Ein Richtung Sozialdemokratie offener Strafrechtsprofessor wird von der ÖVP als Verfassungsrichter nominiert, ein Minister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz will alle Gesetze vor dem Jahr 2000 abschaffen und eine Staatsekretärin im Innenministerium sieht das natürliche Rechtsempfinden durch milde Urteile verletzt.
Wenn heutzutage in Juristenkreisen über die neue Volkspartei gesprochen wird, regieren ungläubiges Staunen bis unverhohlene Aversion. Kompetenz wird offensichtlich kleingeschrieben, die besten Gesetze sollen entsorgt werden und der Zeitgeist soll durch die Gerichtssäle wehen. Manche fühlen sich an den russischen Fabeldichter Krylow erinnert: Die Welt steht Kopf, wenn Schuster Kuchen backen und Bäcker Stiefelsohlen flicken.
Natürlich brauchen wir nicht alle Gesetze, die vor der Jahrtausendwende erlassen worden sind. Natürlich kann man über Strafgesetze trefflich streiten. Aber muss man deshalb gleich das Kind mit dem Bade ausschütten? Muss man deshalb Forderungen in den Blätterwald rufen, die bei näherem Hinschauen blanker Unsinn sind?
Für die offene juristische Breitseite gibt es zwei Ursachen:
- Die ÖVP hat ein prinzipielles strategisches Problem mit den Freien Berufen im Allgemeinen und selbständigen Juristen im Besonderen. Dieses Problem rührt aus der bündischen Struktur, in der Rechtsanwälte, Wirtschaftstreuhänder, Notare, Ärzte etc. keinen Platz haben. Die Wirtschaftskammer, die den Wirtschaftsbund in Beschlag genommen hat, ist kein politischer Partner, sondern ständische Konkurrenz für die Freien Berufe. Während Rechtsanwälte in jedem Parlament der Welt prädestinierte Gesetzgeber sind, haben sie in den Reihen der ÖVP praktisch keinen Platz. Die einzige Ausnahme im derzeitigen Nationalrat stammt aus einer oberösterreichischen Regionalliste und hat nicht einmal eine Sprecherfunktion. Mangels eines Arztes im Nationalrat hat die ÖVP eine ehemalige ORF-Mitarbeiterin als Gesundheitssprecherin nominiert. Wie will man auf diese Weise Fachdiskussionen führen? Mit der Absenz von Vertretern Freier Berufe fehlt Kompetenz an entscheidender Stelle.
- In der ÖVP dominiert der Wunsch nach mutmaßlicher Außenwirkung jeden Anspruch auf Kompetenz. Die Frage "Wie kommt etwas an?" verdrängt die Frage "Worauf kommt es an?" Nicht die Politiker geben den PR-Leuten die Botschaft vor, sondern umgekehrt: Die PR-Leute sagen den Politikern, welche Botschaften sie an das Publikum zu bringen haben. Nicht der Hund wedelt mit dem Schwanz, sondern der Schwanz mit dem Hund. Gefragt sind derzeit daher Erfüllungsgehilfen, die Botschaften verbreiten können – nicht Selbstdenker, die eigenständige Botschaften verkörpern. Viele Neueinsteiger verstehen in der Anfangseuphorie ihrer Bestellung diese Umkehrung nicht und werden erst nach und nach die Spielregeln verinnerlichen. Bei den ersten Interviews mit vorgegeben Inhalten werden sie beginnen sich unwohl zu fühlen. Karoline Edtstadler kann vermutlich ein Lied davon singen. Sobald der Neuling das politische Spiel der medialen Vermarktung durchschaut kann er/sie entweder auf den Tisch hauen oder es sein lassen - keine leichte Entscheidung.
In dieser Welt ist es nur konsequent, wenn der Bundespressedienst aufgelöst wird und der ehemalige Pressesprecher des Bundeskanzlers nunmehr für einen "einheitlichen Außenauftritt aller Ministerien" sorgen soll. Man könnte meinen, dass somit die von Sebastian Kurz im Wahlkampf geforderte Richtlinienkompetenz durch die Hintertür eingeführt ist.
Nein, so ist das nicht der Fall. Was wir sehen ist ein ziemlich vollständiger Sieg der Verpackung über den Inhalt. Der Sieg der Propaganda über die Politik kann allerdings immer nur ein Pyrrhussieg auf Zeit sein. Wie heißt es so treffend: Schuster, bleib bei Deinem Leisten.
Georg Vetter ist Rechtsanwalt, Vorstandsmitglied des Hayek-Instituts und Präsident des Clubs unabhängiger Liberaler. Bis November 2017 ist er Abgeordneter im Nationalrat gewesen.