Nicht nur die verheerende Anschlagsserie in Brüssel, sondern auch die Ignoranz der dortigen Behörden sorgt zurzeit europaweit für Entsetzen und Kopfschütteln. Möglicherweise hätte ein entschiedenes Vorgehen der Sicherheitsorgane das Schlimmste verhindern können. Doch auch in Österreich gibt es keinen Grund, sich entspannt zurückzulehnen. Im Gegenteil: Dass der Islamische Staat (IS) nun auch in Graz heimisch geworden ist und dort üppige Blüten treibt, offenbaren gerade mehrere Dschihadisten-Prozesse.
Zahlreiche Grazer Muslime müssen sich vor Gericht verantworten, weil sie entweder in Syrien an der Seite des IS gekämpft haben, oder weil sie Andere dazu angestachelt haben. Mehrere Personen wurden bereits in erster Instanz wegen terroristischer Vereinigung zu fünf, sechs und zehn Jahren Haft verurteilt.
Schweigsam verhält sich unterdessen der steirische Vorsitzende der Islamischen Glaubensgemeinschaft Ali Kurtgöz. Vor zwei Jahren war das noch anders. Damals zeigte er sich im Interview mit der Stadtzeitung „Falter“ überaus gesprächig – und fest überzeugt von der Unhaltbarkeit der damals erstmals aufkommenden Verdächtigungen. Ob man ihm „je über fragwürdige Aktivitäten berichtet“ habe, fragte ihn die Interviewerin. „Wirklich nicht“, entgegnete Kurtgöz.
Er sah in den damals Verdächtigten lediglich Opfer der Behörden: „Wir brauchen Gerechtigkeit.“ Um das große Unrecht, das Angehörigen seiner Islam-Gemeinde widerfahre, zu unterstreichen, brachte Kurtgöz aus freien Stücken ein Beispiel: „Heuer wurde auch ein Grazer Imam verhaftet. Jetzt ist er wieder frei. Ich habe ihn eingeladen und mit ihm gesprochen. In seinen Aussagen war nichts vom Extremismus zu spüren.“ Mehr noch: „Meiner Meinung nach sollte man sich bei ihm entschuldigen. Er hat auch um Mitgliedschaft in der Islamischen Glaubensgemeinschaft angesucht, das Ansuchen wird bearbeitet.“
Bei dem im Jahr 2014 angeblich zu Unrecht verhafteten Imam handelt es sich um niemand anderen als den jetzt zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Tschetschenen Visit D. Als Prediger der Grazer Tawhid-Moschee hat er zahlreiche Muslime zum Kampf für den IS angestachelt, befand das Gericht. Einige der jungen Männer, die der 42-jährige Visit D. als Kämpfer nach Syrien vermittelt haben soll, kamen dort sehr bald ums Leben.
„Und wie stellen Sie sicher, dass Sie nicht jemand Radikalen aufnehmen; wie informieren Sie sich bezüglich des Imam?“, fragte die „Falter“-Journalistin im Interview nach. Kurtgöz antwortete knapp: „Durch die Leute, die dort beten.“ Einige dieser Leute – ebenfalls Tschetschenen – wurden nun ebenfalls zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil sie, angestachelt von Visit D., für den IS in den Kampf gezogen sind, wie das Gericht urteilte.
Hatte Herr Kurtgöz wirklich so wenig Einblick in das Treiben der Tawhid-Moschee? 300 Tschetschenen kann man dort jeden Freitag antreffen. Der Moscheeverein ist in der Zwischenzeit in die ehemaligen Vereinsräumlichkeiten einer anderen auffälligen Grazer Moschee – der Furkan-Moschee, die sich kürzlich aufgelöst hat – übersiedelt. Sie nennt sich nun „Daymohk“-Center.
Um seine Urteilskraft in Sachen Terrorismus noch zusätzlich unter Beweis zu stellen, brachte Kurtgöz im Interview noch weitere Einschätzungen vor: „Türken sind bei solchen Aktionen fast überhaupt nicht dabei.“
Zur Info: Etliche Angeklagte der noch laufenden Gerichtsverfahren sind Türken, die meisten Syrien-Heimkehrer. Einer von ihnen, Sevkret G., wurde bereits wegen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung sowie wegen versuchten Mordes und schwerer Nötigung zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er reiste 2012 nach Syrien, wo er für den IS gekämpft hatte.
Laut Staatsanwaltschaft beteiligte er sich bei einem brutalen Überfall auf ein Dorf, bei dem er selbst schwer verletzt wurde. Im März 2013 kehrte er nach Österreich zurück und wurde danach dem Ankläger zufolge bei diversen islamischen Glaubensvereinen als Held herumgereicht.
Ist das alles Herrn Kurtgöz entgangen? Bekommt er gar nichts mit von den Aktivitäten in islamischen Vereinigungen? Sevkret G. blieb nach seiner Rückkehr nicht untätig. Sofort soll er begonnen haben, seinen jüngeren Bruder zu radikalisieren. Für November 2014 hatten beide die gemeinsame Ausreise in die Türkei geplant, um, wie ihnen der Ankläger vorhielt, weiter nach Syrien in den Dschihad zu reisen.
Ein weiterer türkisch-stämmiger Angeklagter, Tasyürek C., hält sich gegenwärtig in Syrien auf, mutmaßlich um dort gleichfalls für den IS zu kämpfen.
Unzählige Terror-Experten haben nach den Massakern von Brüssel die Dringlichkeit zur Einbindung und Kooperation mit hier lebenden Muslimen hervorgehoben, um Terror bereits im Ansatz zu unterbinden. Doch einem offiziellen Islam-Vertreter darf man eine solche Zusammenarbeit nicht zutrauen?
Vom Boss der steirischen Muslime kann, nein, muss der Staat unbedingte Loyalität und Kompetenz im Kampf gegen den unsere Gesellschaft massiv bedrohenden Extremismus erwarten. Dass hier die Islamischen Glaubensgemeinschaft in die Pflicht zu nehmen ist, unterstrich auch mehrfach Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP). Nur: Das von Kurz durchgesetzte Islamgesetz allein wird hier wenig helfen, solange das Islam-Personal nicht kooperativ ist.
Ali Kurtgöz arbeitet übrigens auch als Islamlehrer. Klarerweise wollte er im genannten „Falter“-Interview auch unter seinen Schülern keine Extremisten vorfinden: „Ich fragte sie manchmal: Wo sind diese Jugendlichen, warum wollen sie nach Syrien gehen? Aber sie kennen keine solchen Leute, Gott sein Dank.“ Wie beruhigend.
Über zu wenig Verantwortung in der Islamischen Glaubensgemeinschaft braucht Kurtgöz nicht zu klagen. Er ist darüber hinaus auch noch als Fachinspektor für Religionsunterricht für die in der Steiermark lehrenden Islamlehrer zuständig.
Der Stadtschulrat wäre gut beraten, endlich aktiv zu werden. Man sollte ja nicht künftige IS-Kämpfer im Schulunterricht züchten. Tatsächlich brachte 2009 eine vom Islamwissenschafter Mouhanad Khorchide veröffentlichte Studie auch das islamische Lehrpersonal in Verruf. 23 Prozent nehmen ihr zufolge eine „fanatische Haltung“ ein. Von solchen wissenschaftlichen Untersuchungen ließ sich Kurtgöz im genannten Interview freilich nicht beirren: „Diese Studie war nicht professionell“, erklärte er.
Eva Rössler ist eine österreichische Publizistin, die sich auf Islamfragen spezialisiert hat.