Politischer Hörsturz

Politik ist unter anderem dadurch erkennbar, dass sie den wirklich relevanten Problemen hinterher keucht. Viele Vorboten von gesellschaftlichen Entwicklungen werden entweder gar nicht erkannt, zu spät erkannt, oder zwar erkannt, aber nicht zur Kenntnis genommen. Beispiele dafür, dass Frühsignale für manches, was uns heute plagt, im Grunde vorhanden waren, liefern die Titel von IMAS-Reports aus vergangenen Jahren mit klaren Bezügen auf die Zukunft.

In allen Berichten wurden die Probleme, mit denen sich Parteien, Sozialpolitiker, aber auch Kirche gegenwärtig herumschlagen, auf der Basis empirischer Untersuchungen klar beschrieben. Es ist bezeichnend für den Umgang mit der Demoskopie, dass erst mit zeitlicher Verzögerung über Dinge diskutiert wird, die man bereits viel früher hätte anpacken oder politisch "erlernen" können. Zum Beispiel das Altern der Gesellschaft in den verschiedensten Ausformungen oder die diversen Begleitentwicklungen der Zuwanderung.

 Reaktion auf den sozialen Wandel muss rasch erfolgen

Die verspätete Diskussion über zentrale Zukunftsprobleme hat nachteilige Folgen für diese und kommende Generationen. Fazit: Es geht in der Politik nicht mehr allein darum, gesellschaftsadäquate Maßnahmen zu treffen; die Reaktion auf den sozialen Wandel muss auch rasch erfolgen.

Die heutige Politikergeneration wird dieser Erfordernis nur sehr unvollkommen gerecht. Ihr eigentlicher Makel besteht nicht in fehlender Moral, die ihr üblicherweise vorgeworfen wird, sondern in einer merkwürdigen Schwerfälligkeit und einem mangelnden Verständnis für Entwicklungen – allerdings auch in der Unlust, von den ausgetretenen Trampelpfaden des Denkens abzuweichen. Probleme, auf die man keine Antwort weiß, werden von den Parteizentralen allzu gern ausgegrenzt oder gar tabuisiert, bis sie (siehe demografische Wende oder Zuwanderung) umso härter auf den Alltag zurückschlagen.

Man tut also gut daran, die vielzitierte Politikverdrossenheit nicht so sehr unter dem Aspekt eines vermeintlich moralischen Versagens der Mandatare, als vielmehr unter dem ihrer Sprach- und Orientierungslosigkeit zu betrachten.

Heilsuche in der direkten Demokratie

An der inneren Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten sowie der geringen Überzeugung der Bevölkerung vom politischen Durchblick der Regierenden gibt es keinen Zweifel. Die Parteizentralen spüren das und sprechen von der Notwendigkeit einer verbesserten Kommunikation, ohne recht zu wissen, welche Botschaften sie eigentlich vermitteln möchten.

Als weiteres Rezept gegen die Politikverdrossenheit gilt neuerdings die verstärkte Einbindung der Wähler in politische Entscheidungsprozesse mithilfe von Volksbefragungen. Der Schlüsselbegriff heißt "direkte Demokratie". Die Hoffnung, daraus politischen Profit zu ziehen, ist groß. Manchmal ist sie (man denke an die Wiener Abstimmungen über den Einsatz von Hausbesorgern oder verpflichtende Hundeführerscheine) sogar größer als die Furcht vor Lächerlichkeit.

Der Wert von Volksbefragungen und -entscheiden ist dann gegeben, wenn sich komplexe Vorgänge von überdies fundamentaler Bedeutung auf Grundpositionen und einfachste Formeln reduzieren lassen. Das ist selten genug der Fall. Abgesehen von der Schwierigkeit, verzweigte Probleme in eine einzige simple Frage zu pressen, besteht ein weiterer sehr entscheidender Nachteil dieser Art von Plebisziten in der zumeist unbefriedigend geringen Wahlbeteiligung und, damit einhergehend, in einer groben Verzerrung der Ergebnisse zugunsten engagierter Minderheiten.

Im Übrigen stellt sich die Frage, wie viele Volksbefragungen unter dem Gesichtspunkt ihrer hohen Kosten, aber auch der Unbequemlichkeiten für den Wähler überhaupt durchgeführt werden können. Die Beteiligung ist schließlich mit erheblichen Mühen verbunden.

Die demoskopische Alternative

Derartige Nachteile und Schwächen sind bei statistisch-repräsentativen Umfragen nicht gegeben. Sauber durchgeführte Erhebungen sind in der Lage, sowohl komplizierte Sachverhalte zu klären als auch die Motivhintergründe von politischen Einstellungen erkennbar zu machen. Repräsentativbefragungen stellen somit weiterhin die mit Abstand beste Methode der Massendiagnose dar, wenngleich sie rund hundert Jahre nach ihrer Entdeckung durch den Engländer Sir Arthur Bowley im politischen Bereich immer noch auf Vorbehalte stoßen.

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der vielfältige Nutzen der Demoskopie für die Wirtschaft längst außer Zweifel ist. Kein größeres Unternehmen würde es heutzutage noch wagen, ein Produkt auf den Markt zu bringen, ohne sich zuvor eine gesicherte Kenntnis von Bedarf, Verbraucherwünschen, Preisvorstellungen, Einkaufsquellen, der bestmöglichen werblichen Ansprache und der optimalen Kommunikationsträger verschafft zu haben.

Anders ist das bei Politikern und Parteien. Sie steuern, in der Hoffnung, es werde schon nicht blitzen, oft recht unbekümmert Gewitterwolken entgegen, obwohl sie ein gut funktionierender demoskopischer Wetterdienst vor Absturzgefahren bewahren könnte. Als Richtschnur dient den Parteizentralen ganz allgemein eher die veröffentlichte als die öffentliche Meinung. Und das ist ein Fehler.

Die klassischen Vorbehalte gegen Umfragen

Im Gegensatz zu ihrer unbestrittenen Orientierungsfunktion in der Wirtschaft wird die Demoskopie in der Politik freilich oft als ein gefährliches Einflussinstrument wahrgenommen. Die klassischen Vorwürfe lauten:

  • Umfrageergebnisse verführen Politiker zu einem opportunistischen, „populistischen“ Handeln, also zu dem, was Theodor Eschenburg als „Gefälligkeitsdemokratie“ bezeichnete.
  • Die Veröffentlichungen von Parteipräferenzen erzeugen Mitläufereffekte, die sich (als „bandwaggon-Effekt“) zugunsten der überlegenen und (als „underdog-Effekt“) zugunsten der unterlegenen Partei auswirken können.
  • Die Meinungsbefunde bewirken „Mobilisierungseffekte“, indem sie in einer Kopf-an-Kopf-Situation die Anhänger der vermeintlich schwächeren Partei an die Wahlurne treiben.
  • Durch Umfrageergebnisse entstehen vor Wahlen „Fatalismus-Effekte“, wonach Personen, die glauben, die eigene Partei habe ohnehin keine Chance, der Wahl fern bleiben.

Keines der genannten Vorurteile hält einer empirischen Überprüfung stand. Aber selbst dann, wenn Menschen tatsächlich Schlüsse aus der Veröffentlichung von Umfragedaten ziehen sollten, stellt sich immer noch die Frage, warum sich die Wähler in einer Demokratie nicht eine Meinung bilden sollten in voller Kenntnis dessen, wie andere denken.

Kritik am Umgang mit Politumfragen

Was aus unserer Sicht weit mehr Gewicht hat als die beschriebenen Phantomgefahren, ist die Art und Weise, wie demoskopische Befunde von der Politik genutzt werden. Hier besteht ein Hauptübel darin, dass die Umfrageforschung zu viel zur vordergründigen Ermittlung von Parteipräferenzen oder Positionsbestimmungen der Politiker in der öffentlichen Meinung herangezogen wird und zu wenig zur Entdeckung sozialer oder wirtschaftlicher Lebenswelten, sowie der politischen Denkmuster der Bevölkerung. Zur Nutzfunktion der Demoskopie gehört auch die Ermittlung von Wissenslücken oder Fehlvorstellungen der Wähler, die nicht selten politisch sinnvollen Lösungen im Wege stehen.

Es geht also keineswegs nur um die Frage: "Was möchte das Volk?", sondern darum, wie weit sich ein Politiker auf der Basis seines besseren Sachwissens von der öffentlichen Meinung entfernen darf, ohne in Kauf nehmen zu müssen, abgewählt zu werden.

Die Rolle der Demoskopie

Demoskopie ist ihrem Wesen nach kein Denkautomat, bei dem man oben das Geld hinein wirft und unten die fertige Lösung herauszieht. Sie hat nicht den Ehrgeiz, den Politikern das Privileg kreativer Überlegungen zu entreißen, oder sie von ihrer historischen Verantwortung zu entbinden – sie versteht sich als Orientierungsinstrument für das Erkennen gesellschaftlicher Zusammenhänge, zugleich aber auch als eine Art Telefon, mit der sich die breite Bevölkerung in Form von Umfragebefunden den politischen Entscheidern erkennbar machen kann.

Das Nachdenken über die Umfrageforschung führt letztlich zu der noch ungelösten, allerdings auch undiskutierten Frage, wie sie sich in das moderne Staatsdenken einordnen lässt. Der Züricher Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen schrieb einmal, allein die Existenz der Demoskopie decke eine staatstheoretische Schwäche auf.

Andreas Kirschhofer-Bozenhardt ist der langjährige Leiter des renommierten Meinungsforschungsinstituts Imas.

 

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