Vertreter nationaler Minderheiten blicken zwei Terminen mit geschärftem Interesse entgegen: der Unterhauswahl im Vereinigten Königreich am 7. Mai sowie der Parlamentswahl in Katalonien am 27. September. Die Minderheiten hoffen, aus den von Schotten und Katalanen bisher schon erreichten und künftig zu bezwingenden Etappen auf dem Weg in die Selbstbestimmung Ansporn und Kraft für eigene Schritte ableiten zu können. In Südtirol, wo jene Kräfte in den letzten Jahren stärkeren Zuspruch in der Bevölkerung erlangten, die für ein „Los von Rom“ eintreten, beobachtet man Schottland besonders intensiv.
Dort ist im Vorjahr ein Unabhängigkeitsreferendum zwar gescheitert, aber Nicola Sturgeon, Nachfolgerin des Initiators Alex Salmond an der Spitze der Scottish National Party (SNP) und ihres Landes, kann laut jüngsten Umfragen im Mai mit einem Wahltriumph rechnen. Weshalb neben patriotischen Verbänden wie Südtiroler Schützenbund (SSB) und Südtiroler Heimatbund (SHB) auch die bei der Landtagswahl 2013 erstarkte Opposition – Freiheitliche Partei Südtirol (FPS), Süd-Tiroler Freiheit (STF) und BürgerUnion (BU) – die britische Nachwahlentwicklung gespannt verfolgen. Sie konzentrieren sich darauf, wie die frühere Anwältin Sturgeon künftig politisch verfahren wird, um dem Ziel verstärkter Unabhängigkeit oder gar des „Los von London“ in Form staatlicher schottischer Eigenständigkeit näherzukommen.
Signale, die Sturgeon während des Wahlkampfs aussandte, schienen auf den ersten Blick anzuzeigen, dass die Unabhängigkeitsfrage auf absehbare Zeit nicht mehr so sehr wie unter Salmond auf der politischen Agenda aufscheinen würde. Sturgeon stellte nämlich eine „fortschrittliche Allianz" mit Labour in London in Aussicht. Für Labour-Chef Ed Miliband, den Herausforderer des konservativen Premiers David Cameron, stellt diese Aussicht eine kaum auszuschlagende Verlockung dar. Er dürfte auf die SNP-Abgeordneten – wenn nicht als Koalitionäre, so doch als Mehrheitsbeschaffer – angewiesen sein.
Umfragen prophezeien der SNP in Schottland um die 45 Prozent der Stimmen, Labour verheißen sie indes nur 28 (in ganz Großbritannien 33) Stimmenprozente. Aufgrund des klassischen Mehrheitswahlrechts – wer im Wahlkreis die höchste Stimmenzahl erreicht, ist als Abgeordneter gewählt – wird die SNP höchstwahrscheinlich 50 der 59 schottischen Unterhaus-Mandate erringen und damit wohl zur drittstärksten Partei in Westminster aufsteigen. Denn keine Umfrage zeigt, dass Nick Cleggs Liberaldemokraten, bisher Koalitionspartner von Camerons Konservativen, ihren Erfolg von der Wahl 2010 wiederholen könnten; sie dürften daher im nächsten Unterhaus unter den 650 Abgeordneten allenfalls eine Randposition einnehmen.
Da die Tories mit Einbußen rechnen müssen, hervorgerufen durch die demoskopisch als erstarkend ausgewiesene United Kingdom Independent Party (Ukip) des Nigel Farage, aber auch durch die walisische Nationalpartei Plaid Cymru und durch Grüne, weist alles auf ein „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zwischen Cameron und Miliband hin. Die Stunde der SNP kommt, wenn Miliband von Sturgeons Angebot Gebrauch machen muss, die klipp und klar sagte: „Wenn es nach der Wahl eine Anti-Tory-Mehrheit im Unterhaus gibt, dann sollten wir beide gemeinsam David Cameron aus der Downing Street heraus halten – selbst wenn die Konservativen stärkste Partei sind".
Diese Unterstützung – nur diese, denn ideologisch so gut wie ausgeschlossen ist ein Bündnis mit Cameron und seiner Conservative Party, da die SNP eine linksgerichtete Partei ist – wird ihren Preis haben. Sie wird nur nur durch massive Zugeständnisse hinsichtlich der weiteren Verselbständigung Schottlands erkauft werden können. Parteichefin Sturgeon jedenfalls dürfte das Ziel vor Augen haben, sich die Unterstützung Milibands mittels dessen verbindlicher Zusage für ein neuerliches Unabhängigkeitsreferendum – nach einem allfälligen SNP-Erfolg bei den Wahlen zum schottischen Parlament in Edinburgh, die schon 2016 anstehen – entgelten zu lassen.
Was sich infolge der Wahl künftig auf den britischen Inseln zutragen wird, verfolgen in Italien aber nicht nur Tiroler zwischen Brenner und Salurn sowie die benachbarten Trientiner, mit denen die Südtiroler in einer ungeliebten Region zwangsvereint sind, sondern auch Unabhängigkeitsbewegungen in der Lombardei und im Veneto. Ja, selbst Sarden und Sizilianer, wenngleich mehr als alle anderen Provinzen Italiens abhängig von Infusionen aus Rom (und Brüssel!), finden Geschmack am Rumoren beidseits des Hadrianswalls.
Dasselbe gilt für Korsen, Okzitaner, Elsässer und Bretonen sowie nicht zuletzt für die Basken beidseits der Pyrenäen, wiewohl diese Volksgruppen mehr die Vorgänge auf der iberischen Halbinsel denn die jenseits des Ärmelkanals im Blick haben dürften.
Wegen des Aufbegehrens der selbstbewussten Katalanen – einer eigenständigen Nation nach eigenem Verständnis – gegen Madrid ergibt sich für die Einheit Spaniens ein existentieller Konflikt. Die Mehrheit der Bevölkerung Kataloniens möchte schon seit langem über die politische Zukunft ihres Landes abstimmen. Sie will darüber befinden, ob Katalonien Teil Spaniens bleiben oder ein unabhängiger Staat – und als solcher ein eigenständiges Mitglied der EU – werden soll. Das Streben nach Unabhängigkeit ist keine Erfindung der Katalanen: Seit 2004 sind der EU 13 Staaten beigetreten, von denen sieben ihre Unabhängigkeit erst nach 1990 erlangten.
Die Katalanen haben ihren Wunsch, abstimmen zu wollen, mehrmals auf friedliche Weise zum Ausdruck gebracht. So demonstrierten 1,5 Millionen im September 2012 in Barcelona unter dem Motto „Katalonien, der nächste Staat Europas“. 2013 bildeten zwei Millionen eine 400 Kilometer lange Menschenkette, und 2014 formte eine ähnlich große Zahl von Katalanen ein riesiges V auf den Straßen der Hauptstadt. Für ein Land mit knapp 7,5 Millionen Einwohnern sind dies beeindruckende Zahlen, welche für eine Bewegung stehen, die Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten fast aller politischen Parteien Kataloniens in sich vereint. Aus Umfragen geht indes hervor, dass sich unter den 80 Prozent derer, die eine Volksbefragung befürworten, durchaus auch viele Gegner der Unabhängigkeit Kataloniens befinden. Sie treten für das Recht der Bevölkerung auf Abstimmung, also für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ein. Im katalanischen Parlament haben zwei Fünftel der Abgeordneten ihre Absicht bekundet, abstimmen zu wollen, ebenso 97 Prozent aller Bürgermeister sowie die meisten Organisationen des Landes.
Für Madrid jedoch ist eine Volksabstimmung in Katalonien gemäß Staatsverfassung, wonach „Spanien unteilbar ist“, nicht zulässig. Da Regierung und Justiz Spaniens mit allen Mitteln Referenden, wie es sie in Kanada und in Großbritannien aufgrund von in gegenseitigem Respekt getroffenen Übereinkünften gab, blockieren, bleibt den Katalanen nach Ansicht ihres Regierungschefs Artur Mas „nur die Parlamentswahl, um herauszufinden, ob die Absicht, einen eigenständigen Staat zu gründen, über die die notwendige Unterstützung in der Bevölkerung verfügt“.
Alle Parteien, die sie unterstützen, bringen diese Option explizit in ihren Wahlprogrammen zum Ausdruck, so dass der Grad der Unterstützung unmissverständlich und zweifelsfrei ermittelt werden kann. Fällt das Ergebnis eindeutig aus, so hat die daraus hervorgehende Regierung ein demokratisches Mandat zu erfüllen, nämlich den Aufbau staatlicher Strukturen abzuschließen, damit – nach Verhandlungen mit der spanischen Regierung und der Europäischen Union über Zeitplan sowie Bedingungen für die Gründung eines neuen europäischen Staates – ein reibungsloser Vollzug möglich werden kann.
Daher trägt die Wahl zum katalanischen Parlament am 27. September zwangsläufig plebiszitären Charakter und gilt allen gleichgesinnten und vor ähnlich hohen zentralstaatlichen Hürden stehenden Bewegungen als Initiationszeichen mit Vorbildwirkung für eigene Initiativen.
Herrolt vom Odenwald ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.