Was haben islamischer Gottesstaat und die civitas Dei des Christentums gemeinsam, was trennt sie? Wer solche Fragen als Katholik aufwirft, wird nicht umhinkönnen, sich umfassend mit dem inneren Zusammenhang zwischen Kirche, Gesellschaft, Politik und Staat anhand der lehramtlichen Dokumente auseinanderzusetzen. Er wird dabei so manche Überraschung erleben, denn über weite Strecken widerspricht die kirchliche Lehre gängigen Überzeugungen und „politisch korrekten" Auffassungen.
Beginnen wir mit der Kirche und ihrer Stellung in der Gesellschaft. Ihrer Definition nach ist die Kirche "der mystische Leib Christi". Christus, der Sohn Gottes, ist Stifter, Haupt, Erhalter und Erlöser der Kirche, mit ihr zusammen bildet er eine einzige mystische (Gesamt- oder Kollektiv-) Person, die – darauf weist der Ausdruck "mystisch" hin – durchdrungen ist vom Heiligen Geist, der Haupt und Glieder auf das innigste verbindet.
Gesellschaftlicher Zweck dieser institutionell abgesicherten Gründung der Kirche durch Christus ist es, dem „heilbringenden Werk der Erlösung Dauer zu verleihen" (erstes Vatikanum). Die Kirche ist somit in der Gesellschaft die konservative Institution schlechthin, ja, nach theologischer Auffassung eine "societas perfecta" (Papst Leo XIII), also „die wahre", „ideale" oder eben „vollkommene" Gesellschaft. Daran stößt sich, wer zwischen Norm oder "Wesen" und Erscheinung nicht zu unterscheiden weiß und nur noch „die Kirche der Sünder" sieht.
Die Kirche und die weltliche Machtausübung
Die Kirche ist das mit Christus auf Erden angekommene, sich ausbreitende und bis zum Jüngsten Tag sich vollendende Reich Gottes; der auf Erden fortlebende und fortwirkende Christus. Damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann, hat Christus der Kirche Auftrag und Vollmacht gegeben, seine Wahrheit zu verkünden (Lehramt), seine Gebote einzuschärfen (Hirtenamt) und seine Gnadenmittel zu spenden (Priesteramt).
Mit der Übertragung dieser drei Ämter an die Apostel gab Christus seiner hier auf Erden pilgernden und „streitenden Kirche", eine hierarchische Verfassung. An ihre Spitze stellte er Petrus (Mt 16, 17-19), den "vicarius Christi". Als Stellvertreter Christi auf Erden ist Petrus Inhaber des Jurisdiktionsprimats, und ebenso übt er die höchste Lehr-, Hirten- und priesterliche Gewalt aus. Kraft göttlicher Regel sind die Nachfolger des Petrus im Primat die Bischöfe von Rom.
Ihre Jurisdiktionsgewalt erstreckt sich über die gesamte Kirche, und zwar nicht nur in Sachen des Glaubens und der Sitte, sondern auch über Kirchenzucht und die Regierung der Kirche. Der Papst kann jede Angelegenheit der Kirche selbständig, das heißt ohne Zustimmung der übrigen Bischöfe, an sich ziehen, regeln und entscheiden. Er besitzt Unfehlbarkeit (ex cathedra), seine Urteile erlauben keine Berufung an eine höhere Instanz, er kann von niemandem auf Erden gerichtet werden.
Das Jurisdiktionsprimat schließt den Besitz der vollen und obersten gesetzgebenden, richterlichen und strafenden Gewalt ein. Daher steht es dem Papst auch zu, die Bischöfe, denen die Sorge für eine Diözese anvertraut wird, frei zu ernennen oder zu bestätigen (wenn sie auf einem Wahlvorschlag aufscheinen). Ebenso ernennt er frei die Kardinäle, die den neuen Papst wählen. Dank dieser Verfassung ist die Kirche „unzerstörbar", sie kann nicht einmal „durch die Pforten der Hölle" überwunden werden, sie selbst und ihre Lehre bleiben unveränderlich „bis ans Ende der Welt" bestehen.
Als vollkommene Gesellschaft ist die Kirche – und dies ist für die katholische Gesellschaftslehre von grundlegender Bedeutung – Modell, Vorbild, Urbild, Idee oder Archetyp für jede „natürliche" Gesellschaft oder Gemeinschaft, so für Familie, Gemeinde, Volk und Staat. Selbst „gewillkürte" Gesellschaften, wie politische Parteien, Organisationen der Zivilgesellschaft, Unternehmen, Berufsvertretungen, Kammern, Interessenverbände, Gewerkschaften, Geselligkeitsvereine oder Sportverbände, weisen Bauprinzipien auf, die jenen der Kirche ähneln (Einheit, Vielgliedrigkeit, Hierarchie, Autorität, Vorrang, unterschiedliche Vorzüglich- oder Wertigkeit, Gerechtigkeit, Verhältnismäßigkeit, Solidarität, Subsidiarität, Gesamtpersonalität, Identität usw.).
Die Kirche sieht sich als „Lebensprinzip der Gesellschaft" (Pius XII.), als „Seele… der in die Familie Gottes umzugestaltenden Gesellschaft" (II. Vatikanum: „Gaudium et spes"). Die Umgestaltung erfolgt im Zuge der „Evangelisierung" aller Teilbereiche der Gesellschaft, durch die die kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten in den Dienst der Erbauung des Reiches Gottes einbezogen werden und ihre transzendente, das heißt „heilige", Dimension erfahren.
Weil kein Bereich der Gesellschaft nur „profan" ist, kann der Mensch jeglicher gesellschaftlichen Position durch die treue und gewissenhafte Erfüllung seines Berufes „zum Mitwirker am Schöpfungswerk Gottes" (Konzil von Nicaea im Jahr 325) werden und auf diese Weise zu seinem „Heil" beitragen. Kirchlicher Lehre gemäß erlangt die gesellschaftliche Ordnung ihre Vollendung „nach dem Heilsplan der Frohbotschaft", also des Evangeliums. Die Normen des Evangeliums bestimmen also die „gerechte", „rechte" oder „richtige" Ordnung der Gesellschaft und der (geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassung des Staates.
Das Ziel des Gemeinwohles
Der Dienst am Reich Gottes ist für Christen letztgültiger Inhalt aller Politik. Ein höheres Ziel, auf das alle politischen Einzelmaßnahmen abzustimmen sind, ist aus logischen Gründen nicht denkbar. Der Inbegriff des „Gemeinwohls" ist das Reich Gottes selbst. Von ihm heißt es in der Präfation (der Beginn des eucharistischen Hochgebets) zum Christkönigsfest, es sei „das Reich der Wahrheit und des Lebens, der Heiligkeit und der Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens".
Es verkörpert also jene Werte, denen die irdische Gesellschaft und der Staat nachstreben müssen, wollen sie ihre Bestimmung erfüllen. Hegel hat von der Philosophie her gezeigt, dass jeder Staat, der diesen Namen verdient, zuletzt auf Religion beruht aus der die Sittlichkeit hervorgeht, die wiederum „die Wirklichkeit des Staates" ausmacht. Mit ihm stimmt Leo XIII. gänzlich überein, für den „das Wohl des Staates von der Religion abhängt, mit der Gott verehrt wird".
Religion aber bedarf der Kirche, damit sie ihre heilbringende Wirkung für Gesellschaft und Staat fortlaufend erbringen kann. Ohne kirchliche Institution würde Religion ihren Charakter als absolute und verbindliche Wahrheit verlieren, sie löste sich auf in subjektive Gefühle und Empfindungen, die Einheit und Gemeinschaft weder begründen noch der staatlichen Willkür Grenzen setzen könnten. Die Einheit von Kirche, Gesellschaft, Politik und Staat ist also zuletzt durch die Religion begründet und gewährleistet, nicht durch papierene Verfassungen.
Das "Ganze" drückt sich aus im Gemeinwohl, dem „bonum commune", dessentwillen die Gesellschaft oder Gemeinschaft überhaupt besteht. Dieses Gemeinwohl hat nach katholischer Auffassung, die hier in diametralem Gegensatz zu jeder individualistischen Gesellschaftsauffassung steht, den Vorrang vor dem Einzelwohl, denn das Gemeinwohl ist nach Thomas von Aquin „göttlicher" als das Einzelwohl.
Dieser Vorrang, so betont der berühmte Vertreter der Katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, besteht „in zeitlicher, sachlicher, wert- und würdemäßiger Hinsicht". Ein Ehebund kann erst geschlossen werden, wenn es die Ehe als Idee, Begriff und Institution bereits (im „Vorsein") gibt. Die Huldigung Gottes, welche die Gesellschaft durch den ganzen Reichtum ihrer Kulturgüter vollzieht, „steht auf einer höheren Stufe als die Verherrlichung, die der auf sich gestellte Einzelmensch Gott zu erweisen vermöchte".
Auf dem Vorrang der Gemeinschaft vor dem Einzelnen beruhen Wehrgedanke und Wehrpflicht: Im „Ernstfall" kann die politische Gemeinschaft den Einsatz von Gut und Leben des Einzelnen oder von ganzen Gesellschaftsgruppen verlangen, wenn sie anders ihre Integrität nicht zu sichern vermag. Selbst Menschenrechte gelten dann nicht mehr: Beispielsweise müssen Soldaten ihr „Menschenrecht auf Leben" in die Schanze schlagen, wenn es die Heimat zu verteidigen gilt. Immer ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile.
Der katholische Gottesstaat
Die viel gepriesene Toleranz kann für Katholiken nicht den Verzicht auf Wahrheit bedeuten, sondern nur der Person gegenüber geübt werden, die ohne eigene Schuld und böse Absicht eine irrige Meinung hegt. „Den Irrtum muss man bekämpfen, dem Irrenden verzeihen", äußerte unerbittlich der als so jovial geltende und vor kurzem selig gesprochene Konzilspapst Johannes XXIII.
Zu einem der schwersten Irrtümer gehört die Ansicht, die Katholiken verträten im Gegensatz zum Islam nicht den „Gottesstaat". Der heilige Augustinus bezeugt das Gegenteil. Für ihn wie für jeden Gläubigen ist der Kampf um die civitas Dei (Gottesstaat) gegen die civitas terrena sive diaboli (der irdische Staat des Teufels) das eigentliche Thema der Weltgeschichte und Inhalt seines Lebens.
„Jeder einzelne Mensch ist in diesen Streit hereingezogen… denn das ganze Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive, stellt sich als Kampf dar, und zwar als einen dramatischen, zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis", lehrt das Zweite Vatikanum (Gaudium et spes). In diesem kollektiven Kampf müssen geistliches und weltliches Schwert einander beistehen, wollen sie den Sieg der Heerscharen des „Fürsten der Lüge" wenn schon nicht gewinnen, so doch wenigstens eine Weile aufhalten. Im Gegensatz zum Islam gehören zum Christentum die Ausdifferenzierung und schöpferische Spannung von Priestertum und Königtum, ohne welche seine kulturellen Leistungen unerklärbar blieben.
Die Katholik toleriert ganz in diesem Sinne auch keine Philosophie, Ideologie oder politische Strömung, "die nicht mit der christlichen Lehre übereinstimmt oder mit deren Voraussetzungen und Schlussfolgerungen unvereinbar ist" (vgl. Johannes Paul II.: Fides et ratio).
Die Kirche hat von jeher gegen Atheismus und Agnostizismus, Deismus, Pantheismus und Immanentismus, Rationalismus und Positivismus, Relativismus und Subjektivismus, Eklektizismus und Pragmatismus, Evolutionismus und Materialismus, Existentialismus und Nihilismus, Historizismus und Modernismus, Szientizismus und Neopositivismus, Psychologismus und Soziologismus eindeutig Stellung bezogen, denn diese Philosophien leugnen alle den dreifaltigen Gott, seine Offenbarung im Menschensohn, das Bestehen ewig unveränderlicher Wahrheiten und Normen, wenn sie nicht von vornherein die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis verneinen. Prüfstein für jede Philosophie ist die katholische Glaubenslehre, in der sich die Fülle der Wahrheit spiegelt.
Ebenso hat die Kirche nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie auch jene politischen Strömungen mit ihrer Gesellschaftslehre für unvereinbar hält, die auf falschen oder unzulänglichen Philosophien oder Weltanschauungen basieren. Das trifft insbesondere zu auf den Individualismus, Liberalismus, Demokratismus, Anarchismus, Kommunismus, Sozialismus und Faschismus.
Nur jene politischen Auffassungen und Handlungen werden zustimmend beurteilt, die mit der letzten und höchsten Bestimmung des Menschen, der „Verähnlichung mit Gott", und der finalen Bestimmung der Gesellschaft, „sich in die Familie Gottes umzugestalten" (Gaudium et spes) übereinstimmen.
Keinem Katholiken ist es „gestattet, mit der eigenen Stimme die Umsetzung eines politischen Programms zu unterstützen, in dem die grundlegenden Inhalte des Glaubens und der Moral durch alternative oder diesen Inhalten widersprechende Vorschläge umgestoßen werden" (Glaubenskongregation: Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten von Katholiken im politischen Leben, Rom 2002). Selbst die Zustimmung zu einem einzelnen, positiven Aspekt eines im Ganzen zu verwerfenden politischen Programms würde der Einheit des Glaubens schaden und ist Katholiken deshalb nicht erlaubt.
Für die Gesellschaft ist die Kirche gewissermaßen Heilsgut, allumfassendes Sakrament, also Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung der Gesellschaft mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit (vgl. II. Vatikanum: Lumen gentium). In geschichtlicher und geistesgeschichtlicher Hinsicht hat die Kirche das Römische Reich fortgesetzt (Carl Schmitt), die griechische Ideenlehre aufgenommen und fortgebildet (Otmar Spann), und auf höchst eigentümliche Weise verkörpert sie die Einheit von Sein, Mensch und Civitas (Gesellschaft, Gemeinschaft, Staat), die Platon in seiner „Politeia" in ewiggültiger Weise beschreibt (Leopold von Ranke).
Alle traditionellen Kulturen versuchen den inneren Zusammenhang oder die „Entsprechung" von Makrokosmos und Mikrokosmos; von Himmelsordnung und Weltordnung; von kosmischer Ordnung, Kultordnung, Wertordnung, Rechts- und Staatsordnung; von himmlischem und irdischem Jerusalem; von civitas Dei und civitas terrena; von göttlichem Reich und irdischem Reich zu wahren. Wird dieser Zusammenhang zerrissen, tritt Verfall ein, den der Psalmist in die drastischen Worte kleidet: „Zur Hölle fahren müssen die Frevler und Völker alle, die vergessen auf Gott" (Ps 9, 18).
Dr. Friedrich Romig lehrte politische Ökonomie in Wien, Graz und Aachen. Er war Europabeauftragter der Diözese St. Pölten unter Bischof Krenn. Sein jüngstes Buch „Der Sinn der Geschichte“ ist 2011 im Regin-Verlag, Kiel erschienen.