Schubumkehr

 

Wenn ein Düsenflugzeug zur Landung ansetzt, erschreckt es meist die Passagiere durch ein Aufheulen der Triebwerke. Der Strahl der Düsen wird umgedreht, nach vorne gelenkt und so eine Bremsung der Landegeschwindigkeit erzielt. Die Fluggäste werden aus ihrem Sitz nach vorne gezogen. Wehe, wenn die Schubumkehr irrtümlich während des Fluges einsetzt, dann ist ein Absturz unvermeidbar. So geschehen bei einer Lauda-Air Maschine vor einigen Jahren über Thailand.

Auch in der Politik gibt es eine Art Schubumkehr. Ausgehend von Tunesien erleben wir so etwas gegenwärtig in Ägypten mit Folgewirkungen in der gesamten islamischen Welt. Seit dem Sieg der sogenannten Islamischen Revolution in Persien 1979 unter Ajatollah Ruhollah Khomeini, und speziell seit dem Auftritt des jemenitisch–saudi-arabischen Islamfanatikers Osama bin Laden, galt es unter den Islam-Experten im Westen – allen voran Peter Scholl-Latour – als ausgemacht, dass der vom Propheten Mohammed begründete Kulturkreis unabwendbar in Richtung Radikalisierung seiner religiös bestimmten politischen Grundlagen marschiert, mit schrecklichen Folgen für die Weltzivilisation – der Terrorismus von New York über den Irak bis zum Kaukasus und bis Bali ist nur eine davon.

Doch da ereignet sich seit Jahresbeginn von Tunesien, über Ägypten, Algerien, Jemen bis Jordanien, Palästina, Bahrain und zuletzt sogar bis Libyen und Teheran ein flächendeckendes politisches Erdbeben, das nur Wenige so erwartet hatten. Es handelt sich nicht nur um einen Aufbruch zur Freiheit in einer tendenziell totalitären Kultur und um eine Erschütterung der sozialen Systeme, sondern um einen Paradigmenwechsel vielfältigster Art. Wenn junge Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz in Kairo wochenlang Hand-in-Hand gegen die Staatsmacht ausharrten, einander bis zum Umfallen halfen und unterstützten, dann hat sich in wenigen Tagen etwas gewandelt, das als unveränderbar galt – die arabisch-islamische Tradition der Stellung von Mann und Frau, die sich in Jahrtausenden in den Wüstenstämmen herausgebildet hatte.

Praktisch über Nacht und völlig unerwartet hat in den arabischen Ländern ein neuer Geist Einzug gehalten. Das, worauf Europa und Nordamerika gehofft haben, eine Emanzipation der arabischen Kultur gemäß den Prinzipien der französischen Aufklärung, scheint sich nun unter dem Einfluss der modernen Medien – Handy, Internet, freie TV-Stationen in den Arabischen Emiraten am Golf, allen voran Al Djazzeera – spät, aber doch um sich zu greifen. Es ist kein Zufall, dass dort, wo der erste farbige US-Präsident vor eineinhalb Jahren in Kairo ermutigend gesprochen hat – von der Vision eines freien politischen Systems in den islamischen Ländern – dass genau dort jetzt diese Revolution ausbricht.

Wie es scheint, haben jene Philosophen recht behalten, die auch im historischen Ablauf Gesetze der kosmischen Evolution am Wirken sehen – wie den Quantensprung der Elemente auf eine höhere Ebene und dort die Herausbildung von Synthesen und Synergien – und die voraussagten, dass auch der Islam der Tendenz zur Freiheit nicht widerstehen könne und entweder seine Lehre anpassen werde oder Anhänger verlieren könnte (Es sei hier an die großen Ganzheits- und Evolutionsphilosophen erinnert: Konstantin Ziolkovsky, Jan Smuts, Othmar Spann, Teilhard de Chardin, Christof Günzl und Humberto Maturana). Wenn sich der Staub der gegenwärtigen Transformationsprozesse gelegt haben wird, sehen wir vermutlich einige Demokratien und offene Gesellschaften im nahöstlichen Raum vor uns: Jordanien, West Bank, Ägypten, Tunesien, vielleicht auch Marokko sowie – nicht zu vergessen – Afghanistan, Pakistan und Irak. Und Algerien, Jemen, Libyen und Iran stehen schwer unter Druck.

Der gesamte Raum von den Säulen des Herkules bis zum Indus erlebt eine Art Schubumkehr auf dem Flug dieser Gesellschaften auf jener Zielrichtung, die Osama bin Laden und Mahmoud Ahmadinejad zuletzt vorgegeben hatten. Wie so oft ließen wir uns von den großen Wirkungen der Gewalt blenden und auf die vielen evolutionären Prozesse vergessen, die im Untergrund laufen. Höhere Schulbildung, weltweites Fernsehen, Kommunikation in Echtzeit bis in die Slums hinein pflügen rückständige, gewaltbasierte Gesellschaften immer schneller um. Nicht zu vergessen der ölbasierte wirtschaftliche und zivilisatorische Erfolg innovativer Golfstaaten wie Kuwait, Dubai, Sharja, Katar, Bahrain, Abu Dhabi und Oman. Auch das reiche, mächtige Saudi Arabien steht diesen Einflüssen hilflos gegenüber und hat die allgegenwärtige Religionspolizei zur Lachnummer verkommen lassen. Und es gibt brillante Köpfe in Er Riyad, die ein offeneres, liberaleres Land rund um Mekka wünschen.

Werfen wir bei der Gelegenheit einen Blick auf das belagerte Israel. Die Sprachlosigkeit Jerusalems zu den Ereignissen in der arabischen Welt fällt auf. Man ist in Sorge, weil man dem eigenen Erfolg nicht so recht traut. Der Erfolg des jungen Israel war die Etablierung einer echten Demokratie im Nahen Osten, die auch die eigenen arabischen Einwohner beteiligte. Jahrzehntelang sprach man vom Wunsch nach demokratischen Partnerländern rund um seine Grenze. Nur das königliche Jordanien ist dem in Ansätzen nahegekommen, wenn wir von der älteren Demokratie im halbchristlichen Libanon absehen. Die Vorstellung dabei war, dass demokratische Regimes keine Kriege anzetteln. Jetzt käme der Test dieser These, aber statt dass die israelischen Politiker die neue Perspektive mit Sympathie umarmen, singen sie Hohelieder auf jene autokratischen Regimes, die auf den Frieden mit Israel setzten, aber dafür den Nationalismus der eigenen Leute niederprügelten.

Es wird spannend sein zu beobachten, wie jetzt Israel mit der neuen Situation zurechtkommt.

Die Türkei ist seit dem Amtsantritt der islamischen AKP-Partei Recep Tayyip Erdogans kein befreundetes Land mehr. Wie sich Ägypten unter demokratischen Verhältnissen orientieren wird, sollte uns nicht ganz gleichgültig sein.

Israel dürfte jedenfalls in Ägypten einen stillschweigenden Partner für einen Militärschlag gegen das iranische Atomprogramm verloren haben. Noch hält Saudi-Arabien die Flugbahn für israelische Jets nach Teheran offen, aber das kann sich jede Minute ändern. Tollkühne militärische Operationen sind eine Spezialität Israels. Aber jetzt ist es wohl die Perspektive eines demokratischen Wandels im Iran, welche die Planungsstäbe in Jerusalem motivieren wird. Und man weiß von Barack Obama und US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass sie Israel nur im Fall einer Verteidigung unterstützen werden – nicht bei einem Angriff.

Der gewaltige Flüchtlingsstrom von Tunesiern nach Italien zeigt die Dringlichkeit eines „Marshall-Plans“ für den Nahen Osten. Hier sind Amerikaner und Europäer ebenso gefragt wie andere Konsumenten des Erdöls dieser Region – China und Japan, aber auch die Produzenten von Dhahran bis Kuwait.

Die militärischen Optionen für Israel haben sich schlagartig verringert, aber bei einer klugen Strategie könnte es politisch gewinnen. Ein Stopp des provokativen Siedlungsbaus auf dem Gebiet der palästinensischen Autonomie wäre jetzt das Mindeste, das man von der Regierung in Jerusalem erwarten sollte. Israel könnte in dieser historischen Stunde mit einem Feuerwerk an politischen Ideen seine Nachbarn und die Welt überraschen. Wird es dazu kommen? Ein Korrespondent nannte Netanyahu den „Mubarak Israels“. Aber auch das ist nicht in Stein gemeißelt.

Paul Fischer hat 21 Jahre im Journalismus gearbeitet; er startet nun eine zweite Karriere als Reiseleiter. Demnächst aber nicht im Nahen Osten.

 

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