Zur Causa Schilling: Bekenntnisse einer Maske

Warum Reife und Entwicklung im Leben eine elementare Rolle spielen. Die Politik dient schon seit jeher als Projektionsfläche unbewusster Wünsche und Hoffnungen. Ob es sich hierbei um den beinahe banal anmutenden Traum von einer besseren Zukunft handelt, oder um insgeheim gut gehütete Machtfantasien, sei dahingestellt und bedeutet für jeden etwas anderes. Kaum ein Politiker der jüngeren Zeit konnte bis dato den beschriebenen Vorgang in seiner Phänomenologie so gut in sich vereinen wie die Person des Sebastian Kurz.

Er schaffte es, eine Fanbase von der Schwiegermutter bis zur Großmutter und vom jungen Aufstiegsgewinner bis zum konservativ-klerikalen Anhänger in die von ihm kreierte Marke zu inkorporieren. Doch egal, ob man es nun mit Adoranten oder Antagonisten zu tun hatte, die daraus entstandene Psychodynamik war eine gerne unterschätzte Größe im Laufe der Geschichte, der sich das einstige Wunderkind der Politik stellen muss und musste.

Nun ist mit Lena Schilling auf dem linken Spektrum ein analoger Archetypus in den politischen Ring gestiegen. Jung, weiblich, für die Umwelt und gegen rechte Hetze. Doch ähnlich wie bei Kurz – nur deutlich schneller – beginnt die Politfassade zu erodieren, und das Spiel der Politdynamik nimmt seinen unerbittlichen Lauf.

Der japanische Schriftsteller und politische Aktivist Yukio Mishima veröffentlichte 1949 seinen semi-autobiografischen Roman "Bekenntnisse einer Maske". In dem Werk geht es um das Verstecken der eigenen Identität hinter einer Maske. Ein Schutzmechanismus, dem nicht nur Politiker, sondern jeder bis zu einem gewissen Grade im Sinne der gesellschaftlichen Anpassung unterliegt. Findet jedoch eine derartig depersonalisierte Transformation statt, in der die Diskrepanz zur Realität sowie die innere Dissonanz zu groß sind, kann sich die beschriebene künstliche Identität schnell auflösen und ein gänzlich anderer Mensch zum Vorschein kommen.

Vielleicht wird das aktuell medial transportierte Image Lena Schilling nicht gerecht und es steckt ein wesentlich reiferer, sensiblerer Mensch hinter dem sozial erwünschten Habitus. Fakt ist, dass je länger man den Schein zu wahren versucht, desto stärker treten die instinktiv triebhaften Elemente des "Es", frei nach Sigmund Freuds Strukturmodell der Psyche, an die Oberfläche des Seins.

Die menschliche Maske ist am Ende irrelevant, denn wie in einem Essay von Mishima mit dem Titel "Sonne und Stahl" geht es um die Tat(en) und die damit verbundene tiefgehende Genese. Die grüne EU-Spitzenkandidatin hat in den nächsten Tagen und Wochen die Chance zu demonstrieren, welch wahre Substanz in ihr steckt. Eines steht heute schon fest: Die Infantilisierung der Politik muss ein Ende haben, sprich das Idealisieren jugendlich-vitaler Oberflächlichkeiten anstatt von Politikern, die zwar Ecken und Kanten, aber auch Reife und Weitblick haben.

 

Daniel Witzeling ist Psychologe, Sozialforscher und Leiter des Humaninstituts Vienna.

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