Die roten Meinungsmacher (25): Das Lentia-Urteil: SPÖ-Medienpolitik am internationalen Pranger

Am 24. November 1993 fällt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein für Österreich richtungsweisendes Urteil: Das ORF-Rundfunkmonopol verstößt gegen die Menschenrechtskonvention. Es verletzt laut Artikel 10 EMRK das Recht auf freie Meinungsäußerung:

„(1) Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.“[i]

Die Richter in Straßburg fällen das Urteil einstimmig, die Begründung ist in deutliche Worte gefasst. Der EGMR[ii] spricht von der „fundamentalen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft“[iii]. Das öffentlich-rechtliche Rundfunkmonopol mache aber die Rundfunkveranstaltung durch andere als den Monopolisten „völlig unmöglich“.[iv]

„Of all the means of ensuring that these values are respected. A public monopoly is the one which imposes the greatest restrictions on the freedom of expression (…)”[v] Auch die Argumentation der Regierung, wonach der österreichische Markt schlicht zu klein für ein duales Rundfunksystem sei, lassen die Richter aus gutem Grund nicht gelten:

„The assertions are contradicted by the experience of several European states of comparable size to Austria, in which the coexistence of private and public stations, according to rules which vary from country to country and accompanied by measures preventing the development of private monopolies shows the fears expressed to be groundless.“[vi]

Freiheitskämpfer auf dem Weg nach Straßburg

Das hat gesessen. Aber wie ist es überhaupt zu dem Urteil gekommen? Dem Spruch der Richter in Straßburg geht ein fast 15 Jahre dauerndes Verfahren voraus. Der Linzer Informationsverein Lentia, der in einer Wohnhausanlage ein Kabelfernsehprojekt starten wollte,[vii] blitzt damit 1978 beim zuständigen Verkehrsministerium ab. Die engagierten Vereinsmitglieder geben sich mit dem Nein von SPÖ Minister Karl Lausecker aber nicht zufrieden und schöpfen den österreichischen Instanzenzug voll aus. 1988 wenden sie sich schließlich an die europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg.

Der Informationsverein Lentia ist aber nicht der einzige Beschwerdeführer. In den darauffolgenden Jahren werden weitere vier Beschwerden an die Kommission gerichtet. Die Arbeitsgemeinschaft Offenes Radio (AGORA) aus Kärnten, Privatradiopionier Willi Weber, FPÖ-Chef Jörg Haider und die Radio Melody GmbH des Salzburgers Viktor Lindner treten ebenfalls den Weg nach Straßburg an.[viii]

Auch Lindner kämpft seit vielen Jahren um das Recht, Radio in Österreich veranstalten zu dürfen. Unter anderem startet er 1987 eine Plakataktion. In Salzburg affichiert er auf seinen rund 200 firmeneigenen Plakatwänden Aufrufe gegen das Rundfunkmonopol[ix], schreibt Briefe an Bundeskanzler Fred Sinowatz[x] und beantragt eine UKW-Frequenz für Linz. Freilich ohne Erfolg.

Die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam, auch auf europäischer Ebene. Erst im Jahr 1992 wird die Europäische Kommission für Menschenrechte tätig. Die unabhängig voneinander eingebrachten Beschwerden werden zusammengefasst, am 14.1. findet eine erste öffentliche Anhörung statt.[xi]

Scheinargumente der SPÖ – kein Monopol ohne Störsender

Bei dieser Gelegenheit verteidigt sich die Bundesregierung damit, dass es laut Art. 10 EMRK Staaten schließlich erlaubt sei, Rundfunkunternehmen einem Genehmigungsverfahren zu unterziehen, was in Österreich de facto freilich nie passiert ist. Jedenfalls sei aufgrund dieses Gestaltungsfreiraumes „die Errichtung eines Monopols mit Art. 10 EMRK nicht unvereinbar“[xii].

Dass diese Argumentation äußerst holprig ist, weiß auch die Regierung, zumal bereits im Jahr 1988 der Jurist Walter Berka in seinem Buch „Rundfunkmonopol auf dem Prüfstand“ eindeutig feststellt, „daß durch die Säumigkeit des österreichischen Gesetzgebers Art. X der EMRK verletzt wird.“[xiii] Man stellt sich also schon damals auf eine Verurteilung ein und bastelt deshalb, freilich ohne großen Enthusiasmus, am Regionalradiogesetz. Noch bevor das Gesetz in Kraft tritt, entscheiden die Richter in Straßburg wie allgemein erwartet.

Obwohl das Urteil bindend ist, die Europäische Menschenrechtskonvention hat in Österreich Verfassungsrang, reagiert die SPÖ demonstrativ gelassen und stellt von Anfang an auf gut wienerisch klar, Verstoß gegen die Menschenrechte hin oder her, „nur ned hudln“.

Bundeskanzler Vranitzky, der seinerzeit 1992 zum Medienjahr erkoren hatte, verkündet im Nationalrat keck, dass das EGMR-Urteil „von der österreichischen Medienpolitik längst überholt sei.“[xiv] Schließlich wisse „in Österreich jedes Kind, daß es bei den Medien kein einziges staatliches und schon gar kein Regierungsmonopol gibt.“[xv]

Dass das ORF-Monopol rechtlich kein „Regierungs-" und kein staatliches Monopol ist, ist zwar richtig, schließlich ist der ORF – zumindest auf dem Papier - eine unabhängige öffentlich-rechtliche Anstalt. Kleiner Schönheitsfehler in Vranitzkys Argumentation: Der EGMR hat das Rundfunkmonopol des ORF und das damit verbundene Verbot von Privatrundfunk kritisiert und verurteilt, von staatlichen Monopolen ist im EGMR-Urteil keine Rede.

Aber selbst das Rundfunkmonopol, ob nun staatlich oder nicht, existiert in Österreich laut Vranitzky ohnehin nicht: „Über Kabel, Satelliten und terrestrisch können hunderttausende Haushalte seit Jahren 20 und mehr Hörfunk- und Fernsehprogramme aus dem Ausland empfangen.“[xvi] Hier haben wir sie wieder, die ebenso krude wie beliebte SPÖ- und ORF-Argumentationslinie, dass mit dem Nichtverhindern bzw. der Nichtbestrafung des Empfangs ausländischer Programme die Presse- und Meinungsfreiheit in Österreich ohnehin ausreichend garantiert sei. Aber auch hier irrt der Bundeskanzler, schließlich kritisieren die Richter in Straßburg, dass es in Österreich verboten sei, Rundfunkprogramme zu produzieren und auszustrahlen.

Lustlose Privatisierungsbemühungen ziehen sich hin

Weil das Vranitzky, trotz gegenteiliger Behauptungen, natürlich auch weiß, fügt er hinzu: „Die Regierung habe bereits 1990 mit einem Liberalisierungsprogramm beim Radio begonnen. Bald können die vorhandenen Frequenzen auf interessierte Anbieter aufgeteilt und zusätzliche regionale und kommerzielle Radioprogramme empfangen werden.“[xvii]

Über Privatrundfunk wird in Österreich schon seit Jahrzehnten lust- und ergebnislos diskutiert, Dutzende Initiativen, Gesetzesvorschläge und Konzepte wurden bereits erarbeitet. Selbst Bruno Kreisky hatte bereits 1972 aus taktischen Gründen Privatfernsehen ins Spiel gebracht[xviii]. Rundfunkfreiheit erschöpft sich allerdings nicht darin, dass man darüber jahrzehntelang diskutiert oder Expertengruppen und Arbeitskreise installiert. Rundfunkfreiheit entsteht einzig und allein dadurch, Privatrundfunk zuzulassen. Und das ist in Österreich bis dato nicht passiert.

Obwohl man es nun schwarz auf weiß, sozusagen amtlich hat, dass in Österreich seit Jahren die Menschenrechte verletzt werden, gibt es bei der SPÖ keinerlei Schuldbewusstsein. Ganz im Gegenteil. SPÖ-Chef und Bundeskanzler Vranitzky kommt zu dem Schluss. „Wie man sieht, ist unsere medienpolitische Diskussion längst über das Straßburger Urteil hinaus“[xix]. Vranitzky bezieht sich damit auf das Regionalradiogesetz, das mit 1.1. 1994 in Kraft treten soll. Der SPÖ-Chef übersieht dabei aber geflissentlich, dass sich dieses Regionalradiogesetz, wie der Name schon sagt, ausschließlich auf den Hörfunk bezieht. „Die Aussagen des Gerichtshof bleiben aber keineswegs auf den Radiobereich beschränkt.“[xx]

Rechtsanwalt Thomas Höhne, der die fünf Beschwerdeführer in Straßburg vertreten hat, mahnt deshalb nach der Urteilsverkündung von der Regierung ein: „Damit ist der Gesetzgeber verpflichtet, das Monopol abzuschaffen und eine Liberalisierung auch auf dem Fernsehsektor einzuleiten.“[xxi] Auch ÖVP, FPÖ und LiF drängen deshalb auf eine rasche Öffnung des TV-Marktes. So fordert etwa ÖVP-Klubchef Heinrich Neisser: „Eine gesetzliche Regelung für Privatfernsehen sollte – ohne lange Diskussion – im Laufe der nächsten Jahre realisiert werden.“[xxii]

Besonders optimistisch ist Rechtsanwalt Höhne allerdings nicht, schließlich ist das „Straßburger Urteil nicht einfach durch das Gericht exekutierbar.“[xxiii] Und von einer echten Liberalisierung des Fernsehens will die SPÖ trotz des eindeutigen Richterspruchs nichts wissen. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Josef Cap begnügt sich mit der vagen Ankündigung einer Scheinliberalisierung: „Im Fernsehbereich habe die SPÖ den Vorschlag unterbreitet, über ein drittes Programm zu diskutieren, das vom ORF unter Beteiligung von Privaten gesendet werden könnte.“[xxiv] An das Koalitionsabkommen mit der ÖVP aus dem Jahr 1990 will sich die SPÖ nun auch nicht mehr erinnern. Darin stand: „Es ist eine Liberalisierung des Hörfunks und Fernsehens für private Programmanbieter vorzunehmen.“[xxv]

SPÖ: Legal, illegal . . . . . . egal

Doch gegen den ÖGB ist selbst Josef Cap ein wahrer Freund des Privatfernsehens. Die Gewerkschaft pfeift auf die Menschenrechte, macht dem ORF die Mauer und sieht „derzeit keinen dringenden gesetzlichen Handlungsbedarf“[xxvi]. Was die Betonköpfe von der Gewerkschaft wirklich wollen, ist ein „starker nationaler Rundfunk.“[xxvii]

Trotz all dieser nicht gerade ermutigenden Signale stehen die ersten Fernsehmacher in spe bereits in den Startlöchern. Die von Kronenzeitungschef Hans Dichand gegründete TV-Anbietergesellschaft „Tele1.“ stellt noch im selben Jahr einen Antrag auf eine Sendelizenz. Man rechnet zwar nicht ernsthaft eine solche zu bekommen, Dichand sieht sich vielmehr als „Eisbrecher“, um die Liberalisierung des Fernsehmarktes voranzutreiben.[xxviii]

Auch der Richterspruch aus Straßburg hat bei Josef Cap und seinen Genossen keinerlei Umdenken bewirkt. Man hält weiter verbissen am ORF-Monopol fest und gibt nur zähneknirschend preis, was absolut notwendig ist. Der bekannte Medienanwalt Georg Streit kommt deshalb zu dem Schluss: „Ganz der bisherigen Linie folgend bleibt die österreichischen Politik bei ihrem Zögern und schreibt die Haltung des definitiven „Vielleicht“ zu privatem Rundfunk fort.“[xxix]

Ähnlich das Urteil von Kommunikationswissenschaftler Josef Sommer im Jahr 1996: „Trotz der Verabschiedung des Regionalradiogesetzes war bzw. ist dieses Urteil für die österreichische Medienpolitik von Bedeutung, da darin in keiner Weise zwischen Radio und Fernsehen differenziert wird, weshalb das Monopol des ORF im Fernsehbereich auch weiterhin als konventionswidrig zu bezeichnen ist.“[xxx]

Das Lentia-Urteil ist auch der Beginn einer Entwicklung, die sich noch über viele Jahre hinziehen wird: Weil die heimischen Politiker, allen voran jene der SPÖ, unwillig und unfähig sind, vernünftige Medienpolitik zu betreiben, übernehmen diese Aufgabe zwangsläufig immer öfter die Gerichte. Justitia als unfreiwillige Gestalterin der heimischen Rundfunklandschaft, auch das ein österreichisches Kuriosum. 

(Die „Roten Meinungsmacher“ erscheint – wie am 6. November erläutert – im wöchentlichen Abstand als Serie im Gastkommentarbereich des Tagebuchs.)

Endnoten

[i] Artikel 10 Absatz 1 EMRK. http://www.rtr.at/de/m/EMRK-Art10 (30.10.2011).

[ii] Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

[iii] Siehe Streit. 2006. Seite 61.

[iv] Ebenda.

[v] Siehe Sommer. 1996. Seite 96.

[vi] Ebenda.

[vii] Siehe auch Kapitel: Wehret den Anfängen: Erste Monopolgegner formieren sich

[viii] Siehe Publications de la Cour Européenne des Droits de L’Homme/Publications of the European Court of Human Rights. 1994. Seite 9.

[ix] Siehe Margon. 1989. Seite 48.

[x] Das Antwortschreiben von Bundeskanzler Fred Sinowatz siehe Anhang.

[xi] Siehe Sommer. 1996. Seite 54.

[xii] Sommer. 1996. Seite 55.

[xiii] Gattringer. 1994. Seite 56.

[xiv] Sozialistische Korrespondenz  30.11.1993.

[xv] Ebenda.

[xvi] Ebenda.

[xvii] Ebenda.

[xviii] Siehe Kapitel 8:  Die Repolitisierung des Rundfunks. Kreisky und die sozialistische Gegenreform.

[xix] Sozialistische Korrespondenz  30.11.1993.

[xx] Streit. 2006. Seite 61.

[xxi] Horizont Nr. 48/93. Seite 1.

[xxii] Der Standard 26.11.1993.

[xxiii] Horizont Nr. 48/93. Seite 1.

[xxiv] Sozialistische Korrespondenz 24.11.1993.

[xxv] Siehe Fidler. 2008. Seite 486.

[xxvi] APA 24.11.1993.

[xxvii] APA 24.11.1993.

[xxviii] Siehe Horizont  Nr. 48/93. Seite 3.

[xxix] Streit. 2006. Seite 61.

[xxx] Sommer. 1996. Seite 97.

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