Der Kobold in mir - Was das Kobalt unseres Körpers von der Geschichte des Lebens erzählt

Das Kobalt enthaltende Vitamin B12 ist essentiell für die normale Funktion von Gehirn und Nervensystem spielt eine zentrale Rolle in der Blutbildung. Für die nötige Zufuhr sind wir direkt oder indirekt auf Mikroorganismen- die einzigen Produzenten des Vitamins - angewiesen.

Gottfried Schatz für den Science-Blog

Die Fabelwelt der Alpen war stets reich an Schreckensgestalten. In Winternächten bedrohten Perchten, Habergeissen und Krampusse einsame Wanderer, und tief unter Tag spiegelten die Berggeister Kobold und Nickel in Gestalt gleissender Erze den Knappen Silberadern vor. Anstatt des begehrten Edelmetalls lieferten diese Erze bei der Schmelze jedoch nur unansehnliche Schlacke – und der Kobold dazu noch hochgiftiges Arsenoxid, das unter dem Namen «Hüttrauch» als heimtückisches Mordgift berüchtigt war. Erst als die Silberminen sich erschöpften, lernten schlesische Bergleute auch das einst verachtete Kobolderz schätzen, weil es Gläsern und Glasuren eine tiefblaue Farbe verlieh. Im Jahre 1737 zeigte schliesslich der schwedische Chemiker George Brandt, dass die giftigen Kobolderze neben den bereits bekannten Elementen Arsen und Schwefel ein bis dahin unbekanntes metallisches Element enthielten, das seither unter dem Namen Kobalt den Platz 27 im Periodensystem der Elemente besetzt.

Ein molekularer Käfig

Die schlesischen Bergleute hatten den Wert des Kobalts allerdings nicht als Erste erkannt. Die Ägypter waren ihnen dabei um mindestens drei Jahrtausende zuvorgekommen – und auch sie waren nur späte Epigonen einzelliger Lebewesen, die vor etwa drei Milliarden Jahren die Zauberkräfte des Kobalts für schwierige chemische Reaktionen einsetzten wie die Verknüpfung oder Trennung zweier Kohlenstoffatome. Die Zellen hefteten dazu das Kobalt an bestimmte Proteine an und konnten mit diesen kobalthaltigen «Enzymen» neuartige Stoffwechselprozesse entwickeln. Um einige dieser Enzyme noch wirksamer zu gestalten, umgaben die Zellen das Kobalt mit einem kunstvollen molekularen Käfig.

Abb. 1: Der molekulare Kobalt-Käfig. Der aus 183 Atomen bestehende Molekülkomplex hat im Zentrum ein Kobalt  (Co,gelb), Kohlenstoffatome sind grau, Stickstoffe blau, Sauerstoffe rot, der  Phosphor einer Phosphatgruppe ist grün. (Struktur: PDB1D 1DDY)

Dieser Kobalt-Käfig ist eine chemische Glanzleistung des Lebens. Er gleicht einem molekularen Spinnennetz aus über tausend Atomen, in dessen Mittelpunkt ein Kobalt-Atom sich wie eine sechsbeinige Spinne mit fünf Beinen festhält und mit dem sechsten chemische Reaktionen vermittelt. Vieles spricht dafür, dass dieser Käfig vor etwa 2,75 bis 3 Milliarden Jahren entstand, als die Urmeere noch kein Sauerstoffgas enthielten. Chemiker tauften den mit Kobalt beladenen Käfig «Cobalamin». Sie versuchten vergeblich, seine Struktur aufzuklären, und mussten mit neidischer Bewunderung zusehen, wie dies der britischen Biophysikerin Dorothy Crowfoot Hodgkin nicht mit chemischen Methoden, sondern mit Röntgenstrahlen gelang. Im Jahre 1972 konnten dann der Schweizer Albert Eschenmoser und der US-Amerikaner Robert B. Woodward den Kobalt-Käfig im Laboratorium herstellen. Diese Synthese beschäftigte über hundert Chemiker elf Jahre lang und gilt als eine der schwierigsten und virtuosesten Totalsynthesen aller Zeiten.

Höhere Lebensformen

In seiner Frühzeit experimentierte das Leben nicht nur mit Kobalt, sondern auch mit Nickel, Eisen und Mangan, weil diese Metalle in den Urmeeren reichlich vorhanden waren. So entstanden metallhaltige Enzyme, die ungewöhnliche chemische Reaktionen ermöglichten und dem Leben immer neue biologische Nischen erschlossen. Als jedoch einige Lebewesen mit Hilfe des Sonnenlichts Sauerstoffgas aus dem Meerwasser freisetzten, liess dieses Gas schwefelhaltige Gesteine verwittern, so dass ihr Schwefel in die Meere spülte und Kobalt, Nickel, Mangan und Eisen als unlösliche Sulfide zum Meeresboden sanken. An ihrer Stelle reicherten sich nun Zink und Kupfer im Meerwasser an.

Die damaligen Lebewesen konnten zwar ihre bereits vorhandenen Metall-Enzyme weiterhin herstellen, ersetzten jedoch deren Metalle allmählich durch Zink oder Kupfer oder entwickelten völlig neue zink- oder kupferhaltige Enzyme. Die höheren Lebensformen, die sich nach dem Auftreten von Sauerstoffgas entwickelten, erfanden kaum noch neue Kobalt-Enzyme, sondern begnügten sich mit denen, die sie von ihren Vorfahren erbten. Allmählich verlernten sie sogar, das lebenswichtige Cobalamin herzustellen. Sie überliessen diese Aufgabe einfachen Bakterien und mussten diese nun essen oder mit ihnen zusammenleben, um nicht zugrunde zu gehen. Nur höhere Pflanzen können heute ohne Cobalamin auskommen. Algen, Protozoen, Tiere und Menschen müssen es jedoch in winzigen Mengen mit ihrer Nahrung zu sich nehmen. Für sie ist es das lebenswichtige Vitamin B 12 – ein Erbe aus dem fernen «Kobaltzeitalter» des Lebens.
Ich muss täglich nur ein bis zwei Millionstel Gramm dieses Vitamins essen, um langfristig zu überleben. Kein anderes Vitamin wirkt in so geringer Menge, vielleicht weil nur zwei der zahllosen chemischen Reaktionen in meinem Körper Vitamin B 12 benötigen. Doch ohne diese zwei Reaktionen wären meine Zellen gegen Sauerstoff überempfindlich und könnten weder genügend Energie noch Erbmaterial für Tochterzellen produzieren. Ich beziehe mein Vitamin B 12 zum Teil von meinen Darmbakterien, hauptsächlich aber von Fleisch, Milch und Eiern. Die Tiere, von denen diese Produkte stammen, bekommen das Vitamin wiederum von den in ihnen lebenden Bakterien oder von Pflanzen, die mit Bakterien oder an Vitamin B 12 reichen Tierexkrementen verunreinigt sind.

Ein Tausendstelgramm

Strikte Vegetarier oder Veganer, die auf alle tierischen Produkte verzichten und auf gut gewaschene Nahrung achten, könnten deshalb an Vitamin B 12 verarmen. Dies kann Jahrzehnte dauern, da die Leber einen mehrjährigen Vorrat speichert und der Dünndarm einen Grossteil des Vitamins vor seiner Ausscheidung in den Körper zurückrettet. Vitamin-B 12 -Mangel schädigt Nerven und Gehirn und verursacht die tödliche Blutarmut «perniziöse Anämie». Ihre Ursache ist meist nicht eine ungenügende Zufuhr des Vitamins, sondern die fehlende Bildung eines Proteins, das von den Zellen der Magenwand in den Magen abgeschieden wird und die Aufnahme des Vitamins im Dünndarm vermittelt. Wir können diesen Proteinmangel zwar nicht heilen, durch Injektion des Vitamins in die Muskeln jedoch wirksam überbrücken und so den betroffenen Menschen ein normales Leben sichern.

Ich trage lediglich ein Tausendstelgramm Kobalt in mir. Sein Anteil an meinem Körpergewicht entspricht dem eines menschlichen Haars auf meinem Auto. Doch dieses Haar ist einer der unzähligen Fäden, die mich in das Netz des Lebens einbinden. Ich wurde Biochemiker, um das chemische Geschehen in mir zu verstehen, und ahnte nicht, dass es mir von meinen fernen Ahnen und der atemberaubenden Geschichte des Lebens erzählen würde. Diese Geschichte lässt mir die Kriege, Krönungen und Reichsgründungen meines Schulunterrichts klein und unwichtig erscheinen. Ist es noch berechtigt, unsere Geschichtsschreibung mit dem Erscheinen von Homo sapiens zu beginnen, da nun das molekulare Palimpsest lebender Materie unseren Zeithorizont um fünf Grössenordnungen erweitert hat? Sollten die Geschichtswissenschaften nicht ihre Scheuklappen ablegen und den Blick viel weiter als bisher in die Vergangenheit wagen?

 

Anmerkungen der Redaktion

Weiterführende Links

Vitamin B12 (Gesundheits-Wiki) http://www.youtube.com/watch?v=mqDvb4AyMT4&feature=related

Foods high in Vitamin B12
http://www.youtube.com/watch?v=wEWRCj3U33c

Der Autor

Gottfried Schatz wird hier vorgestellt

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