Die russisch-orthodoxe Kirche ist, anders als die römisch-katholische Kirche für den modernen (westeuropäischen) Nationalstaat, seit beinahe tausend Jahren einer der prägenden Faktoren im russischen Selbstverständnis, wenn nicht überhaupt der prägendste. Die wesentliche Frage, welchen Einfluss die russisch-orthodoxe Kirche auf den Modernisierungs- und Transformationsprozess des sogenannten „modernen Russland“ ausübe, kann nur im Lichte der kirchlichen Tradition richtig analysiert werden.
Wenn man diese Frage etwas anders formuliert, könnte man ganz einfach auch formulieren: welche politische Kraft hat die russisch-orthodoxe Kirche, und was unterscheidet ihre Stellung beispielsweise von der der römisch-katholischen Kirche in einem liberal-demokratischen Land wie Österreich? Die Beantwortung dieser Frage ist für unser Verständnis von Vorgängen in Russland wesentlich.
Die russisch-orthodoxe Kirche ist keine Randgruppe, sie steht im Zentrum des kulturellen Selbstfindungsprozesses der zerfallenden Sowjetunion und später der entstehenden Russischen Föderation. Zunächst muss man bemerken, dass nicht nur die russisch-orthodoxe Kirche als Religionsgemeinschaft in der Russischen Föderation eine Rolle spielt, durchaus wichtig und angebracht wäre es beispielsweise auch, den Islam in seiner Stellung und Bedeutung zu analysieren.
Wenn nun die Analyse der russisch-orthodoxen Kirche in ihrer Beziehung zum modernen russischen Staat unser Ziel ist, so soll dies in fünf Schritten geschehen. Zunächst werden wir zwei Punkte einer kurzen Klärung unterziehen. Zum einen müssen wir uns fragen, was die „Modernisierung“ aus der Sicht der Kirche bedeutet, was heißt Modernisierung für die Kirche und wie korrespondiert diese mit der Tradition?
Weiters müssen wir die byzantinische „symphonia“ untersuchen, schließlich baut die kirchliche Tradition ihre Beziehung zum Staat auch heute noch auf diesem Ideal auf. In einem dritten Schritt werden wir die Sozialdoktrin der russischen Kirche untersuchen, um in einem vierten Schritt die Wirkung der Kirche auf die russische Regierung analysieren zu können. Schließlich werden wir, fünftens, ein Fazit der Staat-Kirche-Beziehung ziehen, das die Rolle der russischen Kirche im modernen Russland darlegen soll.
Tradition vs. Modernisierung?
Wie korrespondiert in der orthodoxen Geschichte die Tradition mit der „Modernisierung“? Tradition bedeutet, im russisch-orthodoxen Selbstverständnis, die Rückbindung an Christus, die Rückbindung an die Kirchenväter, und in diesem Selbstverständnis ist auch die Essenz zu sehen, die eine Modernisierung verhindert. Diese starke Rückbindung der Kirche auf die „Heilige Überlieferung“ (die Tradition) verhindert freilich auch, dass die Kirche eine Art Flexibilität (ohne Wertung!) an den Tag legt, die beispielsweise die Westkirche im Laufe der Jahrhunderte zeigte. Die Westkirche hat einen „flexibleren“ Begriff von Tradition entwickelt, während die Orthodoxie ihren Hauptwert in der Bewahrung der Tradition sieht, nicht unbedingt in deren Weiterentwicklung.
Traditionelle Standpunkte finden auch ihren Niederschlag in der gegenwärtigen sowohl geistigen, als auch tagespolitischen Debatte. Aleksander Dugin ist ein Beispiel hierfür. Dugin kann mit Recht als „Esoteriker“ verstanden werden. Seine Einordnung in westlich-neuzeitliche Politschemata ist schwierig. Er könnte nach diesen Kriterien sowohl als „links“ als auch als „rechts“ bezeichnet werden. Im Übrigen ist Dugin nicht der erste Fall eines „mystischen“ Beraters in Kremlnähe in der Geschichte Russlands. Seine Beziehungen zur Orthodoxie sind differenziert zu sehen. Dugin ist ein derart facettenreiches Phänomen, dass seine Person hier nicht gebührend analysiert werden kann.
Er gehört einer Art „Bewegung“ an, die man als „Traditionalismus“ bezeichnet. Dieser Traditionalismus ist aber nicht beispielsweise eine innerkirchliche „Lagerzuordnung“, sondern Traditionalismus meint hier die „Integrale Tradition“ eines Baron Julius Evolas, eines René Guénons und anderer in ihrem Denken heterogener Personen. Ein weitere Besonderheit, welche auch die Person Dugins betrifft, ist, dass die Orthodoxie (gemeinsam mit vielen esoterisch-mystischen Strömungen, die unter den Begriff „Integrale Tradition“ subsumiert werden können) die Menschheitsgeschichte als eine „Involution“ sieht, die Menschheitsgeschichte bewegte sich vom göttlichen Ideal weg, es handelt sich also um einen Abstieg. Der lineare Geschichtslauf, von der Erschaffung der Welt bis zum „Jüngsten Gericht“, ermöglicht es der Kirche auch eine Eschatologie zu entwickeln, die an den „Zeichen der Zeit“ orientiert ist.
Die Problematik des „kanonischen Territoriums“
Die russisch-orthodoxe Kirche hält an einem kanonischen Territorium fest, das weit über die Grenzen der Russischen Föderation reicht. Die Ukraine beispielsweise zählt dazu. Der Zerfall der UdSSR hatte zwar zunächst zur Folge, dass die Religion nicht mehr am direkten Gängelband des Staates hing und sich frei entfalten konnte, er hatte aber auch zur Folge, dass die russisch-orthodoxe Kirche nun vor der Situation steht, historischen Boden insofern zu verlieren, als neue „eigenständige Länder“ entstehen. Diese Vorgänge sind für die Kirche so lange kein Problem, so lange nicht in innerkirchliche Angelegenheiten eingegriffen wird. In der Ukraine, wie bereits erwähnt, sind die Probleme allerdings bereits vorhanden und eine schnelle Lösung ist nicht zu erwarten.
Die byzantinische Symphonie
Die Haltung der russischen Kirche zum Staat ist in ihrem Ideal nach wie vor von der Kaiseridee des byzantinischen Reichs geprägt. Wenn auch diese Idee in der Geschichte des russischen Staates an die Eigenheiten angepasst und modifiziert wurde, so bleibt dennoch dieses Leitbild führend. Das byzantinische Kaiserbild zeichnet die symphonia aus: die Kirche bleibt als eigenständige Institution bestehen, der Kaiser bildet das Oberhaupt der Gesellschaft, oder besser der Gemeinschaft, er ist aber nicht dem Papst gleichzusetzen, er hat keine unmittelbare theologische Gewalt.
Er ist nicht „Herr“ über die theologische Debatte. Diese symphonia, die man auch als „Symbiose“ bezeichnen könnte, zeichnet also bis heute das Weltbild der russisch-orthodoxen Kirche aus, wie es im Übrigen das Bild aller orthodoxen Kirchen vom Verhältnis zum Staat ausdrückt. Davon zeugt gerade die Sozialdoktrin der russischen Kirche:
Die Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche
Die Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche kann als Schlüsseldokument der neueren Zeit betrachtet werden. Patriarch Kirill war auch bei der Sozialdoktrin der führende Kirchenmann. Obwohl ich selbst von der Etikettierung „konservativ“, „liberal“ oder „traditionalistisch“ nicht viel halte, wenn es um den kirchlichen Bereich geht, so kann man konstatieren, dass Kirill ein Mann der Mitte ist, allerdings ist Mitte hier nicht beliebig zu verstehen, sondern mehr in seiner Positionierung als kluger austarierender Taktiker.
Kirill hat, wie im übrigen der überwiegende Großteil der orthodoxen Hierarchen, ein sehr klares Wertefundament und die orthodoxe Ekklesiologie hat sich seit bald einem Jahrtausend, im Gegensatz zur Westkirche, nicht verändert. Musste sie auch nicht. Die Verzahnung zwischen russischem Staat und russischer Kirche war von 988 an, mit der „Taufe der Rus“ bis 1917 lebendig.
Erst durch die, von der orthodoxen Kirche als „Katastrophe“ bezeichnete, bolschewistische Revolution wurde diese Verzahnung gelöst. Allerdings geschah dies nicht in einem Prozess, der der westlichen Laizität oder der Säkularisierung entspräche, sondern in einem Akt der Gewalt, der von einer Seite, der Kirche, nie akzeptiert wurde. In dieser Zeit der Verfolgung bildeten sich nun mindestens drei Haltungen heraus, die das Verhältnis der Orthodoxie zum atheistischen Staat bestimmten.
Die eine war eine abwehrende, stramm antikommunistische Haltung, die zweite war jene der partiellen Zusammenarbeit und die dritte die des Kollaborateurs. Die Kirche hat als Ganzes dennoch die Zeit des Kommunismus als Joch empfunden. In der Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch bildete sich nun eine Gesellschaft, die sich in Richtung des westlichen Pluralismus bewegte, bzw. es wurde der Anspruch erhoben, ein dem westlichen Modell des liberal-demokratischen Systems ähnliches System zu formen, mit all den Folgen, die eine solche Entwicklung für die Religion zeitigen sollte.
Nation
Zunächst ist es interessant festzuhalten, dass die russisch-orthodoxe Kirche in ihrer Sozialdoktrin den Begriff der Nation „zerlegt“, und zwar in sowohl die ethnische Gemeinschaft, als auch die Bürger eines bestimmten Staates. Wenn die Kirche auch den „universalen Charakter“ der christlichen Botschaft betont, so betont sie umgekehrt, ganz dem orthodoxen Verständnis der „autokephalen Kirchen“ folgend, dass orthodoxe Christen ihre irdische Heimat nicht vergessen dürften.
Sie betont zudem, dass es eine „nationale christliche Kultur“ gäbe. Ebenfalls führt die Kirche klar an, dass die Teilnahme an Befreiungskriegen erlaubt sei, eine Tatsache, die bei Kriegen wie dem „Tschetschenienkrieg“ aktuelle Bedeutung gewinnt. Überraschend für den westlichen Leser ist auch die Tatsache, dass dem „Patriotismus“ ein hoher Stellenwert in der Lehre der Kirche eingeräumt wird. Allerdings in Abgrenzung zu jenem Begriff von Nationalismus, den der Westen prägte. Wobei die Grenzen hier gefährlich eng werden können, wenn es in der Doktrin heißt: „(…) Dementsprechend bezieht sie keine Stellung, in interethnischen Konflikten, mit Ausnahme solcher Fälle, in denen seitens einer der beiden Parteien eindeutig Aggression betrieben bzw. Ungerechtigkeit geübt wird.“
Kirche und Staat
Die Doktrin streicht gleich am Anfang des Abschnittes über „Kirche und Staat“ heraus, dass der Staat den Zweck habe, die irdischen Angelegenheiten zu regeln. Die Kirche also zieht hier eine klare Trennlinie. Den idealen Staatsmann bezeichnet die Doktrin als „irdischen Statthalter“, dieser sei aus einem Entfremdungsprozess des Menschen von der Gehorsamspflicht Gottes entstanden.
Die israelitischen Stämme hätten die direkte Verbindung zu Gott gehabt und daher keinen „Statthalter“ benötigt. Die Kirche betont nun weiter, dass die Gläubigen dem Staat Gehorsam schulden, jedoch nur insofern, als der Staat nicht selbst „vergöttlicht“ wird, Gehorsam auch nur so weit, als der Staat den Glauben nicht bedroht. Der Staat wird auch nicht autonom von Gottes Gesetzen gesehen, daher hält die Doktrin eindeutig fest, dass einem Staat, der die Gläubigen zu einer Abkehr von Christus und der Kirche nötigt, der Gehorsam zu verweigern ist.
Wenn die Doktrin auch die Realität des säkularen Staates anerkennt, so bezeugt sie gleichzeitig die Möglichkeit der Übereinstimmung von Aufgaben und Tätigkeiten, die nicht nur irdischen Nutzen nach sich ziehen, sondern auch der Verwirklichung des Heilsauftrages der Kirche dienen. Das Dokument verurteilt im Übrigen auch die Französische Revolution. An mehreren Stellen wird die Autonomie der Kirche gegenüber dem Staat betont, dies geschieht einerseits aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts heraus, andererseits aber auch aus dem byzantinischen Verständnis der symphonia.
Besonders beachtenswert ist die Tatsache, dass die Doktrin die symphonia in der Praxis des byzantinischen Reiches als unvollendet betrachtet, während im alten Russland unter den Zaren eine größere Harmonie bestanden hätte. Wir sehen hier klar, dass Russland seine eschatologische Positionierung als „letztes freies Land“ nach dem Fall des byzantinischen Reiches aufgreift und zu neuer Höhe befördert. Russland als das „dritte Rom“.
Ein wichtiger Punkt ist auch, dass in der Doktrin klar mehrere Punkte angeführt werden, in welchen die Kirche mit dem Staat zusammenarbeiten kann und umgekehrt, in welchen nicht. Es seien hier nur einige, für vorliegende Analyse wesentliche Punkte, herausgegriffen:
Die Kirche sieht Felder der Zusammenarbeit in den Feldern:
- der „Sorge um die Erhaltung der Sittlichkeit in der Gesellschaft“
- „Geistig-spirituelle, kulturelle, sittliche sowie patriotische Bildung und Erziehung“
- Die Mitwirkung an der Ausarbeitung „einschlägiger Gesetze, Verordnungen“ etc.
- Tätigkeit der weltlichen und geistigen (Massen-)Medien
- Widerstand gegen die Tätigkeit „pseudoreligiöser Strukturen“
Die Doktrin zeigt also, dass die russisch-orthodoxe Kirche sich selbst, unter Beibehaltung des byzantinischen Idealbildes, als eigene Institution wahrnimmt, jedoch in engster Anbindung an das „Russische“. Um nun die Umsetzung der hier dargelegten Grundsätze im praktischen kirchlich-staatlichen Leben untersuchen zu können, soll die Person und die theologisch-politischen Aussagen des derzeitigen Patriarchen einer Untersuchung unterzogen werden:
Patriarch Kirill und die Kirche im Tagesgeschehen des modernen Russland
Biographie
Kirill wurde 1946 in St. Petersburg geboren. 1969 legte er die Mönchsgelübde ab. Er war mehrere Jahre Vertreter beim Weltkirchenrat in Genf. Im Anschluss daran leitete er zehn Jahre verschiedene geistliche Lehranstalten. 1976 wird Kirill zum Bischof geweiht, 1977 zum Erzbischof erhoben. Seit 1984 leitet er die Diözese von Smolensk und seit 1989 ist er Leiter des Außenamtes. 1991 Erhebung zum Metropoliten. Besonders hervorzuheben ist, dass Patriarch Kirill von 1994 an eine wöchentliche Fernsehreihe im Zentralen Russischen Fernsehen leitete.
Theologische Akzentsetzung
Kirill gilt gemeinhin als Zentralist. Er übt einen Ausgleich zwischen allzu traditionalistischen Positionen und allzu weitgehenden Verweltlichungen, die aber traditionell in der russischen Orthodoxie Minderheitenpositionen sind. Kirills theologische Akzentsetzungen sind bereits in der Sozialdoktrin festzumachen. Besonderen Wert legt Kirill auf das byzantinische „Symphonie-Modell“, er betrachtet es als „Ideal“ und zwar, nach seinen eigenen Worten, unabhängig davon, ob es in der Realität umgesetzt wurde, oder nicht.
Zugleich verurteilt Kirill besonders deutlich die „Reformen“ Peters I. um zu betonen, dass nun die Möglichkeiten grundsätzlich offen seien, das Modell der Symphonie wieder umzusetzen, bzw. sei es der russischen Kirche bereits gelungen, dieses Modell umzusetzen. Kirill sieht, ganz in der Tradition der russischen Kirche, die Orthodoxie nicht nur als „Glauben“, sondern auch als gesellschaftliche Zuordnung. Dies korreliert mit der Tatsache, dass, Umfragen zufolge, mindestens. 70 Prozent der Russen sich als „Orthodox“ bezeichnen. Darunter ist aber nicht unbedingt ein kirchliches Zeugnis mit eingeschlossen, sondern vielmehr eine fast „ethnische“ Zugehörigkeit.
Und Kirill nimmt dieses Zeugnis auf und ernst. In diesem Punkt unterschied sich die Orthodoxe Kirche stets von dem, in ihrem Strukturverständnis stets universalitischeren, römisch-katholischen Konzept der „Nation“, aber auch vom Nationsgedanken des 19. und 20. Jahrhunderts in Westeuropa. Die Orthodoxie ist die Basis, der einende Moment, der russischen Nation. Patriotismus ist daher nicht vom Bekenntnis zur Orthodoxie zu trennen, dies äußert sich auch in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat und in den „Außenbeziehungen“ der russischen Kirche zu sognannten „slawischen Brüdervölkern“.
Die Beziehungen Kirche-Staat
Der jetzige Ministerpräsident Putin sah und sieht die Kirche als „gläubiger Christ“, als „orthodoxer Russe“. Seine Gläubigkeit auf Authentizität zu überprüfen ist nicht unsere Sache, sein Bemühen in der Einigung zwischen russisch-orthodoxer Kirche und russisch-orthodoxer Kirche im Ausland zeugt allerdings von zumindest tiefem Verständnis für die patriotische Bedeutung der Kirche. So äußerte er, dass die Wiedervereinigung der beiden Kirchen die wichtigste Voraussetzung für die Einheit aller Russen sei, er selbst, gemeinsam mit dem Präsidenten Medwedew, nimmt im Übrigen an den Osterfeierlichkeiten der Kirche offiziell teil.
Medwedew versendet sogar Ostergrüße, die in ihrem Inhalt weit über allgemeine Feiertagsgrüße hinausgehen und klar die Bedeutung der russischen Kirche als „Grund der Nation“ herausstreichen. In diesem Sinne ist es auch für westliche Beobachter nicht unbedingt überraschend, dass die orthodoxe Kirche an der Jahreswende 2010/11 erwog, ihren Geistlichen wieder die politische Partizipation zu ermöglichen.
Außenbeziehungen der russischen Kirche mit besonderem Fokus auf die Ukraine
Eine besondere Note erfährt die russische Kirchenpolitik dadurch, dass sich ihr kanonisches Einzugsgebiet auf mehrere Staaten erstreckt. Einer dieser Staaten ist die Ukraine. Die Ukraine ist seit jeher Wiege der russisch-orthodoxen Kirche, die „Taufe der Rus“, die mit 988 datiert wird, fand in Kiew statt, Fürst Vladimir, der erste slawisch-orthodoxe Fürst, residierte in Kiew und lange Zeit war der Metropolit von Kiew und der ganzen Rus das Oberhaupt der Kirche.
Patriarch Kirill bezeichnet Kiew gar als „Jerusalem“ der russischen Kirche. Diese kirchenpolitisch klare Positionierung befördert aber auch die Interessen des russischen Staates. Während eines Ukrainebesuchs des jetzigen Patriarchen kam es zu Ausschreitungen und Prügeleien zwischen Anhängern des „slawischen Einheitsgedankens“ und ukrainischen Nationalisten. Die ukrainischen Nationalisten, sofern orthodox, plädieren für die Unabhängigkeit einer „ukrainisch-orthodoxen-Kirche“, während die Gegenseite auf der Zugehörigkeit zur russischen Orthodoxie beharrt.
Diese Auseinandersetzungen gehen sogar soweit, dass Kirill einen Besuch in der Westukraine absagen musste. Auch im Konflikt um die Krim ist der Patriarch zumindest indirekt aktiv, er besuchte 2009 die Krim und setzte damit kirchenpolitische Zeichen. Eine Änderung im politischen Klima, auch und gerade die Kirche betreffend, stellte die Wahl von Viktor Janukowitsch zum ukrainischen Präsidenten dar. Janukowitsch ist dezidiert Russland-freundlich und pflegt gute Beziehungen zum Moskauer Patriarchen. So betete der ukrainische Premier Asarow gemeinsam mit Kirill bei dessen Ukraine-Besuch 2010 um die Überwindung der Spaltung der Gesellschaft in der Ukraine.
Einen Höhepunkt erreichte die Parteinahme Kirills für Janukowitsch als Kirill Janukowitsch 2010 öffentlich als „tiefgläubigen“ Menschen bezeichnete und meinte, der Präsident stütze sich in seiner Politik auf die „orthodoxe Weltanschauung“. Bereits Anfang des Jahres 2010 setzten der Metropolit von Kiew und der Moskauer Patriarch gemeinsam ein Zeichen, indem sie am Amtseinführungstag von Janukowitsch, der auf den Festtag des Heiligen Alexius fiel, der gleichzeitig Metropolit von Moskau und ganz Russland und von Kiew und Wladimir war, eine Liturgie im Höhlenkloster von Kiew zelebrierten.
Dies zeigt, dass die russische Kirche keineswegs gewillt ist, ihren Anspruch auf die Ukraine als kanonisches Gebiet aufzugeben und zugleich gewillt ist, alle Russland-freundlichen Kräfte offen zu unterstützen. Eine solche Haltung kann als wesentlicher Anker auch der Außenpolitik des russischen Staates verstanden werden.
Kurzes Fazit
Eine Analyse des hier Dargelegten lässt uns zu einem klaren Urteil ob der Bedeutung der russischen Kirche im Modernisierungsprozess Russlands kommen. Versteht man die Modernisierung in erster Linie „geistig“, so kann man feststellen, dass die Orthodoxe Kirche eine Liberalisierung und Modernisierung im westlichen Sinne zu verhindern sucht – und dies auch in weiten Bereichen mit Erfolg.
Die „orthodoxe Weltanschauung“, verbunden mit den engen, in diesem Sinne im Westen unbekannten, Beziehungen zwischen der russischen Staatsführung zur Kirche, lassen die russisch-orthodoxe Kirche als wichtigstes kulturelles Fundament (der Eigenheit) Russlands erkennen. Auf dieser Basis haben russische Staatsmänner erfolgreich in der Vergangenheit und Gegenwart auf die „Unabhängigkeit“ Russlands vom west-europäischen Geistesleben gepocht. Die russische Kirche praktiziert seit einer mindestens 300jährigen Pause wieder erfolgreich das Konzept der Symphonie. In ihrer staatsstützenden und identitätsfestigenden Funktion für den russischen Patriotismus, die russische Außenpolitik und das russische Selbstverständnis ist der Einfluss der Kirche gar nicht hoch genug einzuschätzen.
Johannes Auer ist Publizist. Seine Haupt Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind das Verhältnis von Religion und Staat. Besonders beschäftigt sich Auer mit dem Christentum, dem Islam und der religiösen und politischen Situation im Orient, unter Einbeziehung des geographischen Raumes der ehemaligen Sowjetunion. Auer forscht ebenso intensiv auf dem Feld des „Traditionalismus“. Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, den Johannes Auer auf einem Expertenworkshop Ende Mai in Wien hielt.