„Er hat nichts aus der Geschichte gelernt!“ Das wird oft behauptet, doch es stimmt nie. Jeder Mensch lernt unablässig aus der Geschichte; er kann gar nicht anders. Viel geschieht unversehens, schier automatisch, nicht wenig unbewusst.
Auch Vergessen, Verdrängungen und Brüche exkulpieren nicht davon, sondern sind dazu angetan, das Gelernte ins Unterschwelige zu verschieben. Alle Bestrebungen, mit der Geschichte „abzuschließen“, sind letztlich zum Scheitern verurteilt. Ein Leben ohne Herkunft, quasi aus dem Nichts, geht nicht. Allenfalls gelingt eine Flucht in ein Leben mit verfälschter Herkunft.
Gewissermaßen ursprünglich, jedenfalls aber am bequemsten steht das Lernen in Abhängigkeiten und in Gegenabhängigkeiten in üppiger Blüte:
- dass alle Fehler wiederholend gelernt wird,
- dass man einfach mit dem Strom schwimmt, sich eben Übliches auferlegen lässt oder es in totaler Anpassung sogar sucht,
- dass man ins pure Gegenteil verfällt.
Derlei unbedarftes Lernen nötigt oder verleitet zur Fortführung übler alter und zur Ausbildung übler neuer Gewohnheiten, bringt aber keine Ausschaltung des Lernens aus der Geschichte, viel eher den Rückzug in ein Leben in der Vergangenheit.
Also nicht, ob aus der Geschichte gelernt wird, lässt sich bestimmen, sondern WAS und WIE gelernt wird. In der guten Möglichkeit geht es um ein klar bewusstes, ein kritisches (unterscheidendes und entscheidendes) Lernen! Auf dem befreienden Weg zur persönlichen Autonomie mit selbst gewählten Bindungen! In Erkenntnis der Wurzeln und der von innen und von außen auf unsere Wahrnehmungen einwirkenden Einflüsse! Vor allem in Überwindung der Fehler! Schließlich in initiativen Sinnbezügen zu den Offenheiten der voraussehbaren Zukunft!
Freilich soll nicht jeder Schmarrn das Gedächtnis füllen. Indes, mit dem, was wir an Wesentlichem und Wichtigem wach halten, was wir in kritische Auseinandersetzung nehmen, schaffen wir die erforderlichen Grundlagen zur Wachsamkeit. Aggressiv aufgeheizte Erinnerungen, wie sie oft und oft zu Konflikten und zu grauenhaften Kriegen benützt worden sind, sind ihrer verderblichen Macht zu entkleiden. Sie können in Empfindungen, Gedanken und Taten der Versöhnung übergeführt werden.
Wäre das neue Europa ohne kritisches Gedächtnis insbesondere an die Kriege zwischen Deutschland und Frankreich gelungen? Was hat die Wahrheitskommission in Südafrika bewirkt? Wie ist es im Vergleich 1989 mit der deutschen Wiedervereinigung und gleichzeitig mit den Hetzreden des Miloševi? in Jugoslawien zugegangen?
Allein gegen das vernünftige und anspruchsvolle Lernen aus der Geschichte herrschen in der Tat viele Lernverweigerungen und -vernachlässigungen. Und dies, obwohl gerade darin die einzigartige, die großartig riskierte Chance der menschlichen Entwicklung liegt! Für den strebsamen Menschen, der in seiner Gegenwart dreifach als geschichtliches Wesen existiert, nämlich von Natur aus, von Kultur aus und in seiner persönlichen Lebensführung, bleibt die Wahrnehmung dieser Chance unverzichtbar.
Es gibt nicht weniges, was namentlich aus unserer Zeitgeschichte wacher Begegnung und kritischer Auseinandersetzung bedarf:
- Uferloses Maximieren zulasten der Qualitäten,
- rücksichtslose Ausbeutung,
- Verschleißverhalten,
- Verlagerung der Lasten auf andere,
- mancherlei Überdruss im Überfluss,
- schrankenlose Gier, Unzufriedenheit auf hohem Niveau,
- Uniformierungen, Vermassungen,
- Persönlichkeits- und Gemeinschaftsverluste,
- Spaß, der die Freude verdrängt,
- Aufgeregtheiten, die die Gelassenheit ersticken,
- fordern, zuschauen, wegschauen statt beitragen, sich engagieren und eingreifen,
- eingeschränktes Aufgabenbewusstsein und verkürzte Verantwortung,
- Existenzängste, ausuferndes Misstrauen,
- wachsender Extremismus,
- Aggressionen, Untergangsmentalitäten, Verschwörungstheorien, Sündenbockverhalten,
- Beschönigungen und Verteufelungen,
- explodierendes objektiviertes Wissen bei gleichzeitiger Verarmung der subjektiven Orientierung,
- ausufernde projektive Wahrnehmungen,
- Informations- und Orientierungsverluste zufolge des Überwucherns durch Unterhaltung und Agitation,
- oder oberflächliche Kurzlebigkeit.
Die Gegenwart hat unausweichlich ihre Vergangenheit und wird alsbald von einer Zukunft abgelöst. Was wollen wir von dem erfassen, was aus der Vergangenheit gegenwärtig Wirkungen ausübt? Wie wollen wir uns damit auseinandersetzen oder wollen wir es kritiklos über uns und mit uns walten lassen? Was ist beizubehalten, was weiterzuentwickeln, was zu ändern, was neu zu schaffen? Wie weit und wie intensiv sollen schließlich die Auswirkungen in die Zukunft bedacht werden?
Das Lernen aus der Geschichte vollzieht sich in der stattfindenden Wiederverlebendigung immer schon auch erneuernd. Was wir aufnehmen, uns anverwandeln, geschieht immer durch selektive Wahrnehmung gegenständlicher Befunde, die in einen Zusammenhang gestellt bewertet, interpretiert werden. Wenn das aufgrund subjektiver Befindlichkeiten mit projektiver Wahrnehmung einsetzt, ist große Skepsis angebracht.
Verbessern und zu neuen Schöpfungen führen kann und soll jedes Lernen nach besten Möglichkeiten. Dazu steht immer wieder die Entscheidung an: Wollen wir uns ernsthaft damit befassen (ergebnisorientierte Lernarbeit leisten) oder uns mit zeitweiliger Beschäftigung begnügen, die jederzeit ihren Abbruch erfahren kann. Lernen in spielerischer oder sportlicher Betätigung wird Funktionsertüchtigungen hervorbringen, mehr nicht.
Welche Lernziele an persönlichen Qualitäten und nützlichen Qualifikationen und welche Lerninhalte sollen in unsere Lernarbeit einbezogen werden? Was wollen wir uns gesichert aneignen? Welche Mobilitäten sollen wir entwickeln? Welchen Umbruch und Aufbruch setzen wir gegen Fortwurschteln und Abbrüche? Denn ein unbedarftes, mitunter zwanghaftes Leben in der Vergangenheit lässt sich nur überwinden, wenn kritisch geschichtskundig unser Sinn ungebrochen neugierig und kraftvoll in die Zukunft gerichtet ist. So können wir in unserer äußerst kurzen Gegenwart etwas von Bestand hervorbringen. Überdies lässt sich soeinem Tugendterror und der Political correctness standhalten.
RR Prof. Reinhard Horner, Berufsschuldirektor und Lehrerbildner i. R.; zahlreiche Publikationen zu pädagogischen, politischen und wirtschaftlichen Themen.