Lise Meitner – weltberühmte Kernphysikerin aus Wien

Lise Meitner hat, nachdem sie als zweite Frau vor mehr als hundert Jahren an der Universität Wien in Physik promovierte, die wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen und grundsätzliche Beiträge zum Verständnis des Aufbaus von Atomkern, Atomhülle und der Vorgänge beim radioaktiven Zerfall geleistet. Lise Meitner ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass - auch für Frauen und unter schwierigsten Bedingungen - naturwissenschaftliche Begabung gepaart mit Enthusiasmus und enormem Einsatz zu Erfolg und Ruhm führen kann.

Lore Sexl für den Science Blog

"... ich fühle beinahe täglich mit Dankbarkeit, wieviel ich an Gutem und Schönem von zuhaus mitbekommen habe. Letzten Endes ist es noch heute der Boden, auf dem ich stehe ...."
Lise Meitner an die Wiener Physikerin Berta Karlik 1951

JAHRE DER PRÄGUNG - WIEN 1878-1907

Mitten in die Regierungszeit Kaiser Franz Josephs wird Elise Meitner am 17. November 1878 als drittes von acht Kindern des Hof- und Gerichtsadvokaten Philipp Meitner und seiner Frau Hedwig, geb. Skovran, in Wien geboren. Durch Versehen eines Beamten wird der 7. November 1878 zu ihrem amtlichen Geburtsdatum. Lise Meitner und ihre sieben Geschwister wachsen in einem liberalen, intellektuellen, von Musik und Kultur geprägten Elternhaus auf.

Lise Meitner schließt die Bürgerschule 1892 ab, damit ist die Schulausbildung der noch nicht Vierzehnjährigen beendet. Doch Lise Meitner will unbedingt studieren. Von Kindheit an interessiert sie sich für Naturwissenschaften und Mathematik.

1892 gibt es in Wien keine öffentlichen Gymnasien für Mädchen, für Lise Meitner bleibt nur die Möglichkeit der Externistenmatura. Auf Drängen ihrer Eltern macht sie eine Ausbildung als Französischlehrerin und unterstützt die Ausbildung der beiden älteren Schwestern durch Privatstunden. In ihrer Freizeit arbeitet sie bei sozialen Hilfsorganisationen. Im Alter von zwanzig Jahren erhält sie von den Eltern finanzierten Privatunterricht, um sich auf die Externistenmatura vorzubereiten. Im Juni 1901 bestehen nur vier von vierzehn Mädchen die "überhaupt nicht einfache Prüfung" am Akademischen Gymnasium in Wien.

Im Wintersemester 1901/02 inskribiert Lise Meitner an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien; sie belegt die Fächer Physik, Mathematik und Philosophie. Zu ihren Lehrern gehören: Franz Seraphin Exner, Adolf von Lieben, Anton Lampa und der von ihr besonders verehrte Ludwig Boltzmann.

Die Jugendjahre um die Jahrhundertwende in Wien prägen Lise Meitners Leben bis ins hohe Alter. In dieser Zeit entstehen ihre lebenslange Passion für Musik und ihr Interesse für Literatur. Lise Meitner liest in französischer, englischer, lateinischer und griechischer Sprache.

Abbildung 1. Lise Meitner 1906 (Quelle: Wikipedia)

Lise Meitner promoviert am 1. Februar 1906 mit Auszeichnung; sie ist die zweite Frau, die an der Wiener Universität im Hauptfach Physik promoviert. Um eine gesicherte Arbeitsmöglichkeit zu haben, legt sie auch die Lehramtsprüfung für Mathematik und Physik ab, obwohl sie niemals Lehrerin werden will.

1906 beginnt Lise Meitner auf Anregung von Stefan Meyer in dem jungen Gebiet der Radioaktivität zu arbeiten. Ihre erste selbständige Arbeit über Radioaktivität ist die Messung der Absorption von Alpha- und Betastrahlen in Metallen.

Obwohl Lise Meitner in knapp zwei Jahren vier eigenständige wissenschaftliche Arbeiten macht, hat sie wie die meisten Mitarbeiter der Physikalischen Institute keine Aussicht auf eine bezahlte Anstellung an der Universität. 1906 lehnt sie das Angebot einer gut dotierten Stelle in der Gasglühlichtfabrik von Carl Auer von Welsbach ab; sie will in der Forschung bleiben. Sie bittet ihre Eltern um weitere finanzielle Unterstützung und beschließt, bei Max Planck, dem Begründer der Quantentheorie, weiterzustudieren.

Mit der Absicht, ein oder zwei Semester in Berlin zu bleiben, verläßt Lise Meitner im Herbst 1907 ihre Heimatstadt Wien.

JAHRE DER WISSENSCHAFT - BERLIN 1907-1938

„Herzlich liebe ich die Physik. Ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken. Es ist so eine Art persönliche Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt, und ich, die ich so sehr an schlechtem Gewissen leide, bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.“ (Lise Meitner an Elisabeth Schiemann, 1915)

Max Planck wird Lise Meitners wissenschaftliches und menschliches Vorbild. Da Frauen an preußischen Universitäten noch nicht zugelassen sind, ersucht Lise Meitner Max Planck, seine Vorlesungen hören zu dürfen. Max Planck erkennt Lise Meitner´s große wissenschaftliche Begabung und gestattet ihr nicht nur, seine Vorlesungen in theoretischer Physik zu besuchen.
Neben der theoretischen Weiterbildung sucht Lise Meitner eine experimentelle Tätigkeit. 1907 beginnt die mehr als dreißigjährige Zusammenarbeit mit dem gleichaltrigen Radiochemiker Otto Hahn (Abbildung 2). Die Erforschung der Radioaktivität erfordert von Anfang an den gleichzeitigen Einsatz physikalischer und chemischer Methoden. Meitner und Hahn ergänzen sich in ihrer Zusammenarbeit ideal.

Abbildung 2. Lise Meitner und Otto Hahn 1913. Kaiser Wilhelm Institut für Chemie, Berlin-Dahlem (Quelle: Wikipedia)

Zu den Laboratorien der Universität hat Lise Meitner als Frau keinen Zugang. Gemeinsam mit Otto Hahn experimentiert sie in einer ehemaligen Tischlerwerkstatt. Sie arbeitet zunächst unentgeltlich als Gast und lebt von der Unterstützung ihrer Eltern in einem kleinen Untermietzimmer; oft überlegt sie, ob sie Zigaretten oder Brot kaufen soll.

In den ersten gemeinsamen Arbeitsjahren konzentrieren sich Meitner und Hahn auf die Untersuchung von radioaktiven Elementen und ihren Zerfallskonstanten.

Ab 1910 spezialisiert sich Lise Meitner auf die Untersuchung der radioaktiven Betastrahlen. Lise Meitner gehört bald zu dem Kreis führender Wissenschaftler und nimmt an den legendären, von Max von Laue geleiteten "Berliner-Mittwoch-Kolloquien" teil, in denen die aktuellen physikalischen Themen besprochen werden. Sie hat Gelegenheit zu fruchtbaren Diskussionen mit Max Planck, Max von Laue, Gustav Hertz, Peter Pringsheim, Albert Einstein, James Franck und Otto von Baeyer.

1912 wird Lise Meitner Max Plancks Assistentin und hat mit 33 Jahren zum ersten Mal eine bezahlte Anstellung. Sie ist "der erste weibliche Universitätsassistent" Preußens. 1912 übersiedeln Meitner und Hahn in das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem. Die neuen Laboratorien haben den Vorteil, nicht radioaktiv kontaminiert zu sein.

Von August 1915 bis Oktober 1916 arbeitet Lise Meitner als Röntgenassistentin in österreichisch-ungarischen Lazaretten

1917 entdecken Meitner und Hahn nach jahrelangem Experimentieren die Muttersubstanz des Actiniums, die den Namen Protactinium erhält.

1917 wird Lise Meitner der Titel Professor verliehen; sie wird Direktorin einer für sie geschaffenen radiophysikalischen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut und löst sich nun in ihrer Arbeit völlig von Otto Hahn. 1922 habilitiert sich Lise Meitner bei Heinrich Rubens und Max von Laue mit der Arbeit "Über die Entstehung der Betastrahlspektren radioaktiver Substanzen". Habilitationskolloquium und -vortrag werden ihr erlassen.

In den Jahren 1922-1925 klärt Lise Meitner wesentliche Eigenschaften der Betaspektren auf. Sie leistet damit grundsätzliche Beiträge zum Verständnis des Aufbaus von Atomkern, Atomhülle und der Vorgänge beim radioaktiven Zerfall.

Lise Meitner ist die erste, die erkennt, daß die Betastrahlen Atomelektronen entsprechen, die aus inneren Elektronenschalen, - das bedeutet hohe Energie - stammen. Diese werden durch die Absorption von Gammastrahlen ausgelöst, die aus dem Atomkern bei spontanen Umwandlungen freigesetzt werden. Die Energien der Betastrahlen entsprechen dem umgewandelten Atom. Damit weist sie nach, daß die Emission der Elektronen erst nach der Atomumwandlung (verbunden mit der Emission des Gammastrahls) erfolgt. In diesem Punkt
Die Jahre zwischen 1917 und 1933 gehören zu den wissenschaftlich erfolgreichsten Jahren in Lise Meitners Leben.

Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kommt, verliert Lise Meitner durch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" im September 1933 die Lehrbefugnis. Die Stellung am Kaiser-Wilhelm-Institut bleibt ihr als österreichische Staatsbürgerin erhalten. Trotz intensiver Interventionen von Planck und Hahn im Wissenschaftsministerium ist Lise Meitner ab 1933 von allen universitären Veranstaltungen ausgeschlossen.

Max Planck, Max von Laue und Werner Heisenberg schlagen Lise Meitner mehrfach für den Nobelpreis vor.

Diese soziale und wissenschaftliche Isolation ist ausschlaggebend, daß sie 1934 wieder eine gemeinsame Arbeit mit Otto Hahn initiiert, die Erzeugung von den sogenannten Transuranen: Elemente, die bei Beschuss von Uran mit Neutronen entstehen und daher schwerer als Uran sind. Der analytische Chemiker Fritz Straßmann wird 1934 zu den Experimenten zugezogen.
Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 wird Lise Meitner Reichsdeutsche, die Rassengesetze gelten nun auch für sie. Ihre Lage am Institut verschlechtert sich dramatisch. Am 10. Juli 1938 schickt das Team Meitner, Hahn, Straßmann die letzte gemeinsame Arbeit an die "Naturwissenschaften". Am 13. Juli 1938 flieht Lise Meitner mit einem Handkoffer über einen wenig frequentierten Grenzübergang in die Niederlande.

In den Jahren 1908-1938 publiziert sie 59 Arbeiten alleine und 68 Arbeiten gemeinsam mit Otto Hahn und anderen.

JAHRE DES EXILS: STOCKHOLM - CAMBRIDGE 1938-1968

„Etwas komme ich mir wie ein Toter vor, dessen Stimme nicht mehr gehört werden kann“ (Lise Meitner an E. Schiemann 1939)

Lise Meitner entschließt sich, die von Manne Siegbahn angebotene Stelle am neu gebauten Nobelinstitut in Stockholm anzunehmen. Die Arbeitsbedingungen am Institut von Siegbahn sind für sie extrem schlecht. Es fehlt an den einfachsten Arbeitsgeräten. Sie hat kaum menschlichen Kontakt, weder einen Laboranten noch einen Assistenten und bezieht das Gehalt eines Anfängers. Erst nach drei Jahren hat sie die Möglichkeit, eine Vorlesung zu halten.

Die Entdeckung der Kernspaltung.

In Berlin setzen Otto Hahn und Fritz Straßmann die gemeinsam mit Lise Meitner begonnenen "Transuranexperimente" fort (Abbildung 3). Beim Beschuß des Urankerns mit Neutronen weisen Hahn und Straßmann ein Element nach, das sich chemisch wie das "leichte" Element Barium und nicht wie das erwartete "schwere" Transuran verhält. Otto Hahn informiert nicht seine Mitarbeiter am Institut, sondern bittet seine Kollegin in Stockholm um eine physikalische Erklärung.

Im Dezember 1938 beginnt ein reger Briefwechsel zwischen Berlin und Stockholm, der den Ablauf der Berliner Experimente und die wesentlichen Beiträge, die Lise Meitner zur Deutung der Kernspaltung leistet, kommentiert: Briefwechsel zur Kernspaltung).

Abbildung 3. Versuchsanordnung mit der Meitner, Hahn und Straßmann nach Transuranen suchten und mit der 1938 die Kernspaltung entdeckt wurde.
(Quelle: Wikipedia)

Ende Dezember 1938 berichtet Lise Meitner ihrem Neffen Otto Robert Frisch über die Ergebnisse von Hahn und Straßmann. Meitner und Frisch erklären das Zerplatzen des Urankerns. Das "Zerplatzen" des Urankerns in zwei Bruchstücke mit Hilfe des Bohrschen Tröpfchenmodells. Sie schätzen nach Einsteins Formel E=mc2 die frei werdende Energie ab. Für den Vorgang des Zerplatzens eines Urankerns durch Neutronenbeschuß in zwei leichtere Bruchstücke prägen sie den Begriff "nuclear fission" bzw. Kernspaltung.

Für die Entdeckung der Kernspaltung erhält Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie 1944. Meitner und Straßmann werden nicht berücksichtigt.

Lise Meitner und Otto Hahn ist die Gefährlichkeit der Auswirkung der Kernspaltung voll bewußt. Beide sprechen sich gegen die Erzeugung von Kernwaffen aus. Meitner, Hahn und Straßmann sind an der Entwicklung der Atombombe völlig unbeteiligt. Es ist unwahrscheinlich, daß Lise Meitner Kenntnis von den Arbeiten in den USA und in England hatte.

Im August 1945 fallen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Lise Meitner rückt als Mitentdeckerin der Kernspaltung in das Licht der Öffentlichkeit; in Europa und USA werden zahlreiche Interviews mit ihr veröffentlicht.

Lise Meitner macht ihrer engsten Freundin der Biologin Elisabeth Schiemann, aber auch Otto Hahn und Max von Laue und anderen Kollegen in Deutschland den Vorwurf, passiv und ohne Widerstand das Hitlerregime hingenommen zu haben. Im Juni 1945 schreibt sie an Otto Hahn einen Brief, der ihn aber nie erreicht hat:

Lise Meitner macht Otto Hahn den Vorwurf, ihren Anteil an der Kernspaltung nicht genügend gewürdigt und sie nur als "seine Mitarbeiterin" bezeichnet zu haben. Zwischen Meitner und Hahn kommt es immer wieder zu Spannungen, Kontroversen und Mißverständnissen, die sich bei persönlichen Aussprachen und in Briefen im Laufe der Jahre auflösen.

Ende 1945 nimmt Lise Meitner eine Gastprofessur an der katholischen Universität in Washington D.C. an und hält ein Semester lang Vorlesungen über Kernphysik. Sie wird von Präsident Truman empfangen, erhält vier Ehrendoktorate und wird wegen ihres Beitrages zur Kernspaltung zur Frau des Jahres gewählt, wie Jahre zuvor Marie Curie.

1950 besucht sie zum ersten Mal wieder ihre Heimat Österreich. Es ist der erste von vielen weiteren Besuchen. Lebenslang behält sie die österreichische Staatsbürgerschaft, 1950 nimmt sie die schwedische Staatsbürgerschaft nur unter der Bedingung an, die österreichische behalten zu können.

Lebensabend in Cambridge

Mit 82 Jahren übersiedelt Lise Meitner von Stockholm nach Cambridge, um in der Nähe ihrer Verwandten zu leben. Auch im hohen Alter macht sie viele Reisen; sie hält Vorträge in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Österreich. Weihnachten 1964 fährt sie mit 86 Jahren zum letzten Mal in die Vereinigten Staaten und hält Vorlesungen.

Lise Meitner stirbt wenige Tage vor ihrem 90. Geburtstag in einem Pflegeheim in Cambridge. Auf ihren Wunsch wird sie auf dem kleinen Dorffriedhof von Bramley in der Nähe von Cambridge beigesetzt.

Lise Meitners letztes öffentliches Auftreten im kleinen Kreis ist die Entgegennahme des Enrico Fermi Preises am 23. Oktober 1966 in Cambridge. Ihre Dankesworte sind:

"... Es ist alles so schwierig geworden, weil wir an den alten Grundlagen hängen, die nicht mehr da sind. Es ist in der Politik nicht anders als in der Kunst. Überall ist es ein Suchen nach neuen Grundlagen, nach neuen Ausdrucksformen und wenig bewußter Wille, sich gegenseitig zu verstehen und sich zu verständigen ... Wir lernen langsam. Trotzdem glaube ich daran, daß es einmal wieder eine vernünftige Welt geben wird, auch wenn ich es nicht mehr erleben werde."

 

Anmerkungen der Redaktion

Die Autorin

Hannelore Sexl wird hier vorgestellt.

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