Das Endspiel hat begonnen. Selbst wenn Griechenland die Auszahlung der nächsten Tranche aus Paket I schafft und selbst wenn Paket II bewilligt wird, kann es die Vorgaben von EU und IWF auf Dauer nicht erfüllen, weil seine Wirtschaft darnieder liegt und weil noch keinerlei Maßnahmen erkennbar sind (weder seitens Griechenlands noch seitens der EU), wie man die Wirtschaft wieder in Gang bringen möchte.
Es fehlt ein industriepolitischer Entwicklungsplan, wie man eine Volkswirtschaft von einer verkrusteten und korrupten Freunderlwirtschaft in eine wertschöpfende Marktwirtschaft „drehen“ kann. Das ist kein Projekt für ein paar Monate oder zwei bis drei Jahre; das ist ein Generationenprojekt und muss entsprechend langfristig angelegt werden.
Volkswirtschaftler haben errechnet, dass Griechenland seit Einführung des Euro gegenüber Deutschland um circa vierzig Prozent teurer geworden ist. Die internationale Kaufkraft des griechischen Euro ist jedoch dieselbe geblieben wie jene des deutschen Euro. Somit hat Griechenland Produkte und Dienstleistungen in dramatischen Dimensionen im Ausland gekauft, statt sie selbst herzustellen. Die griechische Wirtschaft hatte ihr Geschäftsmodell schon vor Beginn der Finanzkrise verloren: Mit achtzig Prozent Dienstleistungen wurde sie eine Zombie-Wirtschaft, wo man sich gegenseitig Souvlaki zu erhöhten Preisen verkaufte und mit Geld, das man sich im Ausland borgte, bezahlte.
Von 2001-10 importierte Griechenland 446 Mrd. EUR und exportierte nur 146 Mrd. EUR. Trotz Rezession (sinkende Importe; sogar steigende Exporte) decken Exporte nach wie vor nur 40-45 Prozent der Importe (in den USA sind es 78 Prozent in Italien sogar 93 Prozent). Das Leistungsbilanzdefizit summierte sich in diesem Zeitraum auf 199 Mrd. EUR! Dieser Luxus der Wirtschaft wurde mit den Spareinlagen anderer Länder finanziert.
Von 2001-10 sind Griechenlands Auslandsschulden von 121 Mrd. EUR auf 409 Mrd. EUR gestiegen; das ist eine Netto-Erhöhung um 288 Mrd. EUR! Ganz wesentlich ist aber, dass die Auslandsschulden des Privatsektors (212 Mrd. EUR) höher sind als jene des Staates (187 Mrd. EUR). Selbst wenn man Griechenland alle seine Staatsschulden erlassen würde und wenn der Haushalt ausgeglichen werden könnte, wäre das Problem der Wirtschaft nicht gelöst.
Die griechische Wirtschaft „verbrennt“ Geld. Als Leistungsbilanzdefizit werden heuer mindestens 25 Mrd. EUR aus dem Bankensektor abfließen. Dazu kommt noch die Kapitalflucht von weiteren 25 Mrd. EUR (inoffizielle Schätzung). Bisher hat die EZB dieses „Loch“ im Bankensektor gefüllt. Man führe sich vor Augen, dass die EZB Steuerzahlergeld nach Griechenland schickt, damit wohlhabende Griechen ihr eigenes Geld – ganz legal via Bankkonten – ins Ausland überweisen können und damit die Wirtschaft massiv importieren kann, statt Produkte selbst herzustellen! Wie lange wird die EZB das noch machen können? – Derzeit hat sie bereits geschätzte 100 Mrd. EUR an den griechischen Bankensektor verliehen!
Griechenland ist zwar kein Fass ohne Boden, jedoch ein Fass mit drei großen Löchern: Haushaltsdefizit, Leistungsbilanzdefizit und Kapitalflucht. Beim Haushaltsdefizit wurden bereits (an und für sich sehr beeindruckende) Maßnahmen umgesetzt, aber viel ist noch zu tun. Solange man aber nicht das Leistungsbilanzdefizit und die Kapitalflucht in den Griff bekommt, hat Griechenland keine Chance.
Ein industriepolitischer Entwicklungsplan muss darauf abstellen, dass das Leistungsbilanzdefizit reduziert und dass die Kapitalflucht gestoppt wird. Von Exporten ist keine rasante Steigerung zu erwarten, weil Griechenland (noch) nicht sehr viel zum Exportieren hat. Auch die Einkünfte aus dem Tourismus wird man nicht rasant steigern könnten, weil sie bereits hoch sind und weil Griechenland – objektiv betrachtet – auch hier nicht wirklich wettbewerbsfähig ist (der griechische Tourismus lebt vom Kult).
Somit verbleiben als letzte Stellschrauben nur mehr Importe und Kapitalflucht, diese beiden stellen jedoch ganz große Stellschrauben dar. Importe müssen drastisch eingedämmt und soweit wie möglich mit Inlandsproduktionen substituiert werden. Und die offizielle Kapitalflucht via Bankkonten muss ganz einfach gestoppt werden.
Zurück zur Drachme?
Würde Griechenland Euroland verlassen und zur Drachme zurückkehren, dann würde all dies von selbst geschehen und zwar rasch: die neue Drachme würde 30-40 Prozent abwerten (mindestens!) und die Importe (und zwar alle Importe!) würden analog teurer werden. Kapitalflucht via Bankkonten gäbe es keine, weil dem Bankensektor die notwendigen Devisen fehlen würden. Ein Euro-Austritt – noch dazu ein ungeordneter – wäre jedoch im jetzigen Chaos wohl das größte von allen Übeln. Außerdem würden die Finanzvermögen der Griechen über Nacht um 30-40 Prozent entwertet werden. Bye, bye sozialer Friede!
Wenn ein Euro-Austritt das größte von allen Übeln ist und wenn Griechenland es mit der jetzigen Euro-Struktur nicht schaffen kann, dann muss Griechenland mit dem Euro – zumindest vorübergehend – eine Situation simulieren, als wäre es zur Drachme zurückgekehrt!
Vorübergehende Maßnahmen: Sonderabgaben auf Importe, die die Importe insgesamt um 30-40 Prozent verteuern (allerdings gestaffelt nach Priorität; z. B. null Prozent für lebenswichtige Güter und 100 Prozent für Luxusgüter); selektive Freihandelszonen, wo international wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit neue Produktionen für die Importsubstitution aufgebaut werden können; und Kapitalkontrollen.
Damit würde man EU-Verträge verletzen (freier Güter-/Kapitalverkehr), aber Verträge kann man – vor allem vorübergehend – ändern. Ein Notstand erfordert Notstandsgesetze. Es ist für die EU allemal vorteilhafter, vorübergehende Ausnahmeregeln zu bewilligen, damit sich Griechenland in eine wertschöpfende Wirtschaft entwickeln kann, statt Steuerzahlergeld nach Griechenland zu schicken, um eine Zombie-Wirtschaft am Leben zu erhalten.
Ein neues Investitionsgesetz im Verfassungsrang muss gemacht werden, das dem Investor alle jene international wettbewerbsfähigen Rahmenbedingungen zusichert, die er sich wünscht. Die EU sollte dieses Gesetz garantieren, damit die Investoren kein politisches Risiko tragen müssen.
Der Investor findet ein wirtschaftliches Nirwana vor: er kann wettbewerbsfähig produzieren und er hat bereits einen Absatzmarkt. Und Sicherheit hat er auch.
Vermögende Griechen verfügen über Hunderte Mrd. EUR auf Bankkonten im Ausland. Das neue Investitionsgesetz muss darauf zielen, dass zumindest ein Teil dieser Gelder freiwillig nach Griechenland für Investitionen fließt. Griechen sind gute Geschäftsleute und erkennen Geschäftsmöglichkeiten rasch. Warum sollten vermögende Griechen in der Schweiz zwei Prozent verdienen wollen, wenn sie mit Investitionen in Griechenland bei gleicher Sicherheit ein Vielfaches davon verdienen könnten?
Warum selektive Freihandelszonen und nicht gleich das ganze Land? Weil man die ganze Wirtschaft eines Landes nicht auf einmal von A-Z umstrukturieren kann; das ergäbe eine Revolution. Stattdessen muss man hoffen, dass die Freihandelszonen gut funktionieren und dass im Zuge der Jahre die dortigen Rahmenbedingungen auf den Rest der Wirtschaft abfärben.
Oberste Priorität müsste sein, dass die Geschäftsgebarung in diesen Freihandelszonen absolut korrekt ist. Sollte sich auch dort das „griechische Wesen“ durchsetzen (Steuerhinterziehung, Korruption), dann müsste man das Projekt von Anfang an als gescheitert betrachten. Begleitmaßnahmen (anerkannte Wirtschaftsprüfer; möglicherweise sogar EU-Inspektionen) müssten gewährleisten, dass das griechische Wesen nicht Einzug halten kann.
Das große Risiko bei Importkontrollen ist, dass dieser Schutz vom Inlandshersteller missbraucht wird. Angenommen, eine importierte Zahnpastatube kostet einen Euro und die neuen Rahmenbedingungen in den Freihandelszonen ermöglichen es dem Investor, zu diesem Preis profitabel zu wirtschaften. Nehmen wir weiter an, dass die Sonderabgaben für importierte Zahnpastatuben vorübergehend mit 100 Prozent festgelegt werden, damit der Investor sein Geschäft aufbauen kann. Somit würde die importierte Zahnpastatube zwei Euro kosten. Die Gefahr ist, dass der gewitzte griechische Unternehmer dann seine Zahnpastatube um 1,99 EUR verkauft.
So kann das nicht funktionieren! Die Freihandelszonen haben zum Ziel, dass in Griechenland eine nachhaltige Inlandswertschöpfung aufgebaut werden kann. Sie sind nicht dazu da, dass ein gewitzter Unternehmer wettbewerbsfähig produzieren und zum doppelten Preis verkaufen kann. Die Benchmark muss immer der internationale Preis sein.
All das klingt stark nach Planwirtschaft, ist es aber nicht. Es hängt von der Gestaltung des Investitionsgesetzes ab, dass es keine Planwirtschaft wird. Wenn das Gesetz dem Investor ein interessantes Verhältnis Risiko/Ertrag gewährleistet, dann wird der Investor von selbst kommen.
Vorbilder in Lateinamerika
Chile hatte Ende der 1970er Jahre gezeigt, dass ein gutes Investitionsgesetz eine vormalige kommunistische Planwirtschaft in kürzester Zeit zum „Darling“ von internationalen Investoren „drehen“ kann. Warum sollte das Griechenland nicht auch gelingen? Argentinien hat in den letzten Jahrzehnten mehrere Stabilitätspläne gemacht, die dann auch jeweils eine Zeit lang funktionierten. Auslandsvermögen kamen immer rasch ins Land zurück und beschleunigten die Erholung. Beim Auftauchen der ersten Wolken am Wirtschaftshimmel verflüchtigten sie sich wieder. Der „Trick“, den Griechenland schaffen muss, ist, dass die Auslandsvermögen der Griechen nachhaltig im Land bleiben.
Die Regierung muss dafür sorgen, dass zahlreiche Investitionsmöglichkeiten – mit Business Plänen – ausgeschrieben werden. Wenn von geschickter PR-Arbeit begleitet, könnte es sogar gelingen, dass ein „Run“ auf diese Investitionsmöglichkeiten entsteht (nach dem Motto: „treten wir ein, bevor die Türe wieder zugemacht wird“).
Das griechische Staatsschuldenproblem wurde hier bewusst nicht angesprochen, weil es im Vergleich das einfachere Problem ist. Das Staatsschuldenproblem kann man mit ein paar Hundert Leuten in einem Konferenzsaal lösen (solange sich alle einigen). Einen industriepolitischen Entwicklungsplan zu erarbeiten und erfolgreich umzusetzen, das erfordert die besten Köpfe nicht nur Griechenlands, sondern von ganz Europa.
Wenn es aber einmal einen industriepolitischen Entwicklungsplan gibt, dann ist das Staatsschuldenproblem wesentlich einfacher zu lösen, weil die Geldgeber die Hoffnung haben dürfen, dass es doch wieder Licht am Ende des Tunnels geben könnte.
Klaus R. Kastner
Vier Jahrzehnte Bankmanagement in sechs Ländern (Österreich, Deutschland, England, USA, Chile, Argentinien), davon 1980-87 in Chile/Argentinien als Country Manager vor Ort einer der größten amerikanischen Gläubigerbanken; Studien an Harvard und INSEAD; derzeit in Griechenland tätig.