Nicht mit der Lüge leben: Auch das Christentum steht in schroffem Gegensatz zum Grundgesetz. Wider die Heuchelei im Umgang mit Islam und Muslimen.
Die gutgemeinte Rede des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff zum Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober 2010 hat wegen ihrer Aussage, jetzt gehöre auch der Islam zu Deutschland, zu heftiger Kritik geführt. Inhaltlich findet sich die Kritik in den Argumenten vorgeformt, die Professor Karl Doehring, der ehemalige Direktor des Instituts für öffentliches Recht und Völkerrecht am Max Planck-Institut, in der FAZ vom 23. September 2010 („Niemand kann zwei Herren dienen“) herausgearbeitet hat.
Der Islam, so Doehring, sei im Gegensatz zum Christentum und Judentum nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Während Wulff meinte, nichts hindere hier ansässige, gläubige Muslime an der Zugehörigkeit zu Deutschland, hält Doehring die „Treue zur Verfassung“ von Muslimen nicht für darstellbar. Bei Muslimen stünden Religionsfreiheit, Menschenwürde, Geschlechterverhältnis, Gleichheitsgrundsatz, Familienrecht, Eigentumsordnung, Toleranzgebot wie ja überhaupt alle Menschenrechte unter Koran- und Schariavorbehalt, wodurch der Inhalt dieser Rechte und Verhältnisse mit den Wertvorstellungen des Grundgesetzes in einem schroffen, unüberbrückbaren Gegensatz stehe.
Für den Leser dieses Beitrags von Doehring drängt sich damit logisch zwingend der Schluß auf: Muslime müssen ihren Glauben aufgeben, wollen sie sich integrieren und verfassungstreue deutsche Bürger werden. Halten sie an ihrem Glauben fest, so wird ihr Schwur auf die Verfassung zum Meineid und das Versprechen der Verfassungstreue oder ihr Rechtsgehorsam zur Heuchelei.
Professor Doehring ist der Ansicht, dass - im Gegensatz zum Islam - christliche Glaubensvermittlung mit dem Grundgesetz nicht in Konflikt gerät. Zwar sei, meint er, auch der christlich-abendländische Staat von religiösen Vorstellungen geprägt, doch dank „dogmatischer Wandlungen“ wurde es möglich, dass Religion und Politik getrennt werden und der „säkulare Staat“ sich verselbständigen konnte.
Für gläubige Muslime ist die Forderung, ihren Glauben aufzugeben, natürlich unzumutbar. Aber statt ihnen unzumutbare Forderungen aufzubürden, sollten wir Christen uns erst einmal die Frage vorlegen, ob denn eigentlich das Christentum mit dem Grundgesetz nun wirklich – wie Doehring meint – vereinbar ist oder ob wir uns hier vielleicht einer Illusion hingeben? Steht nicht für den Katholiken das Grundgesetz unter „Evangeliumsvorbehalt“?
Welche Pflichten und Aufgaben dieser Vorbehalt jedem katholischen Politiker auferlegt, das hat präzise Pius XI. schon im Titel seiner großen Sozialenzyklika festgeschrieben: „Die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und Vollendung nach dem Heilsplan des Evangeliums“, d. h. nach der Frohen Botschaft von der Ankunft des Reiches Gottes auf Erden. In der „lehrmäßigen Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ (Vatikanische Glaubenskongregation, 2002, n. 9) werden diese Aufgaben und Pflichten mit allem Nachdruck eingemahnt.
Wie steht es also angesichts dieser Pflichten mit der Behauptung der Konfliktlosigkeit von Grundgesetz und Evangelium? Ein Blick in die lehramtlichen Dokumente der katholischen Kirche kann uns da belehren.
Beginnen wir gleich mit dem für den modernen Verfassungsstaat angeblich so wichtigen „Prinzip der Trennung von Religion und Politik, Kirche und Staat“. Diese Trennung, da sind sich die Politologen mit den Historikern einig, ist ein Konstrukt der Aufklärung. Von der Kirche wird sie als Häresie („Irrlehre“) bezeichnet. Die kirchliche Formel lautet „ungetrennt, unvermischt“.
In der Geschichte hat die Trennung sich nie durchgesetzt. Wer einen Blick auf den Artikel des vatikanischen Kirchenhistorikers Walter Brandmüller „Der Papst und die Wende im Osten“ (1992) richtet, wird erfahren, welchen Beitrag die Verbindung von Religion und Politik auch noch in unseren Tagen zu leisten vermag und geleistet hat. Nach dem Urteil des Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, scheiterte das Sowjetimperium nicht am Wettrüsten oder der Verschiebung militärischer Gewichte, sondern an der Unüberwindbarkeit des Felsen Petri, der damals von einem Papst, der aus dem Ostblock kam, eingenommen wurde. Durch den „Glanz der Wahrheit“, der von Rom ausstrahlte, verloren das säkulare Sowjetimperium und die kommunistische Ideologie ihre Glaubwürdigkeit und moralische Bindekraft.
Der „säkulare Staat“, den Doehring preist, ist in Wahrheit eine Schimäre. Der moderne Staat beschränkt seine Funktion ja keineswegs darauf, für ein geordnetes Zusammenleben der Bürger in Freiheit und Sicherheit zu sorgen, sondern greift weit darüber hinaus. Er verkörpert „Werte“, die er durchzusetzen trachtet. Dadurch erst wird er zum „Kulturstaat“, „Erziehungsstaat“, „Bildungsstaat“, „Sozialstaat“ und „Rechtsstaat“. Bei Wertentscheidungen verbietet sich „Neutralität“.
Der Staat muss beispielsweise entscheiden, ob und welche religiösen Zeichen, Vorschriften und Gebräuche er im öffentlichen Raum zulässt und achtet oder verbietet und verbannt. Sein Entscheidungsbereich erstreckt sich von den Konkordaten mit der Kirche, der materiellen Unterstützung von Kultusgemeinden bis hin zu Bekleidungsvorschriften oder zu den Speiseplänen in seinen Krankenhäusern.
Im Eingeständnis der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel am 16. Oktober 2010, dass Mulitkulturalität „absolut gescheitert“ ist, kommt die Überforderung des Staates zum Ausdruck, mit Parallelgesellschaften unterschiedlichster Art fertig zu werden. Nicht jede ist mit dem kulturgeprägten staatlichen Normensystem kompatibel. So ist eben auch der deutsche Staat gezwungen zu diskriminieren, will er seine vom Christentum geprägte Leitkultur bewahren und fördern. Staatlich garantierte Religionsfreiheit ist nicht zu verwechseln mit der Freiheit des Staates von der Religion, Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit.
Auf die Notwendigkeit, Religionsgemeinschaften staatlicherseits zu unterscheiden und zu diskriminieren, hat der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Prof. Dr. Paul Kirchhof, in einem grundlegenden Beitrag („Die postsäkulare Gesellschaft“ in der FAZ vom 3. Juni 2004, S. 8) hingewiesen: Die These, der Staat müsse wegen der Religionsfreiheit alle religiösen Äußerungen und Institutionen gleich behandeln, „ist falsch“.
In einem von „christlicher Leitkultur“ geprägten Staat sind „Werte“, „Rechte“ und „Gesetze“ nicht Produkte der Willkür, von „Konsens“, „Diskurs“ oder „Aufklärung“. Sie sind daher niemals bloß „säkular“, sondern „heilig“, ganz in dem Sinne, in dem auch Kant dieses Wort gebraucht. Sie „nähren“ sich vom „Göttlichen“. Nach katholischer Lehre wurden sie von Gott „geoffenbart“ (ius divinum) oder sie sind Ausfluß des „Naturrechts“ (ius naturale), das in die Herzen der Menschen von Gott „eingeschrieben“ wurde.
Wenn auf der Maiestas-Domini-Platte der in Wien aufbewahrten Kaiserkrone über Christus, dem „Pantokrator“, der Spruch zu lesen ist: „Per me reges regnant“, dann ist das nicht nur ein beliebiges Motto. Der Spruch: „Durch mich regieren die Könige … und verordnen die Mächtigen das Rechte“ (Spr 8, 15-16) drückt den Kern der katholischen Staatsauffassung bis zum heutigen Tage aus. Aut Christus aut nihil. Mit dem Christkönigsfest wird dieser Kern der katholischen Staatsauffassung in jedem Jahr gefeiert.
An diesem Kern der katholischen Staatsauffassung hat die „Aufklärung“ nichts geändert. Jüngst hielt der evangelische Theologe Prof. Dr. Friedrich W. Graf in der FAZ (Sonderbeilage zur Konferenz der Herrhausen-Gesellschaft 2010, S. 21) Papst Benedikt XVI. vor, seine Rede von der „Diktatur des Relativismus“ spiegele „eine radikale Absage an Prinzipien der Aufklärung und des Liberalismus“. Das ist richtig. Die Kirche konnte in der Tat nie „der liberalen Ideologie beipflichten, die einseitig die Freiheit der Person überbetont, sie von jeder Bindung an Normen lösen möchte, nur aufstachelt zum Erwerb von Besitz und Macht, die sozialen Beziehungen der Menschen fast nur noch als sich von selbst einstellende Ergebnisse der privaten Initiativen ansieht, nicht aber als Ziel und das Merkmal, wonach die Würde einer wohlgeordneten Gesellschaft sich bemißt“ (Paul VI., Octogesima adveniens, 1971, n. 20).
Die Würde einer wohlgeordneten Gesellschaft – wir haben es oben angedeutet – hängt nach katholischer Lehre davon ab, inwieweit sie das Reich Gottes hier auf Erden verwirklicht. Den Kampf um das Reich Gottes, um den christlichen „Gottesstaat“, um die Civitas Dei, geführt gegen das bloß „säkulare“ Reich der Civitas terrena, hat Augustinus jedenfalls den Katholiken, ob sie nun Geistliche, Politiker oder Laien sind, zur Pflicht gemacht.
Daran hält die katholische Kirche, allem vermeintlichen „dogmatischen Wandel“ zum Trotz, bis heute fest. Sie kennt keine bloß „säkularen“, „profanen“ oder „autonomen“ Funktionsbereiche der Gesellschaft, denn auch „die schwierige Welt der Politik, der Kultur, der Wirtschaft und des Sozialen“ sind durch ihre „transzendente Dimension“ auf Gott bezogen und „Bausteine für das Reich Gottes“ (vgl. Paul VI., Evangelii nuntiandi, n. 70, Rom 1975).
Die Idee des „Gottesstaates“ hat die katholische Religion jedenfalls mit dem „Haus des Islam“ und selbst mit dem zionistischen Judentum gemeinsam. Das heutige, zionistische Israel definiert sich als „Staat der Juden“ und damit von der Religion des Alten Bundes her. Keine Hochreligion verzichtet auf die Durchdringung oder Durchsäuerung des gesellschaftlichen, politischen oder staatlichen Lebens mit „Werten“, „Menschenrechten“ und „Gesetzen“, die sie aus der sakralen Sphäre herleitet. Durch diese Durchdringung schaffen Hochreligionen ihre spezifische Kultur.
Die Absage der Kirche an die „Aufklärung“ („Enlightenment“, „Illumination“) hängt mit der religionskritischen, die Existenz des menschgewordenen Gottes relativierenden und schließlich verneinenden Einstellung der Philosophie der Aufklärung zusammen. Für die Kirche ist „Aufklärung“ nichts anderes als das Projekt der Loslösung (Emanzipation) des Menschen von Gott und schließlich von jeglicher Autorität, der väterlichen, der kirchlichen und auch der staatlichen Autorität, unter Rekurs auf die einzelmenschliche Vernunft.
Durch diese Loslösung wird „Aufklärung“ nach katholischer Auffassung zum Eingang in die selbstverschuldete Unmündigkeit, die zwischen Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden vermag. Der Mensch, der sich von Gott löst, wird unweigerlich „der Sünde Knecht“ (vgl. Joh 8, 34). In ihm schweigt die Stimme des Gewissens, er folgt ungezügelt Trieben und Neigungen, wird zerfressen von der Gier nach Reichtum und Macht. Was am Ende an „Werten“ noch zählt, ist „Fun, Sex and Money“.
Der Staat, der nur noch mit materiellem Wohlleben und „Wachstum“ seine Bürger „besticht“, wird, wie Platon das nannte, zum „Schweinestaat“. Mit seinen falschen, ideologiegetränkten Pseudo-„Werten“ entwickelt er, wie das Johannes Paul II. wusste und am eigenen Leib erfahren hatte, einen „offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“, der unweigerlich in die „Kultur des Todes“ mündet. Er „schafft sich ab“. Im Kulturkampf hat der „säkulare“ Staat keine Überlebenschance. Seine „Verfassung“ bietet keinen Schutz.
Das „demokratische Prinzip“ findet seine klarste Formulierung im Artikel 1 der österreichischen Bundesverfassung: „Das Recht geht vom Volk aus“ (ähnl. Art. 20 GG). Für gläubige Christen war und ist dieser Satz genauso inakzeptabel wie für gläubige Muslime. Sie beharren darauf, „das alles Recht von Gott ausgeht“, der letzten Quelle aller Rechte und Pflichten.
Auch die Kirche hat für sich selbst das demokratische Prinzip nie akzeptiert. Sie, die sich als „vollkommene Gesellschaft“ (societas perfecta) versteht, beruht, wie auch jede staatliche oder gesellschaftliche Institution, bei der es auf Leistung ankommt, auf Autorität und Hierarchie. Für die Kirche sind geistliche und weltliche Autorität oder „Gewalt“ legitim, wenn sie auf geistiger Gültigkeit und Einsicht in das Not-wendige fußen.
Legitime Autorität hängt also mit dem „Heil“, dem „Gemeinwohl“ oder der „Wohl-Fahrt“ und so auch wiederum mit dem „Reich Gottes“ zusammen, auf das hinzuführen alle geistliche und weltliche „Hierarchen“ oder Amtsinhaber verpflichtet sind. Wie alle Macht, so geht auch die ihnen anvertraute Gewalt nicht vom Volk, sondern von Gott aus (Röm 13,1). Darüber sind sich Muslime mit Christen und Juden einig, und alle stehen sie damit im Widerspruch zum „demokratischen Prinzip“ nach Art. 20, Abs. 2 des GG´s.
Es gehört zu den Missverständnissen und Missinterpretationen unserer Zeit, Demokratie mit „Volksherrschaft“ gleichzusetzen. “Das Volk hat noch in keinem Sinne je geherrscht“, belehrt uns der gewiß rechtsextremer Ansichten unverdächtige österreichisch-britische Wissenschaftstheoretiker und Sozialphilosoph Sir Karl R. Popper.
Demokratie ist also schon vom Wort her „Die Große Lüge“. „Nicht mit der Lüge leben“, schrieb einst der russische Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn an die sowjetische Führung. Von Muslimen und von Christen aber wird verlangt, mit der demokratische Lüge zu leben. Doch das stößt zunehmend auf Widerstand. Lissabon-Vertrag, Afghanistaneinsatz, Griechenland- und EURO-Garantien, Zuwanderung, Stuttgart 21, Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken werden nicht einfach hingenommen, sondern zum Teil aggressiv hinterfragt. Das Volk sieht sich nicht mehr durch seine gewählten Repräsentanten und die politischen Parteien vertreten.
Die Frage, wer im Staat in wessen Interessen und zu welchen Zwecken denn eigentlich regiert, wird vehement gestellt und erörtert. Die Bemerkung des bayrischen CSU-Chefs Horst Seehofer, wonach „diejenigen, die entscheiden, nicht gewählt sind, und diejenigen die gewählt sind, nichts zu entscheiden haben“, hat den Vorhang der Lüge zerrissen, mit der die parlamentarische Demokratie die Wahrheit verhüllt und verschleiert.
Jetzt wird auch dem Einfältigsten klar: Mit „Demokratie“ wurde „der falsche Gott“ angebetet (H.-H. Hoppe: Democracy, The God that Failed, 2001), ihre Wahrheit verbirgt sie hinter „schönem Schein“ (H. H. von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie, 2000). Kirchliche und islamische Autoritäten haben diesen „schönen Schein“ immer schon durchschaut. Sie oder ihre Anhänger auf das „demokratische Prinzip“ einzuschwören, führt unweigerlich zum demokratisch-jakobinischen, roten oder braunen Terror mit Kirchenverfolgung, Priestermord und Genozid.
Nach solchen Ausführungen wird unvermeidlich die Frage gestellt: Was tun? In einer Dialogveranstaltung der Kirche mit den politischen Parteien hat sie einer der namhaften und leider viel zu früh verstorbenen österreichischen Politiker auf inhaltlich unerwartete Weise beantwortet: „Die Re-Evangelisierung ist die wichtigste politische Aufgabe Europas."
Wer eine solche Antwort gibt, der läuft Gefahr sich lächerlich zu machen und verspottet zu werden – der Papst hat das während seines Englandbesuches angedeutet. Doch immer mehr Bürgern wird heute bewusst, auf welch brüchigen Fundamenten unser Staatswesen steht. Sie machen sich Sorgen um ihre Existenz und die Zukunft ihrer Kinder in einem Staat, der sich auflöst und dessen politische Klasse sich nicht mehr am Gemeinwohl orientiert.
„Von der Religion, mit der Gott verehrt wird, hängt das Wohl des Staates und der Gesellschaft ab“. Auf Politiker, die diesen Satz Leo XIII. aus „Immortale Dei“ in seiner Tragweite verstehen und danach handeln, werden sie wohl noch länger warten müssen.
Univ.-Dozent Dr. Friedrich Romig lehrte Politische Ökonomie in Wien, Graz und Aachen. Er war Mitglied der Europakommission der Österreichischen Bischofskonferenz.