Bis zum Jahr 2030 wird die Zahl pflegebedürftiger alter Menschen in Österreich auf über 800.000 Personen angestiegen sein und damit die Kapazitäten professioneller Hilfs- und Pflegesysteme weit überfordern. Inwieweit ist ein Ersatz konventioneller Pflege und Betreuung durch technische Produktentwicklungen zumutbar?
Ilse Kryspin-Exner für den Science-Blog
Zu den bedeutsamsten Phänomenen des 21. Jahrhunderts zählen die rapid ansteigende Alterung der Bevölkerung und das zunehmende Tempo der Technisierung. Diese Schnittstelle hatte in den letzten Jahren großes Forschungsinteresse – vor allem der Technikseite – zur Folge. Psychologische Modelle zur Akzeptanz oder wie diese technischen Möglichkeiten optimal zu nutzen sind („usability“), ebenso wie ethische Gesichtspunkte, etwa Zumutbarkeit oder ständige Überwachung, wurden kaum oder nur am Rande beachtet.
Die Alterspyramide
Durch den wachsenden Anteil an Älteren - bereits viel diskutiert, wird die Alterspyramide in Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes „auf den Kopf gestellt“ (Abbildung 1) – ist eine Veränderung der Altenpflege und Betreuung in den kommenden Jahrzehnten europaweit unabdingbar.
Abbildung 1: Die Entwicklung der Bevölkerungspyamide in Österreich
Die erhöhte Zahl von Single-Haushalten und das in den Hintergrund Treten von traditionellen Pflege- und Hilfeleistungen, die früher vorwiegend aus dem Familiensystem übernommen wurden, fordern einerseits einen höheren Bedarf an professionellen Dienstleistungen, andererseits sind bereits jetzt nicht genügend personelle Ressourcen vorhanden und auch vom Gesundheitssystem nicht finanzierbar.
Die Zahl pflegebedürftiger Personen in Österreich wird für das Jahr 2030 auf 811.000 Personen geschätzt. Wie soll mit Prognosen wie diesen umgegangen werden, wenn man bedenkt, dass viele ältere Menschen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden verbleiben möchten? Noch bevor diese Überlegungen für die Zukunft zum gravierenden Problem werden, hat die Technik mit Produktentwicklungen begonnen, um in weiterer Folge als Ressourcen in das Gesundheitssystem integriert werden zu können.
Assistive Technologien
Ein Lösungsansatz für diese Entwicklung ist es, den Wunsch älterer Menschen nach Autonomie und Selbstständigkeit in ihrer eigenen Wohnumgebung mit verschiedenen technischen Hilfsmitteln zu unterstützen und notwendige Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Unter dem Schlagwort Assistive Technologien werden verschiedenste Produkte oder Hilfsmittel subsumiert, die Personen in ihren Tätigkeiten des täglichen Lebens (bei den ATLs - Aktivitäten des täglichen Lebens) unterstützen sollen. Die Tatsache, dass durch derartige technische Hilfsmittel Kosten für das Gesundheitssystem durch Einsparung von Pflegepersonal oder Transport zu Serviceeinrichtungen um bis zu 50% reduziert werden können, klingt viel versprechend. Allerdings muss gewährleistet werden, dass die Technik - wie propagiert -, die Lebensqualität der Älteren erhält bzw. erhöht. Abbildung 2.
Abbildung 2. Smart Home (LINE9, 2006)
Gut vorbereitet und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der Nutzer entwickelt, können Technologien eine hilfreiche Rolle für die Betroffenen einnehmen: Darunter fallen Gehhilfen, Rollstühle, Bildschirmlesegeräte, aber auch spezielle Programme zur Unterstützung der Computeranwendung für Menschen mit Beeinträchtigungen; Vernetzung verschiedenster Technologien im Haushalt selbst, also die Integration von Technologien und Diensten in der häuslichen Umgebung, um den Verbleib im Eigenheim durch Automatisierung der alltäglichen Arbeiten zu fördern (Mikrowellen und Herde mit Kochsensoren, Automatisches Abschalten des Badewassers, Fernsteuerung von Rollläden, Ortungssysteme für verlegte Gegenstände, Teppiche oder andere Textilien mit Notrufalarmfunktionen usw.). Hier ist insbesondere auch die Unterstützung durch die Informations- und Kommunikationsmedien wie Internet, E-Mail, Seniorenhandys, Bildtelephonie, Videophonie zur Aufrechterhaltung und Pflege sozialer Netzwerke zu erwähnen - die sogenannten „silver surfers“ sind die derzeit am schnellsten wachsende Gruppe von Nutzern!
E-Health - Telemonitoring
Unter dem Begriff „E Health“ werden medizinische Assistive Technologiesysteme wie das Telemonitoring von körperlichen Parametern subsummiert wie die kontinuierliche Erfassung von Temperatur, EKG, Blutzuckerüberwachung, Kontrolle der Flüssigkeitszufuhr, etc.. Das heutige Telemonitoring profitiert vor allem von der Mobilfunktechnik und vom Internet. Abbildung 3
Abbildung 3. Überwachung von Blutdruck und Gewicht (A. Bolz et al., 2005 Herzschr Elektrophys 16:134–142)
Dabei werden über eine patientennahe Basisstation Patientenwerte an eine Datenbank gesendet, auf die die behandelnden Mediziner Zugriff haben. Die Datenmengen werden über ein tragbares digitales System, einem digitalen Assistenten oder ein Handy umgewandelt und an die zuständige Überwachungseinheit gesendet. Steigt zum Beispiel der Zuckergehalt im Blut eines Diabetikers gefährlich an, kann rechtzeitig eine Intervention in Gang gesetzt werden. Einer der häufigsten Gründe für Notarzteinsätze sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, da sie durch eine hohe Morbidität und Letalität gekennzeichnet sind. Eine telemedizinische Überwachung der Herzfunktionen könnte auch als
Präventionsmaßnahme: Risikopatienten frühzeitig erkennen.
Ein Vorteil wäre auch die damit einhergehende verkürzte Zeitspanne zwischen Diagnose und Therapiebeginn. Somit sollen Notfalleinsätze verringert bis verhindert werden.
Unser Technikzeitalter hat es bereits selbstverständlich gemacht, immer und überall erreichbar zu sein. Es war somit nur eine Frage der Zeit, bis auch Personen über GPS Systeme ortbar und somit überwachbar waren. Dazu dienen Notrufsysteme, Überwachungskameras, Notfallarmbanduhren; es ist heute technisch leicht möglich, 24-Stunden Videoüberwachungssysteme zu konstruieren, die jedoch massiv in die Intimität und Privatheit eingreifen. Die Brücke zwischen Sicherheit und erwünschter Kontrolle bis hin zur ständigen Überwachung ohne Intimsphäre ist eine Gratwanderung. In erster Linie sollten immer das Anliegen und die Lebensqualität des älteren Menschen im Mittelpunkt stehen, doch auch Angehörige oder Betreuungspersonen müssen auf ihre Lebensqualität achten. Diese Interdependenz der Lebensqualität (Betroffener, Angehöriger, „significant others“, professionelle Pflege) ist bisher zu wenig beachtet und untersucht.
Abbildung 4 Virtueller Gefährte: Sony AIBO (Sony Entertainment Robot Europe, 2006) |
(Noch) ungewöhnlich wirkt der Einsatz von Robotern als technische „Butler“, in ihrer Funktion zum Heben schwerer Patienten bis hin zum Gesellschafter. Virtuelle „tierische“ Gefährten wie AIBO oder Paro, die versuchen, Zuwendung und Berührungen von Tieren, die in der Realität eventuell Allergien auslösen oder in Gesundheitsinstitutionen wie Pflegestationen nicht erlaubt sind, zu ermöglichen. Diese Roboter führen ihre Wirkmechanismen vor allem auf Studien über positive Effekte von Tieren auf Menschen zurück und werden besser akzeptiert als angenommen. Abbildung 4.
Ambient Assisted Living (AAL)
Der kurze Überblick zeigt, dass sich unter dem neu anmutenden Begriff Ambient Assisted Living (AAL, siehe http://www.aal-europe.eu/) sowohl sehr vertraute Unterstützungsmaßnahmen wie Krücken oder Treppenlifte finden, aber auch futuristisch anmutende wie Spiegel, die Gesundheitsdaten wiedergeben (bereits in Planung) oder Teppiche, die man betritt und die kritische Daten in Bezug auf Sturzgefahr aufgrund der Ganganalyse an eine Zentrale weiterleiten. Dieser Eindruck lässt vermuten, dass in Zukunft – wenn auch derzeit vielleicht noch mit Skepsis betrachtet – einige dieser Produkte gut in das Leben der davon profitierenden Betroffenen integriert sein werden. Ein Paradebeispiel dafür ist sicherlich das Mobiltelefon oder Handy, das noch vor zwanzig Jahren einer elitären Gruppe vorbehalten war und heute bereits von Volksschulkindern tägliche Verwendung findet. Dass mittlerweile der Wirtschaftsmarkt der Älteren für die Entwicklung von Seniorenhandys entdeckt wurde, liegt auf der Hand.
Ambient assisted living hat das Konzept der Ambient Intelligence (kurz AmI, deutsch Umgebungsintelligenz) zur Grundlage. Es ist ein technologisches Paradigma, das vor allem die IT- Unterstützung in den Vordergrund stellt; Ziel der Forschungsanstrengungen soll es sein, Sensoren, Funkmodule und Computerprozessoren massiv zu vernetzen, um so den Alltag zu verbessern. Der Focus liegt dabei auf der gesamten Lebensspanne und je nach Kontext wird von Ambient Assisted Working, Ambient Assisted Education, Ambient Assisted Transportation, oder Ambient Assisted Leisure gesprochen. Im Bezug auf das Altern spielt dies sowohl für das “normale/kompetente/aktive” Altern eine Rolle als natürlich auch in Hinblick auf Beeinträchtigungen (Multimorbidität, Gebrechlichkeit, etc.). Für erstere Gruppe sind technische Unterstützungsmassnahmen im Zusammenhang mit Arbeitsprozessen (AAL@work oder “Ambient Assisted Education” im Prozess des lebenslangen Lernens) zu sehen, wie auch beispielsweise im Bezug auf die Mobilität (adequate Einstiegshilfen, Automaten mit entsprechender altersgerechter Bedienung, was Handhabbarkeit bzw. Schriftgröße betrifft; “Ambient Assisted Transportation”). Dementsprechend haben Smart Home Anwendungen zum Ziel mit Hilfe verschiedenster Technologien und Dienstleistungen den Verbleib im Eigenheim zu ermöglichen oder zu verlängern, indem vor allem ATLs durch technische Unterstützung erleichtert werden. Die Technik verspricht eine Erhöhung an Sicherheit und Autonomie für den älteren Menschen im Sinne einer Ressourcenorientierung.
So ist auch für den privaten Freizeitsektor gesorgt, etwa durch Einkäufe über das Internet, das Ausüben von Hobbies wie Hörbücher oder Musik hören, Spiele, die man im WWW mit virtuellen oder realen Partner durchführen kann oder es ist auch nur für Unterhaltung in Chat Rooms gesorgt. Man könnte meinen, dass Personen ihre vier Wände gar nicht mehr verlassen müssen oder wollen werden, wobei dieser Aspekt sicher kritisch zu betrachten ist, da Untersuchungen über die Gesundheit der Bevölkerung zeigen, dass die Menschen einerseits noch nie so viel Wissen über gesunde und ausgewogene Ernährung hatten, andererseits aber 80% der Weltbevölkerung zu wenig auf Bewegung und Ernährung achten und 70% aufgrund von Problemen der Wirbelsäule oder Gelenken den Arzt aufsuchen.
Akzeptanz der Unterstützungsmaßnahmen
Was die Akzeptanz dieser technischen Hilfsmittel oder Anwendungen betrifft, zeigen Studien, dass eine freundliche sowie einfache Benutzeroberfläche und eine hohe Zuverlässigkeit entscheidend sind, ob das Produkt eingesetzt wird oder nicht. Eine Befragung von älteren Menschen in ihrer Wohnung verdeutlicht, dass das individuell erlebte Bedürfnis nach Unterstützung und die Ausstattung des Eigenheims den Wunsch nach Hilfe mittels technischer Lösungen beeinflussen. Folglich wurden auch nur solche Produkte als hilfreich erachtet, die eine wirkliche Unterstützung im Leben der Personen waren und/oder die Räume oder die Einrichtung des Eigenheims tatsächlich bereits zu Einschränkungen oder Barrieren im täglichen Leben führten. Dies hat zweierlei Konsequenzen: erstens muss das Produkt auch von den Betroffenen als effizient, sicher und einfach zu bedienen eingeschätzt werden, und weiters müssen Szenarien antizipiert und vorstellbar gemacht werden, um technische Produkte vorausschauend in das Leben betagter Menschen integrieren zu können – ein schwieriges Unterfangen, da die Frage danach bei den sogenannten Bedürfnis-Analysen häufig so beantwortet wird: Das benötige ich noch nicht – das brauche ich nicht mehr…... Ältere Menschen müssen daher unbedingt in die Entscheidung für technische Hilfsmittel mit einbezogen werden und ausreichend Informationen und Schulungen über die Handhabung der Produkte erhalten. Nur dann kann der Einsatz neuer Technologien hilfreich für die Erhaltung von Selbstständigkeit sein, einen erheblichen Beitrag zur Verlängerung des Verbleibs in der häuslichen Umgebung leisten und tatsächlich die Lebensqualität steigern oder erhalten.
Bedürfnis nach Sicherheit - Ablehnung von zu viel Kontrolle
Die Schnittstelle Technik/Gerontologie wirft neue ethische Fragstellungen auf: Generell sollten technische Lösungen immer auf einem informed consent, das heißt einer vorab gut informierten Einwilligung beruhen. Allerdings ist gerade diese in fortgeschrittenen Krankheitsstadien, oder Erkrankungen wie der Demenz, oft eingeschränkt. Selbst wenn Betroffene ihre Einwilligung zum Einsatz solcher Maßnahmen geben, bleibt doch immer die Frage ungeklärt, ob die Konsequenzen für sie begreifbar sind und wie gut ihr Technikverständnis ist, nachzuvollziehen, was ihnen da in die Hand gegeben wurde. Älteren Menschen ist es manchmal auch ein starkes Bedürfnis dem sozialen Umfeld nicht zur Last zu fallen, und es ist denkbar, dass sie unter diesem Aspekt Überwachungsmaßnahmen eher zustimmen, diese dann aber als massiv beeinträchtigend empfinden. Zwar wissen wir, dass ältere Menschen ein Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität haben, aber wissen wir auch, ob und in welcher Intensität sie überwacht werden möchten? Wie viel Kontrolle und Selbstmanagement sind sie bereit für eine hohe Sicherheit „einzutauschen“ und bis zu welchem Grad würden sie das tun, nur um im Eigenheim verbleiben zu können? Dies gilt es in Zukunft vor allem von psychologischer und ethischer Seite zu erfassen.
Was ist technisch machbar, was ist ethisch vertretbar?
Berücksichtigt man die oben angestellten Überlegungen wird deutlich, dass eine übertriebene Euphorie im Sinne eines Überangebots an technischen Geräten weder der Realität noch einer Notwendigkeit entspricht. Vielmehr geht es um eine auf das Individuum zentrierte adaptive Problemfokussierung. Die kognitive Alterung und Kompetenzerhaltung der älteren Menschen sowie deren Bedürfnisse und Wünsche sollten verstärkt in der Entwicklung neuer Technologien berücksichtigt werden. Technisch möglich ist bereits vieles, nun geht es darum den Benutzer in den Mittelpunkt zu rücken und die Compliance für die Annahme von Assistiven Technologien unter ethischen Gesichtspunkten zu erhöhen. Es gilt individuell Zeitpunkte zu erfassen, ab wann der Einsatz einer Technologie nötig ist – zu früh appliziert, kann sie Eigeninitiative und Aktivitäten reduzieren. Andererseits kann die Angst vor dem Umgang mit bestimmten Technologien mit speziell entwickelten Trainingsprogrammen und durch verstärkte Beratung verbessert werden, ebenso auch durch allgemeine Informationen in Gesundheits- und Sozialinstitutionen, die einen Überblick über die Möglichkeiten von Assistive Technologies geben. Zu berücksichtigen ist auch der sogenannte „“digital devide”, die “digitale Kluft”, womit gemeint ist, dass die Chancen auf den Zugang zum Internet und anderen (digitalen) Informations- und Kommunikationstechniken ungleich verteilt und stark von sozialen Faktoren abhängig sind, somit ein unterschiedlicher Zugang zu diesen Möglichkeiten besteht.
Studien haben gezeigt, dass professionelle Hilfe- und Pflegesysteme durch technische Unterstützung der Betroffenen zwar entlastet werden können, jedoch nicht ersetzbar sind - und es kann davon ausgegangen werden, dass beide Maßnahmen im Sinne einer Balance zwischen menschlicher und technischer Hilfestellung bestehen bleiben werden: diese Wechselwirkung gilt es noch genauer zu untersuchen!
Anmerkungen der Redaktion:
Essay von Ilse Kryspin-Exner im Science-Blog: Aktiv Altern: 2012 war das Europäische Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen
Weiterführende links:
Webseite des Ambient Assisted Living Joint Programme
Smart Home mit intelligenten Assistenten (Offis 2009), PDF-download. slide show:
Marktpotenziale und Entwicklungschancen von AAL-Technologien PDF-Download. R. Wichert, E. Berndt (2010)
SmartAssist – Smart Assistance with Ambient Computing. PDF-Download. A Schrader (2010) www.itm.uni-luebeck.de
Die Autorin
Ilse Kryspin-Exner wird hier vorgestellt.