Das kürzlich am Forschungszentrum CERN in Genf entdecke Higgs-Teilchen hat die Gültigkeit des Standardmodells der Elementarteilchen erhärtet. Dieses Modell hatte als Kernstück ein das ganze Universum durchziehendes „Feld“ (Higgs-Feld) postuliert, mit dem die Elementarteilchen wechselwirken und daraus ihre Masse beziehen. Durch Zufuhr genügend hoher Energie im Teilchenbeschleuniger (Large Hadron Collider - LHC) ließen sich Störungen (Dichteschwankungen) im Higgs-Feld erzeugen, welche, als echtes Teilchen mit den für das Higgs-Teilchen geforderten Charakteristika aufschienen.
Manfred Jeitler für den Science-Blog
Wieso braucht man im Standardmodell unbedingt ein Higgs-Teilchen?
Das Problem besteht darin, dass in diesem Modell zuerst einmal alle Elementarteilchen masselos wären. Es gibt zwar wirklich Elementarteilchen, die keinerlei Masse haben, so z.B. das "Photon" oder Lichtteilchen (wenn wir etwas sehen, fliegen einfach solche Photonen in unsere Augen, die das dann wahrnehmen können). Aber man hat experimentell festgestellt, dass andere Elementarteilchen sehr wohl Masse besitzen. Jetzt meinen Sie vielleicht: "Na toll, diese Physiker! Weiß ich doch alles auch ohne die! Ich bestehe ja angeblich selbst aus diesen Teilchen, behaupten sie. Und dass ich selbst Masse habe, weiß ich nur zu gut. Ich ärgere mich jedes Mal über diese vielen Kilos, wenn ich auf die Badezimmerwaage steige! Also muss diese Masse ja irgendwie in den Teilchen drin stecken." Ganz so einfach ist das aber nicht! Ein System von Elementarteilchen kann, von außen gesehen, viel mehr Masse haben, als die einzelnen "Bestandteile". Das liegt daran, dass man sich das nicht einfach wie einen Lego- oder Matadorbaukasten vorstellen kann. Warum das so ist, werden wir ein bisschen später sehen.
Was ist das Higgs-Feld?
Einstweilen wollen wir einfach eine Theorie haben, die erklärt, warum manche Elementarteilchen über Masse verfügen, also "etwas wiegen". Dazu haben der schottische Physiker Peter Higgs (jetzt wissen Sie, woher der Name kommt!) und andere ein "Feld" eingeführt, und das erzeugt diese Masse. (Sie haben vielleicht schon von elektrischen Feldern, Magnetfeldern oder dem Gravitationsfeld, also der Schwerkraft, gehört. Das Higgs-Feld ist im Wesentlichen auch ein solches Feld).
Der englische Physiker David Miller hat das seinem Wissenschaftsminister einmal so erklärt: Bei einem diplomatischen Empfang kommt plötzlich ein bedeutender Politiker ins Zimmer (Abbildung 2.1, links). Sofort stürzen sich die Anwesenden auf ihn, allen voran die Reporter und Paparazzi, und wollen ihn befragen, fotografieren, oder wenigstens anstarren. Der Ärmste ist jetzt von einem Menschenknäuel umgeben und kann sich nicht mehr frei bewegen (Abbildung 2.1, rechts), nur noch ganz langsam. (Das kann natürlich peinlich sein, vielleicht wollte er nur einmal ganz rasch auf die Toilette.) Er hat sozusagen eine riesige Masse bekommen.
Abbildung 2.1: Ein gleichförmiges Feld (links) kann einem dieses passierenden Teilchen (rechts) Masse verleihen (Higgs Mechanismus – wie ihn David Miller seinem Minister erklärte)
Ähnlich geht das den Elementarteilchen: die sind der Politiker, und das Higgs-Feld sind die Paparazzis. Jetzt kann es aber passieren, dass überhaupt keine berühmte Persönlichkeit hereinkommt, aber trotzdem jemand irrtümlich (oder absichtlich, um sich über die anderen lustig zu machen) schreit: "Da kommt er!" (Abbildung 2.2, links) Sofort stürzen sich die Schaulustigen zur Tür und merken nicht gleich, dass da gar niemand ist, den man anstarren kann. Dieser Knäuel von Leuten, ganz ohne Politiker in der Mitte, sieht jetzt ganz ähnlich aus wie vorhin und bewegt sich langsam weiter, weil vorne immer neue Leute hinrennen, während sich hinten andere enttäuscht abwenden (Abbildung 2.2, rechts).
Abbildung 2.2. Ein gleichförmiges Feld (links) kann Klumpen bilden (rechts): in die Sprache der Physik übertragen ist dies das Higgs-Teilchen (Higgs Mechanismus – wie ihn David Miller seinem Minister erklärte)
Das wäre jetzt, wieder in die Sprache der Physik übersetzt, ein Higgs-Teilchen. Also nochmals:
- das Higgs-Feld brauchen wir, um die Masse der Teilchen zu erklären.
- Aber dann muss es auch manchmal solche "Klumpen" bilden, ohne dass ein anderes Teilchen da wäre, und das muss man dann als Higgs-Teilchen nachweisen können.
Wie entsteht das Higgs-Teilchen?
Wie kann aber so ein schweres Teilchen entstehen, doch wohl nicht ganz von selbst? Schwer ist es nämlich tatsächlich, es wiegt mehr als hundert Mal so viel als ein Proton. Am CERN-Beschleuniger werden Protonen mit hoher Energie gegeneinander geschleudert. Wieso fliegt dann plötzlich wo ein hundert Mal schwereres Teilchen heraus?
Sie haben sicher schon von der berühmten Formel der Relativitätstheorie gehört:
E = mc², gesprochen: "E ist gleich m-c-Quadrat", d.h. "Energie ist gleich Masse mal Quadrat der Lichtgeschwindigkeit".
Was bedeutet das?
Energie ist eigentlich dasselbe wie Masse, nur multipliziert mit einer großen Zahl.
Denken Sie ans Geld. Heute zahlt man in Italien mit Euros, früher zahlte man dort mit Lire. Ein Euro ist fast soviel Geld, wie damals zweitausend Lire waren. Aber Geld ist beides. Und wenn Sie wo einen alten Lireschein finden, können Sie damit zur italienischen Nationalbank pilgern und ihn in Euro umwechseln lassen.
Ebenso sieht es mit Energie und Masse aus.
In einem Kernkraftwerk wiegen die Abfälle nach der "Energieerzeugung" ein ganz kleines bisschen weniger als die Brennstäbe vorher: ein kleines bisschen Masse (Gewicht) ist in eine Menge Energie (Kilowattstunden) umgewandelt worden.
Umgekehrt ist es bei einem Beschleuniger: man steckt viele Kilowattstunden in die Beschleunigung der Protonen, und wenn die dann mit Wucht aufeinander prallen, kann dabei ein Teil dieser Energie wieder in Masse, also in schwere Teilchen, umgewandelt werden, die die Physiker dann mit ihren Detektoren und etwas Glück finden können. (Jetzt kann man auch verstehen, wieso ein System von Elementarteilchen mehr wiegen kann als alle einzelnen Teilchen zusammen genommen: Die Energie, mit der die Elementarteilchen zusammengehalten werden bzw. umeinander fliegen, entspricht eben jener zusätzlichen Masse.)
Wie lässt sich das Higgs-Teilchen finden und nachweisen?
Aber was heißt das eigentlich, "ein Teilchen finden"? Und wo liegt das Higgs-Teilchen jetzt? Schwer bewacht in einem Tresor am Forschungszentrum CERN, damit nicht womöglich wer kommt und es uns wieder wegnimmt? Nein, natürlich nicht. Es ist ja nicht ein einzelnes Teilchen, wie die "Mona Lisa", von der es auf der Welt nur ein Exemplar gibt, sondern eine bestimmte Art von Teilchen. Außerdem ist es aber nicht stabil: wie gewonnen, so zerronnen.
Dieses arme Higgs-Teilchen ist dermaßen kurzlebig, das es selbst, wenn es fast mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, niemals die paar Meter bis zu unserem Detektor überdauert.
Aber wieso erdreisten sich dann diese Physiker, zu behaupten, sie hätten diese Teilchen "gesehen"?
Da müssen wir einmal nachdenken, was wir meinen, wenn wir sagen, wir "sehen" etwas. Wenn wir etwas sehen, müssen wir es nicht berühren. Wir können sogar ganz schön weit entfernt davon stehen, denken wir doch nur an die Sterne am Nachthimmel. Wichtig ist nur, dass uns die Lichtteilchen ("Photonen") treffen, die von dort ausgesendet werden.
Ähnlich ist es beim Higgs-Teilchen (und bei vielen anderen sehr kurzlebigen Elementarteilchen): sie kommen nicht bis zu uns, sie zerfallen vorher, aber diese Zerfallsprodukte können wir dann in unseren Detektoren nachweisen. In der Bibel steht geschrieben: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Diese Regel gilt in der Teilchenphysik auch: wenn man es schafft, alle Zerfallsprodukte eines Teilchens richtig zu messen, dann kann man ganz genau die Masse des zerfallenen Teilchens berechnen. Die Masse (sozusagen das Gewicht) ist aber so etwas wie die Visitenkarte eines Teilchens. Anders als bei den Menschen, wo es schon einmal vorkommen kann, dass zwei Leute genau gleich viele Kilos auf die Waage bringen, kann man ein Teilchen genau durch seine Masse identifizieren. (Es gibt ja auch nicht so viele verschiedene Arten von Teilchen, wie Menschen.)
Genau so haben die Physiker am CERN das Higgs-Teilchen nachgewiesen.
Die Entdeckung der Nadel im Heuhaufen
Nur, ganz so einfach ist es dann auch nicht. Oft sieht man eben nicht alle Produkte von irgendeinem Zerfall, oder misst etwas falsch. Es gibt aber sehr, sehr viele andere Prozesse, die gar nichts mit dem Higgs-Teilchen zu tun haben, aber viel häufiger vorkommen. Dass das Higgs-Teilchen eher selten vorkommt, haben Sie sicher schon erraten: sonst hätten die Physiker es ja schon längst gefunden. Wenn es aber so viele andere Vorgänge gibt, die viel häufiger auftreten, und man manchmal einen Fehler macht, könnte das plötzlich so ausschauen, wie ein Higgs-Teilchen. (Sie wissen ja: Wer arbeitet, macht Fehler. Wer viel arbeitet, macht viele Fehler. Wer keine Fehler macht, wird Chef.) Die "Masse", die man dann ausrechnet, ist dann das, was wir eine "Hausnummer" nennen: irgendein Wert ohne wirkliche Bedeutung, einmal größer, einmal kleiner. Diese Fehler bilden den "Untergrund". (Hat nichts mit der Mafia zu tun, ist für Physiker aber auch sehr lästig.) "Das ist ja schrecklich!", werden Sie jetzt vielleicht stöhnen. "So viel Aufwand, und dann misst man erst was Falsches!" Aber es gibt einen Ausweg: der Untergrund wird eben irgendeinen Wert für die "Masse" geben, nicht immer denselben. Die wirklichen braven Higgs-Teilchen haben aber immer dieselbe Masse! Das heißt, bei dem richtigen Wert sieht man ein bisschen öfter etwas, als bei den falschen. Das ist so wie bei einem Telefon- oder Skype-Gespräch, wenn die Verbindung schlecht ist. Man versteht kaum etwas, aber wenn der Partner immer wieder die wichtige Information wiederholt, dann wird man sie schließlich doch kapieren.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und hier sehen Sie eines der Bilder, die die Entdeckung des Higgs-Teilchens dokumentiert haben (Abbildung 2.3). Man hat sich Fälle angesehen, wo genau zwei Photonen gesehen wurden (Photonen werden in der Physik aus irgendeinem Grund mit einem kleinen griechischen Gamma abgekürzt.) Auf der waagrechten Achse ist für jeden der vielen gemessenen Fälle die Masse aufgetragen, die irgendein anderes Teilchen haben würde, wenn es in diese zwei Photonen zerfallen wäre (für die Photonen wurde jedes Mal eine andere Energie und Flugrichtung gemessen, dadurch gibt es viele verschiedene Werte für diese "Masse", die vielleicht gar nicht der Masse eines wirklichen Teilchens entspricht und übrigens im Physiker-Jargon als "invariante Masse" bezeichnet wird). Die Einheit lautet hier "GeV" (Gigaelektronenvolt), lassen Sie sich aber dadurch nicht beunruhigen, wir hätten genau so gut Kilogramm hinschreiben können (nur müssten wir dann mit unpraktisch kleinen Zahlen arbeiten; Sie verlangen im Geschäft ja auch nicht "bitte eine Zehntausendstel Tonne Extrawurst", sondern "zehn Deka" oder "hundert Gramm").
Der senkrechten Achse entspricht die Häufigkeit, mit der ein bestimmter Wert ausgerechnet wurde. Die falschen Werte kommen öfter bei niedrigen "Massen" vor als bei sehr hohen, drum geht die Kurve von links oben nach rechts unten. Wichtig ist aber der Buckel bei 125 GeV: der kommt von den wirklichen Higgs-Teilchen, die in zwei Photonen zerfallen sind, nicht von irgendwelchen Untergrund-Ereignissen. (Lassen Sie sich nicht von der Aufschrift auf dem Bild verwirren, das sind nur technische Details, die für uns hier belanglos sind.)
Abbildung 2.3: Masse des neu entdeckten Higgs-Teilchen 125 GeV
Wie geht es weiter?
Higgs-Teilchen zerfallen nicht immer in zwei Photonen, sie können auch andere Zerfallsprodukte hinterlassen. Solche Ereignisse hat man auch gemessen, immer denselben Wert für die Higgs-Masse gekriegt, und drum sind wir jetzt sehr zuversichtlich, dass wir wirklich das Higgs-Teilchen gefunden haben. Was nicht heißt, dass damit alles geklärt und nichts mehr zu tun ist. Jetzt müssen wir erst die Eigenschaften dieses neuen Teilchens genau untersuchen, da wird es erst richtig spannend!
Es gibt noch viel Arbeit. Vielleicht wollen Sie rasch Physik studieren und dann dabei mithelfen?
Anmerkung des Autors:Dieser Beitrag ist meinem Freund und Kollegen Laurenz Widhalm gewidmet, einem begeisterten Physiker, der sich besonders dafür engagiert hat, die Physik der Öffentlichkeit, vor allem aber der Jugend, näher zu bringen. Leider hat er uns viel zu früh verlassen.
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Anmerkungen der Redaktion
Der erste Teil dieses Essays : „Woraus unsere Welt besteht und was sie zusammenhält. Teil 1: Ein Zoo aus Elementarteilchen“ erschien am 7. Feber 2013.
Manfred Jeitlers Webseite beim HEPHY
Higgs – CERN – Universum (17.11.2012; Vortrag; leicht verständliche Darstellung in Deutsch; PDF)
Die größte Maschine der Welt (19.11.2012; Vortrag; leicht verständliche Darstellung in Deutsch; PDF)
Astro-Particle Physics WS 2012/13 (Vorlesungen; in Englisch)
Teil 1 Überblick
Teil 2: Detektoren
Teil 3: Beschleunigungsmechanismen
Teil 4: Charged
Teil 5: Photon
Teil 6: Neutrino 1
Teil 7: Neutrino 2
Teil 8: Dark Matter
Teil 9: Gravitational Waves
HEPHY: Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Elementarteilchenphysik, Teilnahme an internationalen Großexperimenten am CERN und am KEK (nationales japanisches Forschungszentrum), an der Planung des ILD Experiments (International Linear Collider (ILC)).
Auf der Webseite finden sich u.a. leicht verständliche Darstellungen (in Deutsch) i.a. zu den Elementarteilchen, zum Higgs-Boson, etc, ebenso sind zahlreiche öffentliche Vorträge abrufbar.
CERN: Europäische Organisation für Kernforschung (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) Am CERN wird der Aufbau der Materie aus Elementarteichen erforscht und wie diese miteinander wechselwirken - also woraus das Universum besteht und wie es funktioniert.
Auf der website des CERN findet sich u.a. eine Fülle hervorragender Darstellungen der Teilchenphysik: (Powerpoint-Präsentationen)
http://education.web.cern.ch/education/Chapter2/Teaching/experimental.html
Jasper Kerkby (CERN, 2009): Cosmic rays and climate (PDF)
Der Autor
Manfred Jeitler wird hier vorgestellt.