Der Prozess bleibt politisiert, weiterhin richten potentielle Sünder über aktuelle Sünder. Unter diesen Bedingungen wirken Sanktionsdrohungen nicht glaubwürdig. Auf die schiefe Bahn zur Vergemeinschaftung von Altschulden führte auch die Diskussion über Euro-Bonds, die von besonders integrationseifrigen Regierungen und der Kommission gefordert werden. Gemeinsame Anleihen würde den schlechten Schuldnern eine Entlastung auf Kosten der relativ guten Schuldner wie Deutschland und Österreich bringen. Dass der ESM künftig Anleihen finanzschwacher Euro-Staaten ankaufen darf, führt die Euro-Bonds durch die Hintertür ein.
Statt einer Vergemeinschaftung von Schulden empfehlen die meisten Ökonomen eine Insolvenzregel für Staaten. Griechenland, das bald 160 Prozent Schuldenquote hat, sollte eine Umschuldung gewährt werden. Damit gäbe es eine Beteiligung der Gläubiger an der Sanierung der Staatsfinanzen. Zumindest müssten EU-Hilfskredite aus Steuermitteln mit einem Schuldenmoratorium in Form einer Verlängerung der Laufzeiten verbunden werden. Die Anleger, die hochrentierende Piigs-Anleihen gekauft haben, würden dann wenigsten einen Teil der Risiken tragen, statt sie komplett auf die europäischen Steuerzahler abzuwälzen. Eine solche Regelung würde disziplinierend wirken, weil sie künftige übermäßige Schuldenmacherei bremst.
Wenn jedoch der Eindruck entsteht, dass die Steuerzahler der solideren Länder, allen voran Deutschland, die Niederlande und Österreich, die Zahlmeister der EU sind, wird die Akzeptanz der EU beschädigt. Die Euro-Verdrossenheit hat in der Krise einen Höhepunkt erreicht. Nach den Allensbach-Umfragen haben in Deutschland fast zwei Drittel der Bürger wenig oder gar kein Vertrauen mehr in die EU. Ohnehin hat sich die Mehrzahl der Bürger nur widerwillig in das Euro-Experiment gefügt, das wie vieles in der EU ein Projekt der Politik-Eliten war. Auch diese sind nun ratlos. Die Kluft zwischen Politik und Bürger wird breiter. In einer Transferunion werden sich die Nettozahler ausgenutzt und getäuscht fühlen, zumal wenn offenkundige Statistikfälschung wie in Griechenland vorliegt. Finanzielle Spannungen können zu politischen Spannungen führen. Der Euro würde dann zum Sprengsatz für Europa werden. Eine solche Entwicklung hat der amerikanische Ökonom Martin Feldstein in einem vieldiskutierten Aufsatz schon vor Beginn des EWU-Experiments prophezeit.
Im „Haus Europa” sind die Risse seit 2010 nicht mehr zu übersehen. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, flüchtete sich die EU-Elite in eine martialische Rhetorik. Von einem „Angriffskrieg“ ominöser internationaler Spekulanten war die Rede, gegen den Frankreichs Präsident Sarkozy eine „Generalmobilmachung“ ankündigte. Er wolle „ohne Gnade die Spekulation bekämpfen“.Einige prominente und besonnene Ökonomen hatten die Courage, dem Unsinn zu widersprechen, etwa Otmar Issing, der frühere Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank. Er widersprach der „Mär von der Spekulation“ und fragte: „Ist es Spekulation zu nennen, wenn Pensionsfonds und Lebensversicherungen versuchen, griechische Anleihen abzustoßen, um Schaden von ihren Versicherten abzuwenden?“ Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe nennt den Verweis auf die „notorischen Spekulanten … eine Art Schadenszauber, weiß doch mittlerweile jedes Kind, dass die Probleme nicht auf Spekulation zurückzuführen sind, sondern nicht selten auf handfeste Misswirtschaft.“
Da die mitteleuropäischen Steuerzahler über die Rettungsorgie nicht begeistert waren, malten die EU-Eliten eine drohende Katastrophe an die Wand, wenn einzelne Mitglieder wegen Zahlungsschwierigkeiten die Währungsunion verlassen müssten. Auf den Wirtschaftshistoriker Plumpe wirkt diese Drohkulisse wenig überzeugend. Er erinnert daran, dass es schon die verschiedensten Währungsunionen in der Geschichte gab, die alle irgendwann auseinanderfielen. „Ihr Zerfall trat in der Regel ein, wenn die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Teilnehmerländern zu groß wurden, um eine gemeinsame Währung sinnvoll erscheinen zu lassen, oder wenn sich ein oder mehrere Teilnehmer nicht mehr an die vereinbarten Spielregeln hielten. Ihr Zerfall war bisher kaum je ein ökonomisches Desaster.“ Ein Desaster wäre es nur für die jene Europapolitiker und EU-Bürokraten, die den Euro als ökonomisches Treibmittel einer politischen Zentralisierung des Kontinents sahen. Dieses Unterfangen, das mit Euro-Krise einen herben Rückschlag erleidet, versuchen sie dennoch fortzusetzen.
Die schleichende Transformation der Währungsunion in eine Haftungsunion steht erst am Anfang. Flankierend fordert die französische Regierung seit Jahren eine „Wirtschaftsregierung“, wogegen die deutsche Kanzlerin einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ vorgeschlagen. Die Diskussion im Jahr 2010 drehte sich immer mehr um „makroökonomische Ungleichgewichte“, die es abzubauen gelte. Französische Politiker und Ökonomen plädierten für eine Art europäische Makro-Globalsteuerung, auch in Deutschland finden sich im linken Lager ein paar Fürsprecher dieser Idee. Wenn die Peripherie in den kommenden Jahren nicht wettbewerbsfähig wird, weil sie unter zu hohen Schulden leidet und zu geringe Innovationskraft hat, wird der Ruf nach Transferflüssen oder nach politischer Steuerung der Leistungsbilanzen immer lauter werden. Frankreich hat die zu geringen Lohnsteigerungen in Deutschland kritisiert. Die Forderung nach „Harmonisierung“ der Lohnpolitiken ist dabei nur der wenig kaschierte Versuch, die Produktionskosten des Konkurrenten zu erhöhen.
Die Schritte zu einer supranationalen, gemeinsamen Wirtschaftspolitik führen in jedem Fall zu mehr Vereinheitlichung. Durch mehr supranationale Vorgaben wird nicht nur die nationale demokratische Souveränität ausgehebelt. Eine zentralistische Politik nach dem Motto „one size fits all“ ist auch ökonomisch höchst fragwürdig in einem heterogenen Wirtschaftsraum. In der Geldpolitik hat es zu Verzerrungen und Fehllenkungen geführt. Die von Frankreich propagierte „Wirtschaftsregierung“ bedeutete im Extrem eine Gleichschaltung der länderspezifischen Fiskal-, Sozial-, Tarif-, Renten- und Bildungspolitiken. Dies würde die europäische Vielfalt planieren und in eine Sackgasse führen. Europa wäre nicht mehr Europa. Denn gerade die Vielfältigkeit hat, historisch gesehen, das Entdeckungsverfahren ermöglicht, das Europa zu einer einzigartigen und führenden Region in der Welt macht. Es war dieser produktive Systemwettbewerb, der das historische „Wunder Europas“ (Eric L. Jones) ermöglicht. Durch mehr zentralistische Planierung würde Europa nicht „fit“ für den globalen Wettbewerb, wie die Befürworter einer „Wirtschaftsregierung“ versprechen, sondern sein Wachstumspotential tendenziell gemindert.
Die tickende demographische Zeitbombe im „alten Kontinent“
Die Wachstumsaussichten sind ohnehin gedämpft: Kurz- und mittelfristig wegen der Folgen der Finanz- und Schuldenkrise, die strukturelle Veränderungen erzwingt. Mittel- bis längerfristig werden die Auswirkungen des demographischen Wandels immer schärfer zutage treten. Die Bezeichnung Europas als „alter Kontinent“ bekommt einen neuen, düsteren Sinn. Mit einer überalternden Bevölkerung geht Dynamik verloren. Jeder einzelne wird natürlich die Verlängerung der Lebenserwartung als Geschenk zusätzlicher Zeit sehen. Gesamtgesellschaftlich dürften die Konsequenzen stark überalternder Bevölkerungen und einer fehlgesteuerten Zuwanderung jedoch zu existentiellen Belastungsproben führen. Schon heute gibt es in Mitteleuropa mehr 65-Jährige als unter 20-Jährige. Vor allem im Zusammenspiel mit der Verschuldung wird die Herausforderung deutlich: Immer weniger Nachkommen müssen immer größere Lasten schultern.
Mitte der sechziger Jahre erreichte die Geburtenrate mit deutlich über 2 Kindern je Frau – der sogenannten Babyboomer-Generation – einen kurzen Höhepunkt. Als die Geburtenraten dann einbrachen, wurden die Konsequenzen zunächst verdrängt, eine Debatte sollte nicht stattfinden und wurde gar diffamiert. Bevölkerungswissenschaft galt nach den NS-Missbräuchen als anrüchig. Dennoch bleibt die Demographie eine zentrale Größe, die sich nicht aus Gründen vermeintlicher „political correctness“ ignorieren lässt. Bevölkerungsentwicklungen sind träge Phänomene, doch gewinnen sie an Fahrt, wenn ein Einbruch der Geburtenrate so lange anhält. Seit fast vierzig Jahren liegt sie nun bei etwa 1,4 Kindern je Frau. Das ist rund ein Drittel weniger als das bestandserhaltende Niveau. Im Klartext heißt das: Jede nachgeborene Generation wird um ein Drittel kleiner sein als ihre Elterngeneration. Dieser Prozess führt in eine sich selbst verstärkende demographische Abwärtsspirale.
Die absoluten Zahlen verdeutlichen die epochale Verschiebung. Im letzten Jahr des Babybooms 1964 kamen in Deutschland (West und Ost) rund 1,35 Millionen Kinder zur Welt, dann sank die Geburtenzahl um mehr als ein Drittel. Vordergründig wird dies als „Pillenknick“ bezeichnet. Als tiefere Gründe erscheinen ein kultureller und ideologischer Wandel, das Forcieren neuer, emanzipierter Frauenrollenbilder, die das Muttersein in den Hintergrund drängten, sowie die zunehmende Individualisierung und Auflösung der traditionellen Familienstrukturen, deren Aufgaben zum Teil der Sozialstaat übernahm. Ökonomisch kann der Verzicht auf Nachwuchs als Reaktion auf veränderte (Opportunitäts-)kosten der Erziehung der Kinder gedeutet werden, deren „Wert“ (emotional und materiell) geringer geachtet wird. Nicht zu unterschätzen ist auch der demographische Effekt des Sozialstaats: Während die Kosten der Kindererziehung weitgehend bei den Eltern liegen, wird ihr ökonomische „Nutzen“ sozialisiert, indem sie Rentenbeiträge ins Umlagesystem zahlen, aus dem auch die Renten der Kinderlosen finanziert werden.
Den bisherigen Tiefpunkt der Geburtenzahl markiert in Deutschland das Jahr 2009, als nur noch 651.000 Kinder zur Welt kamen. Innerhalb von 45 Jahren hat sich die Basis des Nachwuchses halbiert. In Österreich lag die Geburtenzahl im Höhepunkt 1963 bei fast 135.000, heute werden weniger als 77.000 Kinder im Jahr geboren. Dies ist ein Rückgang der Geburtenzahl um mehr als 40 Prozent in nicht einmal zwei Generationen. Noch stehen die Babyboomer mehrheitlich im Erwerbsleben, doch werden sie etwa zur Mitte des Jahrzehnts ausscheiden. In den kommenden Jahrzehnten wird die Alterung in eine beschleunigte Schrumpfung der Bevölkerung übergehen. Das Ausmaß der zu erwartenden Bevölkerungsverluste nennt der bekannte Bielefelder Biograph Herwig Birg vergleichbar mit denen im Dreißigjährigen Krieg, der die Einwohnerzahl um etwa ein Drittel dezimierte und ganze Landstriche in Mitteleuropa entvölkerte.
Zum Teil füllen Einwanderer und ihre Nachkommen die demographische Lücke, doch nicht vollständig. Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik von 82 Millionen auf 68 Millionen sinken, darunter sind nach der Berechnung von Birg dann rund 19 Millionen mit Migrationshintergrund. 2100 könnte die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik, wenn die demographischen Trends sich nicht drastisch ändern, auf 46 Millionen geschrumpft sein. Davon wären nur noch eine Minderheit von 21 Millionen ethnische Deutscher gegenüber einer Mehrheit von Zugewanderten und ihren Nachkommen.
Für Österreich ist eine noch schnellere Verschiebung der ethnischen Relationen anzunehmen. Nach der mittleren Schätzung von Statistik Austria wird die Bevölkerungszahl zwar bis 2050 von 8,4 auf 9,4 Millionen zunehmen, aber nicht wegen nennenswert steigender Geburtenzahlen, sondern als Folge einer erwarteten hohen Zuwanderung. Die autochthone österreicherische Bevölkerung schrumpft bis zur Jahrhundertmitte um 2 Millionen, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sinkt nach der Prognose von Vonach und Tagesen auf etwa 52 Prozent. Am stärksten sind die demographischen Verschiebungen in den Städten und in der jungen Bevölkerung. In Wien könnte der Migrantenanteil bei den unter 40-Jährigen schon zur Jahrhundertmitte auf 73 Prozent der Bevölkerung anwachsen.
Langfristige demographische Prognosen stehen unter dem Vorbehalt, dass künftige Trends sich ändern können. Doch die mittelfristige Bevölkerungsentwicklung ist unentrinnbar durch den Geburtenstreik der vergangenen vierzig Jahre determiniert. Der Kindermangel bedeutet künftigen Elternmangel. Europas Bevölkerung wird demnach in nie gekanntem Maße schrumpfen. Abgesehen davon, dass der Mangel an Nachwuchs starke Zweifel am kulturellen Überlebenswillen aufkommen lässt, verdüstert er die volkswirtschaftlichen Perspektiven. Schon in diesem Jahrzehnt, wenn die Babyboomer in Rente gehen, wird das Potential an qualifizierten und leistungsfähigen Arbeitskräften deutlich knapper. Zugleich steigt deren Belastung durch Beiträge in die Sozialsysteme und die Versorgung der zunehmenden Zahl von Älteren.
Heute kommen noch drei Erwerbstätige auf einen Rentner, in einer Generation dürften es weniger als zwei sein. Wegen der schrumpfenden Basis an Erwerbspersonen (bis 2035 in Deutschland um rund 5 Prozent, danach beschleunigt) ist mit schwächerem Wachstum zu rechnen. Das Schweizer Prognos-Institut schätzt, dass selbst im günstigsten Szenario mit einer steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen, Älteren und Migranten die Wachstumsrate bis 2035 im Durchschnitt nur noch 1 Prozent beträgt und zuletzt auf 0,6 Prozent sinken wird.
Der demographische Wandel, der seit einigen Jahrzehnten schleichend abläuft, ist träge und dennoch so wuchtig, dass er die bisherigen Gesellschaftsordnungen in eine Zerreißprobe führen wird. Es drohen Verteilungskonflikte: Junge gegen Ältere, Gesunde gegen Kranke, Einheimische gegen Migranten. Die finanziellen Ressourcen des Sozialstaates werden härter als je zuvor umkämpft sein. In der Demokratie, in der die Präferenzen des Median-Wählers entscheidend sind, droht eine beschleunigte Umverteilung. Die Zahl der Sozialleistungsbezieher, die ein Interesse am Ausbau der Umverteilung haben, steigt, während die Steuern und Abgaben zahlende erwerbstätige Mitte schrumpft. Schon heute gehören in Deutschland 42,4 Prozent der Wahlberechtigten zur Gruppe derer, die ihr Einkommen hauptsächlich vom Staat beziehen. Dazu zählen Rentner, Arbeitslose sowie Empfänger anderer Sozialleistungen. „Es fehlt also nicht mehr viel, bis jeder zweite Wahlberechtigte vom Staat alimentiert wird“, warnt das Institut der deutschen Wirtschaft.
Angesichts der demographischen Entwicklung ist der Zeitpunkt absehbar, an dem die Sozialleistungsbezieher die Mehrheit der Wahlberechtigten darstellen. Zwar sind Transferbezieher kein geschlossener Wählerblock, doch tendenziell eint sie ihr Interesse an einem stetigen Transferfluss. In Deutschland ist zu beobachten, dass neben den Arbeitslosen die Rentner eine zunehmende Wählergruppe der Linkspartei bilden, die sich gegen die Rentenreformen mit dem demographischen Ausgleichsfaktor und der Anpassung des Renteneintrittsalters stemmt. Als in der Rezession 2009 die Arbeitseinkommen sanken, wurden die Renten nicht entsprechend gekürzt, stattdessen beschloss die schwarz-rote Regierung eine „Rentengarantie“. Das Aufweichen der Regel erfolgte aus rein politischem Opportunismus.
Die mächtigsten Wählerbataillone sind künftig die Älteren, die Transfer- und Sozialleistungsbezieher. Dies fällt ins Gewicht, wenn über die Verteilung knapper Ressourcen, etwa für junge Familien, für Bildung oder für die Rentenempfänger, gestritten wird. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat den Begriff „Methusalem-Komplott“ geprägt, der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn warnte vor einer „Gerontokratie“. Nur die Abwanderungsdrohung der Jüngeren, der Steuer- und Abgabenzahler, kann den Zugriff des Sozialstaates auf ihre Einkommen bremsen. In den vergangenen Jahrzehnten hat der Staat die Wünsche der Wähler bedient, indem er sich zulasten kommender Generationen verschuldet hat. Während die Sozialausgabenquote des deutschen Staatshaushalts seit den siebziger Jahren stark ausgeweitet wurde und nun mehr ein Drittel des BIP beträgt, ist die Investitionsquote des Bundes unter 9 Prozent gesunken. Der Schwerpunkt der Ausgaben liegt also auf Sozialkonsum.
In der demographischen Falle erscheint der Staat, der ein umfassendes, aber nicht mehr finanzierbares soziales Sicherungsversprechen gegeben hat, nicht mehr souverän. Er hat Handlungsspielräume verloren. Er ist nicht mehr Gestalter einer sozialen Ordnung, sondern Getriebener von Interessengruppen. Um heutige Wählerinteressen zu bedienen, schmälert er Zukunftschancen. Immerhin hat Deutschland mit der Schuldenbremse einen finanzpolitischen Riegel gegen weiteres opportunistisches Schuldenmachen eingezogen. Von 2016 an muss der Bund und von 2020 an müssen die Länder mit nur noch minimaler struktureller Neuverschuldung auskommen. Solche Schuldenregeln sind der einzige Schutz der künftigen Generationen gegen eine Ausgabenpolitik zu ihren Lasten.
Die Lebenserwartung der Menschen in Mitteleuropa steigt seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Selbst nach konservativen Schätzungen könnte sie jedes Jahrzehnt um etwa weitere 2 Jahre zunehmen. Während das allein ein Grund zur Freude sein könnte, bringt das drastische Schrumpfen der jungen Generation die Gesellschaft aus der Balance. Um die politischen Kämpfe um Rentenanpassungen zu entschärfen, wäre eine Regel zur dynamischen Anpassung des Renteneintrittsalters notwendig. Die hinzukommenden Lebensjahre würden dann nach einem festen Verhältnis auf Arbeits- und Pensionszeit verteilt, etwa zwei Drittel zu ein Drittel. Analog zur Schuldenbremse wäre dies eine Selbstbindung der Politik gegen die Versuchung einer wahltaktisch motivierten, opportunistischen Rentenpolitik auf Kosten der kleiner werdenden jüngeren Generationen.
Ausländer rein – aber die richtigen
Auf dem Arbeitsmarkt wird sich schon Mitte des Jahrzehnts die Nachwuchsknappheit schmerzhaft bemerkbar machen. Die Babyboomer gehen in den Ruhestand, geburtenschwache Jahrgänge treten ins Erwerbsleben ein. Einige Branchen klagen schon heute über Fachkräftemangel. Eine stärkere Aktivierung von Älteren und Arbeitslosen kann die Knappheit lindern, doch nur zum Teil. Daher ist Zuwanderung notwendig, die aber in radikaler Weise neu zu steuern ist. Sie muss nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausgerichtet sein und darf zugleich die sozial-kulturelle Aufnahmefähigkeit nicht überschreiten. Skepsis ist angebracht, ob dies gelingt, denn gerade in der Einwanderungsfrage haben sich die westeuropäischen Staaten über Jahrzehnt konzeptlos und schwach gezeigt.
„Insgesamt muss hier von einem Politikversagen gesprochen werden“, urteilt der Bremer Migrationsforscher Stefan Luft. „Der demokratische Rechtsstaat ist nicht in der Lage gewesen, die sich dynamisch entwickelnde Zuwanderung – von der Gastarbeiteranwerbung über den Familiennachzug – wirkungsvoll zu begrenzen.“ Zunächst wurden vor allem Ungelernte ins Land geholt, danach ein ungesteuerter Zuzug geduldet, der zu einem erheblichen Teil in die Sozialsysteme ging. Insbesondere die Türkei, die 1961 auf ein eigenes Gastarbeiterabkommen mit Deutschland drang, hatte einen Anreiz, ihren Bevölkerungsüberschuss nach Westeuropa abzuschieben. Von 1962 bis 1973 gab es einen Nettozuzug von etwas mehr als 3 Millionen Menschen aus Südeuropa und der Türkei nach Deutschland.
Die Erwerbsquoten waren anfangs hoch, die Situation wandelte sich aber mit der Rezession Mitte der siebziger Jahre. Während die meisten Italiener, Spanier, Griechen und Jugoslawen, die arbeitslos wurden, in ihre Heimat zurückgingen, blieb der Großteil der Türken. Sie waren die einzige Ausländergruppe in Deutschland, deren Zahl trotz des Anwerbestopps von November 1973 und der steigenden Arbeitslosigkeit weiter wuchs. Die türkische Zuwanderung fand mehr und mehr über den Familiennachzug statt. In einer regelrechten Kettenwanderung siedelten halbe ostanatolische Dörfer in mitteleuropäische Großstädte um. Hinzu kam in den frühen neunziger Jahren ein anschwellender Strom von Asylbewerbern.
Der großzügige deutsche Sozialstaat wirkt dabei als „zweipoliger Zuwanderungsmagnet“, wie es der Chef des Münchner Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn formuliert. „Mit der einen Seite stößt er die reichen Nettozahler ab, und mit der anderen zieht er die armen Kostgänger des Staates an.“ Eine Studie seines Instituts hat für Migranten im Durchschnitt knapp 2370 Euro jährlich Nettogewinn durch staatliche Leistungen errechnet. Dazu gehören Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld, Mitversicherung von Angehörigen in der Krankenversicherung und die Nutzung öffentlicher Einrichtungen. Eine türkische Familie mit drei Kindern erhielt über zehn Jahren einen Nettotransfer des Sozialstaates von im Durchschnitt 118.350 Euro als „Wanderungsprämie“.Dieser Einwanderungsanreiz durch den Sozialstaat erklärt einen großen Teil der Fehlsteuerung der Migrationsströme.
„Von 1970 bis 2003 stieg die Zahl der Ausländer in Deutschland von 3 auf 7,3 Millionen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Ausländer blieb dagegen mit 1,8 Millionen konstant. Ein Großteil der Einwanderung nach Deutschland ging also am Arbeitsmarkt vorbei in das Sozialsystem“, stellt der FAZ-Herausgeber Holger Steltzner fest. Wer aber das „unkorrekte“ Tabuthema der Einwanderung in das Sozialsystem anspreche, müsse mit der Empörung der Wohlfahrtsanhänger rechnen. Inzwischen hat sich eine regelrechte Integrationsindustrie herausgebildet. Zu ihr gehört das Heer von Sozialarbeitern, Sozialverbänden und auch Kirchen, kommunalen Ausländerbeauftragten, Antidiskriminierungsstellen und multikulturellen Vereinen mit öffentlicher Förderung. Sie alle gehören zu den Stützen der Migrantenmilieus und haben versucht, Probleme mit der Sprachregulierung der „political correctness“ zu vertuschen.
Unbequeme Fakten zur Zuwanderung, die ein partielles Scheitern und hohe Kosten der Integration anzeigen, wurden viel zu lange tabuisiert. Verschweigen hilft aber nicht beim Lösen der Integrationsprobleme. Die Arbeitslosenquote von 18 Prozent der Ausländer in Deutschland übertrifft die gesamtdeutsche Quote von gut 7 Prozent um mehr als das Doppelte. In Österreich sind etwa 10 Prozent der Ausländer arbeitslos, zweieinhalbmal so viel wie unter den Einheimischen. Die Durchschnittswerte sind indes nur begrenzt aussagekräftig. Unter den westeuropäischen Ausländern ist die Arbeitslosenquote kaum höher als die der Einheimischen. Extrem hoch sind die Arbeitslosigkeit und Integrationsdefizite dagegen bei Zuwanderern aus dem arabischen und afrikanischen Raum sowie aus der Osttürkei, also aus Kulturkreisen, die dem europäischen fern stehen.
Von den in Deutschland lebenden Libanesen, die überwiegend als Asylanten kamen, beziehen ganze 90 Prozent Langzeitarbeitslosengeld (Hartz IV), wie die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen. Von den Irakern sind 65 Prozent, von den Afghanen 53 Prozent langzeitarbeitslos. Von den laut Statistik 1,65 Millionen türkischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik beziehen immerhin 26 Prozent Hartz IV. Deutlich besser schneiden Kroaten und Serben ab, deren Hartz-IV-Quote von 8 Prozent nur wenig über dem deutschen Durchschnitt liegt. Hauptgründe für die erheblich höhere Arbeitslosigkeit sind die schlechte Qualifikation und mangelnde Sparbeherrschung. 76,5 Prozent der nicht-deutschen Arbeitslosen haben laut Statistik keine Berufsausbildung, unter den deutschen Arbeitslosen waren es 36,8 Prozent.
Unübersehbar wachsen in den Großstädten migrantische Milieus, die weder integrationsfähig noch -willig sind. Eine verfehlte multikulturalistische Duldungspolitik hat dazu beigetragen. „Die Vision einer multikulturellen Gesellschaft, in der jede Herkunftsgruppe unbeeinflusst ihre Eigenart ausleben sollte, ließ echte Integration nie zu, sondern stärkte das Leben in jenen Parallelgesellschaften, in denen sich die Unterschichten der Großstädte konzentrieren“, heißt es in einer vielbeachteten Studie des politisch neutralen Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Nach dieser Studie unterscheiden sich Migranten unterschiedlicher Herkunftsregionen signifikant nach ihren Intergrationserfolgen und -misserfolgen. Am besten schnitten die aus Osteuropa gekommenen Spätaussiedler mit deutschen Wurzeln ab, die sich relativ problemlos einfügten. Mit Abstand am schlechtesten integriert ist die Gruppe mit türkischem Hintergrund.
In keiner anderen Herkunftsgruppe finden sich mehr Menschen ohne Bildungsabschluss (30 Prozent) und weniger mit Hochschulberechtigung (14 Prozent). In keiner Gruppe war zudem die Tendenz zur Vermischung durch bi-kulturelle Ehen so gering wie bei den Türkischstämmigen, die mit 2,5 Millionen (etwa 800.000 sind eingebürgert) die größte Einwanderergruppe in Deutschland ausmachen. Nur jeder zwanzigste Türkischstämmige heiratete einen deutschen Partner. Offenbar stellt der Islam eine zusätzliche Integrationsbarriere dar. Ehepartner holen türkische Familien gerne aus dem Heimatland. Der Zustrom der „Importbräute“, wie sie die deutsch-türkische Soziologin Necla Kelek bezeichnet, erschwert es in jeder Generation neu, Anschluss an die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu finden. Sprach- und Bildungsmängel werden von Generation zu Generation weitergegeben.
Von Europa nach Eurabia?
Mit der etwa doppelt so hohen Geburtenrate ist absehbar, dass der Anteil der türkischen und arabischen Migrantenpopulation exponentiell steigt. In manchen großstädtischen Vierteln wird er dominierend. In den Kindergärten und Schulen im Berliner Bezirk Neukölln, wo oftmals 90 Prozent einen nicht-deutschen Hintergrund haben, müssen sich faktisch die verbliebenen wenigen deutschen Jugendlichen integrieren. Aus Sicht der verbliebenen alternden einheimischen Bevölkerung sind diese Viertel überfremdet. Die sozialen Probleme vertreiben Eltern der Mittelschicht, übrig bleibt eine weitgehend perspektivlose Unterschicht. Viele Jahre galt Kritik an der ungesteuerten Zuwanderung als unanständig oder wurde als „ausländerfeindlich“ diffamiert. Nach Jahren des Verharmlosens und Beschönigens hat der Problemdruck indes so zugenommen, dass die Verheißung einer multikulturellen „Bereicherung“ der Alltagserfahrung immer weniger entspricht.
In dieser Situation wirkte das provokante Buch „Deutschland schafft sich ab“ des ehemaligen Berliner SPD-Finanzsenators und Bundesbankers Thilo Sarrazin wie ein Befreiungsschlag für eine offene Debatte über Migration und Integration. Die überwältigend zustimmende Reaktion aus der Bevölkerung gab es nicht für die umstrittenen erbbiologischen Thesen, sondern für den Mut, ohne Rücksicht auf „political correctness“ die Konsequenzen des demographischen Wandels, der ungesteuerten Zuwanderung und der mangelnden Integration zu diskutieren. Weitere kritische Stimmen haben sich in jüngster Zeit hervorgewagt. So nennt der amerikanische Journalist Christopher Caldwell, der mehr als ein Jahrzehnt an den Brennpunkten islamischer Migrantenmilieus recherchiert hat, die gegenwärtige demographisch-kulturelle Umwälzung eine „Revolution in Europa“, die ein soziales Pulverfass schafft.
Im Extremfall kann gescheiterte Integration zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Ende 2005 sind erstmals offene Unruhen in den französischen Banlieues ausgebrochen. Die betongrauen Sozialsiedlungen vieler Vorstädte, bewohnt überwiegend von nord- und schwarzafrikanischen sowie arabischen Einwanderern und ihren Kindern, sind Zonen der Perspektivlosigkeit. Die Arbeitslosenquote liegt bei 40 Prozent, viermal so hoch wie der nationale Durchschnittswert. Unter den Jugendlichen ist weit über die Mehrheit ohne Job. Im Oktober 2005 löste der Unfalltod zweier Jugendlicher wochenlange Brandtstiftungen und Kämpfe mit der Polizei aus. Im Gesamtjahr 2005 wurden knapp 30.000 Autos und 5700 Bushaltestellen angezündet. Der „Spiegel“ beschrieb die Unruhen als „Intifada vor den Toren der französischen Hauptstadt“.
Der „Aufruhr in Eurabia“ könnte ein Menetekel für die Zukunft sein. Tausende Polizisten standen zigtausend aufgebrachten arabischen und afrikanischen Jugendlichen gegenüber. Erst Notstandsmaßnahmen und Ausgangssperren stoppten die offene Gewalt, die Spannungen bestehen weiter. Von Anzeichen, dass auch in hiesigen Zuwanderervierteln brenzlig wird, berichtet die deutsche Polizeigewerkschaft. „Es gibt Straßenzüge in manchen Vierteln Berlins, Hamburgs, Duisburgs, Essens oder Kölns, in die sich Polizisten nicht mehr alleine hineintrauen“, sagt der Gewerkschaftschef Rainer Wendt. Bei Verhaftungen von türkischen oder arabischen Jungkriminellen komme es zu Zusammenrottungen. Es sei „bundesweit bekannt, dass diese Blitzmobilisierungen meist von jungen Männern mit türkischem oder arabischem Hintergrund ausgehen“ berichtet der Polizeigewerkschafter Wendt. „In solchen Vierteln wankt das staatliche Gewaltmonopol“.
Keine Zuwanderung mehr ins Sozialsystem
Über Jahre hat der Staat seine innere Schwäche durch die Zahlung von Sozialleistungen verdeckt und perspektivlose Zuwanderer auf diese Weise ruhigzustellen versucht. Das Alimentieren der Problemmilieus kann jedoch die Probleme noch verfestigen, da es den Druck zu eigener Anstrengung mindert. Wer das Abgleiten junger, geringqualifizierter Zuwanderer in Arbeits- und Perspektivlosigkeit verhindern will, muss früher und intensiver ihre Bildung fordern und fördern. Sanktionen für Integrationsverweigerer, die Kurse und Angebote nicht wahrnehmen, sollten selbstverständlich sein. Zwar haben jüngst die Regierungschefs Merkel, Sarkozy und Cameron „Multikulti“ für gescheitert erklärt, was als Wende in der Migrationsdebatte gesehen wurde, doch ist dieser Feststellung bislang wenig Konkretes gefolgt. Die deutsche „Leitkultur“-Debatte blieb weitgehend folgenlos. Allenfalls ist der Spracherwerb in den Fokus gerückt. Noch vor nicht allzu langer Zeit beklagten grüne Politiker die Anweisung zum Deutschsprechen auf dem Schulhof als „Zwangsgermanisierung“; solche Selbstverleugnungsverrenkungen sind vorbei.
Integration kann jedoch nur glücken, wenn die Umwelt im Viertel wie in der Schule noch von der Mehrheitskultur geprägt ist. Ist ein Viertel mehrheitlich von Migranten bewohnt, wird die Integration chancenlos. Die Politik schreckt dabei vor der Erkenntnis zurück, dass die Vergrößerung der zugewanderten Unterschicht zum Teil auch auf staatliche Sozialleistungen zurückzuführen ist. Gerade Geringverdienern setzen sie finanzielle Anreize zu einer höheren Reproduktion. Diese aber führt in einen Teufelskreis: Die Familien der Unterschicht haben mehr Kinder als in der Mittelschicht, die abwandert. Ihre materielle, Sprach- und Bildungsarmut wird weitergegeben. Das Problem der gering qualifizierten, oft arbeitslosen und desintegrierten Milieus verfestigt sich über die Generationen.
Der Bremer Soziologe und Demograph Gunnar Heinsohn hat in mehreren bemerkenswerten Aufsätzen an den sozialpolitischen Paradigmenwechsel der Amerikaner erinnert, der in den achtziger Jahren unter der Regierung Reagan begann und unter der Regierung von Bill Clinton vollendet wurde. Während in den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten ein dauerhafter Sozialhilfebezug für die Unterschicht möglich ist, hat man in den Vereinigten Staaten seit 1997 den bislang lebenslangen Anspruch auf fünf Jahre begrenzt. Sozialhilfe kann kein Lebensmodell sein, hieß Clintons Botschaft. Vorbereitet hatte diese Reform die Studie „Losing Ground“ des Politologen und Ökonomen Charles Murray. Seine brisante These: Obwohl die Ausgaben für Sozialhilfe seit den sechziger Jahren stark gestiegen waren, hatte dies die Armut nicht verringert, sondern die Zahl der Empfänger immer weiter erhöht, weil junge Frauen sich mit unehelichen Kindern auf Kosten von „Vater Staat“ durchbringen konnten. Mehr Geldangebote verlockten dazu, Kinder als Einnahmequelle zu sehen.
Daraus zog Clinton schließlich die Konsequenz für eine radikale Reform: den Übergang von „welfare“ zu „workfare“. Für körperlich gesunde Menschen gibt es nur noch fünf Jahre Sozialhilfe, da diese kein „way of life“ sein dürfe. Während die amerikanische Linke laut „Rassismus“ schrie, weil vorrangig schwarze Familien betroffen seien, und prophezeite, die Reform werde zur massenhaften Verelendung führen, trat das Gegenteil ein. Der Druck, sich auf dem Arbeitsmarkt selbst seinen Unterhalt zu verdienen, erwies sich als heilsam. Die Zahl der Neuanträge von „welfare mothers“ sank. In Deutschland hingegen wagt sich die politische Führung nicht an solche Reformen. „Während deutsche Frauen außerhalb von Hartz IV im Durchschnitt nur ein Kind haben und leistungsstarke Migrantinnen sich diesem Reproduktionsmuster nähern, vermehrt sich die vom Sozialstaat unterstützte Unterschicht stärker – mit allen Folgeproblemen“, warnt Heinsohn. „So sind in der Hartz-IV-Musterkommune Bremerhaven die Jungen in Sozialhilfe mit einem Anteil von rund 40 Prozent an der männlichen Jugend für mehr als 90 Prozent der Gewaltkriminalität verantwortlich.“
Zuwanderung ist kein Schicksal, sondern kann und muss gesteuert werden. Echte Einwanderungsländer wie Australien, Neuseeland oder Kanada machen es vor. Dort werden mit einem Punktesystem junge, intelligente und qualifizierte Zuwanderer ausgewählt. Wer Universitäts- oder Berufsausbildung sowie Sprachkenntnisse vorweisen kann, der erhält eine Einwanderungs- und Arbeitserlaubnis. Solche Zuwanderer bringen Nutzen für die Volkswirtschaft, sind leicht in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu integrieren und tatsächlich eine Bereicherung. Sie sollten mit offenen Armen empfangen werden. In Australien und Kanada ist diese Politik ein voller Erfolg gewesen. Ihre Zuwanderer, darunter ein hoher Anteil von Asiaten, weisen im Durchschnitt sogar ein höheres Bildungsniveau als die Einheimischen auf.
In Europa haben die Erfahrungen der ungesteuerten Zuwanderung von Geringqualifizierten die Bürger misstrauisch gemacht. Nach jahrzehntelangen Versäumnissen wäre es die richtige Konsequenz, die Migration in die Sozialsysteme zu stoppen und endlich Zuwanderer nach Bedarf und Qualifikation auszuwählen. Auch die Wirtschaft muss umzudenken. Sie hat Migranten als billige Arbeitskräfte angesehen; bei Arbeitslosigkeit oder Familiennachzug wollte sie die Kosten auf den Sozialstaat abwälzen. Gegen eine solche Zumutung muss sich ein selbstbewusster Staat verwahren. Zuwanderungsgewinne privatisieren und Zuwanderungskosten sozialisieren ist mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar.
Das Drama des überdehnten Staates
Die Herausforderungen in den kommenden Jahren sind gewaltig. Nach der Krise muss eine neue Balance zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gefunden werden. Die Rufe nach einem starken Staat, der mehr regulieren soll, kontrastieren mit einem realen Staat, der schon jetzt extrem viel eingreift. „Ist der Staat schwach, gehen wir unter; ist der Staat stark, erdrückt er uns“, zitiert Guy Kirsch, ein in der Schweiz lehrender Ökonom und Philosoph, den Schriftsteller Paul Valéry. Die Finanzkrise hat in drastischer Weise vor Augen geführt, dass ein schwacher Staat, der keinen festen Ordnungs- und Wettbewerbsrahmen vorgibt, durch die Eigendynamik einer Spekulation, die auf öffentliche Rettung vertraut, an den Rand des Abgrunds geraten kann. Die „Gier der Banker“ konnte nur vor dem Hintergrund mangelnder Haftung ihren zerstörerischen Lauf nehmen. In ihrer dritten Phase hat sich die Finanz- zu einer Staatsschuldenkrise ausgeweitet. Sie erzwingt nun, dass der Staat sich auf seine Kernaufgaben besinnt.
Stark ist nur der schlanke Staat, nur er bleibt auf Dauer handlungsfähig. Die real existierenden Staaten indes haben sich in vielerlei Hinsicht überdehnt. Die Staatsquoten und Staatsinterventionen nehmen nach der Quantität zu, doch die wachsenden Ansprüche der Interessengruppen überfordern letztlich die Mittel des Staates. Mit trockenem Sarkasmus schrieb der Publizist Rüdiger Altmann über den hypertroph wachsenden Staat, der immer weitere Bereiche der Gesellschaft überlagert und dennoch – es war die Zeit der 1968er – an Autorität verliert: „Er gleicht einem kastrierten Kater, der an Umfang zunimmt – was ihm fehlt, ist die Potenz.“
Von einer Ordnungsinstanz ist der heutige Staat zu einer Umverteilungsinstanz verkommen, die erpressbar wird, sei es von Banken, die als „systemrelevant“ gelten, sei es von großen Konzernen, die Sonderkonditionen für Investitionen aushandeln, sei es von zahlenstarken Wählergruppen, die Subventionen oder Sozialleistungen fordern. Diese Dialektik des überdehnten und damit geschwächten Staates haben die frühen Neoliberalen, wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, früh erkannt und kritisiert. Sie kritisierten die erkennbare Tendenz zur sozialstaatlichen Bevormundung und Entmündigung und forderten eine Rückverlagerung von Verantwortung auf die Individuen. Weniger Staatsabhängigkeit, weniger Steuern und mehr Freiheit sollten den Leistungswillen wecken. Ein verengter, moralisch blinder Liberalismus, der übertriebenen Individualismus und reine „Selbstverwirklichung“ propagiert, war ihnen aber fremd. Eigenständigkeit und Eigenverantwortung sahen sie stets im sozialen Kontext von Familie, Nachbarschaft, Kirche und Vereinen.
Die frühen Neoliberalen Röpke und Rüstow lehnten einen ökonomistisch verengten, moralisch blinden Blick auf die Wirtschaft ab. Stattdessen betonten sie die soziologischen, die nichtmateriellen Voraussetzungen einer funktionierenden Marktwirtschaft, die auf Werten „jenseits von Angebot und Nachfrage“ beruht. In den Familien wird jenes Human- und Sozialkapital gebildet, ohne das eine bürgerliche Gesellschaft brüchig wird. Im Gegensatz dazu hat ein hedonistischer, bindungsfeindlicher Individualismus seit 1968 die kernfamiliären Bande der Solidarität stark gelockert. Ihre Funktion übernahmen zunehmend wohlfahrtsstaatliche Strukturen. „Vater Staat“ ermöglicht und fördert die Entledigung von herkömmlichen Pflichten zur familiären Solidarität. Zugleich wird damit die Klientel, die seiner Hilfe bedarf, immer größer, bis schließlich die kollektiven Sozialsysteme, auch durch die ungesteuerte Zuwanderung, überlastet sind.
Eine nachhaltige „Kultur der Freiheit“ hat der deutsche Verfassungsrichter Udo Di Fabio zu skizzieren versucht, der in seinem gleichnamigen Buch sowohl konservative als auch liberale Vorstellungen einer eigenverantwortlichen bürgerlichen Gesellschaft vorstellt. Er plädiert für eine Überwindung der etatistischen Selbstblockade und mehr Vertrauen auf die Selbstorganisationsfähigkeit komplexer Systeme wie der menschlichen Gesellschaft. Der Bürger soll von den Fesseln des überbordenden Steuerstaates befreit werden. Gleichzeitig plädiert Di Fabio – in Abgrenzung zum bindungsfeindlichen Individualismus – für mehr Sinn für diejenigen Gemeinschaften, allen voran die Familien, ohne die individuelle Freiheit gar nicht möglich wäre.
Der Ruf nach einem „starken Staat“, der in der Wirtschaftskrise laut geworden ist, darf nicht zu eine weitere Aufblähung und Überdehnung des Staatsapparats führen. Vielmehr ist ein Rückbau des Staates notwendig, um Ressourcen für dessen Kernaufgaben freizulegen. Zum Kern eines freiheitsgerechten, ordnungspolitisch gefestigten Staates gehört es, die innere und äußere Sicherheit zu wahren, Eigentum zu schützen und Regeln für die Wirtschaft aufzustellen. Eine solche Rahmenordnung geht vom Prinzip des Wettbewerbs, der Vertragsfreiheit, aber auch der privaten Haftung aus. Finanzinstitute, die durch ihre schiere Größe im Krisenfall staatliche Hilfen erpressen können, darf es in einer Wettbewerbsordnung nicht geben. Ein wahrhaft starker Staat muss geeignete Insolvenzregeln finden, um solche Institute geordnet abzuwickeln. Und auf supranationaler Ebene dürfen die Staaten nicht zu gegenseitiger Schuldenübernahme in Europa genötigt werden; auch hierfür braucht es geeignete Insolvenzregeln mit Beteiligung der Gläubiger.
Ein wahrhaft starker Staat muss sich zudem den Wünschen von Unternehmen und Interessengruppen entgegenstellen, die Subventionen oder Konjunkturhilfen fordern. Diese gehen zu Lasten der Allgemeinheit, die durch hohe Steuern und Abgaben belastet wird. Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft addierten sich alle Subvention sowie steuerlichen Vergünstigungen in Deutschland 2009 auf 164,7 Milliarden Euro. Würden sämtliche sofort kündbaren Subventionen in einem Volumen von 119 Milliarden gestrichen, könnten im Gegenzug die Steuern radikal gesenkt werden. Der Spitzensteuersatz könnte von 47,5 auf 28,5 Prozent sinken, der Eingangssteuersatz könnte von 15,8 auf 9,5 reduziert werden. Oder die freiwerdenden Mittel könnten zur Haushaltskonsolidierung eingesetzt werden. So wäre die Schuldenbremse spielend einzuhalten.
Ein Staat, der nachhaltig agiert, darf zudem die demographische Entwicklung nicht negativ beeinflussen. Dies geschieht auf mehrere Weise: Zum einen setzt die Umverteilungsmaschinerie einen Anreiz dafür, dass sich eine alimentierte Unterschicht auf Kosten des Sozialstaates vermehrt. Dies müsste wie in den Vereinigten Staaten durch eine Reform des Sozialhilfebezugs verhindert werden. Zum anderen ist der umlagefinanzierte Sozialstaat auch für die Kinderlosigkeit vieler in der Mittelschicht mitverantwortlich. Auch diese entscheiden sich aus einem ökonomischen Kalkül gegen (mehr) Kinder. Ihre Erziehung ist teuer und belastet das elterliche Haushaltsbudget, ihre späteren Rentenbeiträge werden dagegen in den großen Rententopf für alle, auch die Kinderlosen, geworfen. „Der Staat sozialisiert die Erträge dieses Humankapitals“, kritisiert Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn.
Durch diese finanzielle Umverteilung beeinflusst das Sozialsystem die demographische Entwicklung, indem es Kinderlosigkeit finanziell privilegiert. Das führt demographisch in den Abgrund. Wollte der Staat seine demographische Basis sichern, müsste er Familien mit Kindern steuerlich entlasten, etwa durch viel höhere Kinderfreibeträge oder ein Familiensplitting wie in Frankreich. Eltern mehrerer Kindern könnten höhere Renten entsprechend den Beiträgen ihrer Kinder erhalten, schlägt Sinn vor. Verfassungsrichter Udo Di Fabio nennt es die „neue soziale Frage“, warum der Fleiß und das Engagement der Mütter und Väter nicht als unentbehrliche Leistung anerkannt werden.
Die Illusion der Rundum-Versicherung in allen Lebenslagen, die der ausgedehnte Sozialstaat seit den siebziger Jahre vorgegaukelt hat, kann ein freiheitsgerechter Staat im 21. Jahrhundert nicht mehr bieten. Er muss seine knappen Mittel zukunftsgerichtet einsetzen, eben für den Nachwuchs und für dessen Bildung. Die Finanzkrise, die eine Abkehr vom Schuldenkurs erzwingt, bietet Chancen, sich von Überflüssigem zu trennen und auf das Wesentliche zu besinnen. Die ordnungspolitische Herausforderung nach der Krise besteht darin, eine neue Balance von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zu finden, die Freiheit mit Verantwortung kombiniert.
Philip Plickert ist Wirtschaftsredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Der Beitrag ist Teil des Sammelbandes „Konservative Korrekturen“(edition noir, ISBN: 978-3-9502494-2-2), der einige sehr mutige Analysen und Konzepte zu einer neuen konservativen Standortbestimmung enthält.