Zur Krise der Pharmazeutischen Industrie

Die Pharmazeutische Industrie ist zunehmend mit Problemen konfrontiert, für deren Lösung sie (noch) keine adäquaten Strategien entwickelt hat; vor allem ist es der Umstand, daß trotz enorm steigender Aufwendungen die Produktivität - d.h. die jährlich registrierte Zahl an neuen Medikamenten - sinkt.
Wo steht die Pharmazeutische Industrie?

Inge Schuster für den Science-Blog:

Die Pharmazeutische Industrie (kurz: Pharma) zählt zu den weltweit größten, innovativsten und erfolgreichsten Branchen. Im letzten Jahrzehnt konnte sie ihren globalen Umsatz mehr als verdoppeln – von 423 Mrd $ im Jahr 2002 auf 856 Mrd $ im Jahr 2010 – und weiteres Wachstum auf 1,1 Billionen $ wird bis 2014 erwartet. Im Jahr 2010 wurden rund 42 % des Umsatzes in Nord-Amerika erzielt, etwa 29 % in Europa.

Weltweit ist Pharma Arbeitgeber für mehrere Millionen Menschen – davon finden sich bereits rund eine Million in den Top 10 Pharma-Konzernen – und ein Mehrfaches an zusätzlichen Jobs hängt indirekt von Pharma ab. In Europa bietet Pharma Beschäftigung für 640 000 Personen, wobei ein überdurchschnittlich hoher Anteil aus Wissenschaftern verschiedenster Disziplinen und technischem Fachkräften besteht. Der Bedarf an hochqualifizierten Beschäftigten spiegelt sich in den Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) wider: Mit rund 27 Milliarden € – d.s. im Schnitt 15,9 % des Nettogewinns – rangiert Pharma in Europa weit vor allen anderen forschungsintensiven Sparten; für die an zweiter Stelle gereihte Computer-Branche werden 9,9 % des Nettogewinns aufgewandt.

Die hohen Investitionen in F&E haben sich bis jetzt als besonders gewinnbringend erwiesen: Verglichen mit anderen Hochtechnologie-Sparten liegt Pharma auch in Hinblick auf den positiven Beitrag zur EU27-Handelsbilanz mit rund 47 Milliarden € an der Spitze.

Der wirtschaftliche Erfolg von Pharma ist unmittelbares Ergebnis von auf Forschung basierender Innovation. Seit den Anfängen pharmazeutischer Forschung vor rund 100 Jahren wurden unbestreitbare Durchbrüche in der Therapie vieler ehemals fatal ausgehender Erkrankungen erzielt und damit entscheidend zu besserer Lebensqualität und einer beinahe verdoppelten Lebenserwartung beigetragen. Krankheiten, die noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts viele Opfer forderten, wie beispielsweise Tuberkulose, Kinderlähmung, Diphterie, Scharlach sind bei uns sehr selten geworden, chronische Krankheiten (z.B.Herz-Kreislauferkrankungen, metabolische Erkrankungen, etc.) führen nicht mehr zu einer verkürzten Lebenserwartung, Fortschritte wurden auch bei einer Reihe maligner Tumorerkrankungen erzielt (vor allem bei Brustkrebs, Prostatakrebs und einigen Leukämieformen).

Wenn zur Zeit bei uns auch bereits mehr als 10 000 Medikamente zugelassen sind, so besteht doch ein enormer Bedarf an neuen Wirkstoffen für ein sehr weites Spektrum von noch überhaupt nicht oder nur unzureichend behandelbaren, schweren Erkrankungen. Für maligne Tumoren beispielsweise der Lunge, der Bauchspeicheldrüse, der Speiseröhre oder des Gehirns gibt es bis jetzt gibt es keine effiziente Therapie, ebensowenig für degenerative Erkrankungen des Nervensystems (z.B. Alzheimer-, Parkinson-Krankheit) oder für viele Defekte des Immunsystems. Es kann also auf weitergehende Forschung und Entwicklung in Pharma nicht verzichtet werden.

Wieso kommt es zu einer Krise in Pharma?

Bei oberflächlicher Betrachtung erfüllt die Pharma-Branche alle Kriterien, welche erfolgreichste Unternehmungen aufweisen: sie ist privat-finanziert, hoch innovativ, weist über Dekaden solidestes wirtschaftliches Wachstum auf und – vor allem – sie erzeugt Produkte, die für Gesundheit und Wohlergehen der gesamten Menschheit essentiell sind und für welche daher ein enormer Bedarf und ein geradezu gigantischer Markt besteht.

Dennoch steht Pharma nun weltweit vor einer der größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen. Diese Herausforderung ist nur zum Teil durch die aktuelle Wirtschaftskrise bedingt. Wesentlich wichtiger erscheint die Frage, ob und durch welche Maßnahmen die zur Zeit sehr niedrige Effizienz des Forschungs- und Entwicklungsprozesses gesteigert werden kann.

Der Forschungs- und- Entwicklungsprozeß – langdauernd, sehr riskant, extrem teuer

Während der letzten Jahrzehnte ist der zu neuen Medikamenten führende F&E-Pozeß immer riskanter und teurer geworden und dauert immer länger. Während 1975, 1987, und 2001 die Kosten rund 138, 318 und 802 Millionen $ betrugen, müssen heute bereits bis zu 1,9 Milliarden $ aufgewandt werden. Um heute ein neuartiges Medikament auf den Markt zu bringen, ist vom Beginn der Untersuchungen an eine Zeitspanne von 13 – 15 Jahren einzukalkulieren, von mehr als 10 000 eingangs geprüften Verbindungen erreicht vielleicht eine den Markt. Um zu verdeutlichen, warum der F&E-Prozeß so lange dauert und derartig hohe Kosten verursacht, soll dieser in seinen Abschnitten kurz beschrieben werden:

  • Der F&E Prozeß beginnt mit der präklinischen Phase. Diese dauert rund 6 Jahre, benötigt eine Reihe von biologischen und chemischen Laborkapazitäten und verschlingt rund ein Viertel der Gesamtkosten. Im ersten Abschnitt, der Forschungsphase, werden vorerst für eine zu behandelnde Krankheit Ansatzpunkte („Targets“) gesucht, deren Modulierung eine Besserung/Heilung des Krankheitsbildes verspricht. (Diese Targets sind zumeist Proteine, welche häufig auf Grund der unterschiedlichen Expression von Genen und/oder Proteinen in gesundem versus krankem Gewebe eruiert werden.) Kann ein geeignetes Target ermittelt werden, so erfolgt die Suche nach spezifischen Modulatoren für dieses Target durch Austesten von sehr großen Ensembles unterschiedlicher chemischer Verbindungen. Eine darauffolgende Optimierung passender Moleküle hinsichtlich angestrebter Wirkung und voraussichtlichem Verhalten im menschlichen Organismus resultiert schließlich in Entwicklungskandidaten. Diese treten in die präklinische Entwicklungsphase, in welcher in geeigneten Tiermodellen auf Wirksamkeit und Fehlen von toxischen Nebenerscheinungen geprüft wird. Kandidaten, die diese Phase erfolgreich bestehen, treten in die
  • Klinische Entwicklung. Diese Phase besteht aus drei Abschnitten: i) Testung des Entwicklungs-Kandidaten an einer kleinen Gruppe gesunder Freiwilliger, ii) Testung an mehreren hundert Patienten, iii) Multi-Center Studien an bis zu 10 000 Patienten. Die klinische Entwicklung benötigt bis zu sieben Jahre und rund 60 % der Gesamtkosten. Falls diese Phase erfolgreich verläuft, d.h erwünschte Wirksamkeit an Patienten gezeigt werden kann und im Vergleich dazu vernachlässigbare Nebenwirkungen, gelangt das Präparat in die
  • Registrierungsphase. Hier wird die sehr umfangreiche Dokumentation über ein erfolgreiches Präparat bei den Behörden eingereicht. Die Evaluierung, die im Schnitt rund 1,5 Jahre dauert, schließt im günstigen Fall mit der Registrierung des Produkts ab.

Allerdings schaffen es nur die wenigsten Kandidaten bis zu diesem Ziel. Bereits in der Präklinik werden die meisten Projekte wieder aufgegeben. Von Kandidaten, die es bis in die Klinik schaffen, fallen bis zu 95 % durch, der Großteil davon im zweiten Abschnitt, wenn das Präparat erstmals an einer größeren Zahl an Patienten geprüft wird und es sich dabei als zu wenig wirksam und/oder als zu toxisch herausstellt. Zu diesem Zeitpunkt sind dann bereits mehrere 100 Millionen $ erfolglos aufgewendet worden.

Blockbuster und Generika

Wenn nun ein neues Medikament nach rund 13 – 15 Jahren F&E den Markt erreicht, bleibt nur noch eine kurze Zeitspanne, in der es gewinnbringend verkauft werden kann: Patente erlöschen nach 20 Jahren und dann können beliebige Hersteller recht billig Kopien des Medikaments – sogenannte Generika – herstellen und verkaufen, da sie nicht den extrem teuren F&E Prozeß durchlaufen müssen. Mit den stark zunehmenden Kosten der Gesundheitssysteme aller Länder steigt die Attraktivität der Generika; diese nehmen in vielen Ländern bereits ein beträchtliches Volumen der insgesamt verschriebenen Medikamente ein.

Es erscheint verständlich, daß sich der Preis eines neuen Medikaments an der durch das Patent noch geschützten Zeitspanne und der geschätzten Zahl an Patienten orientiert. Um in der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne die F&E Kosten zu lukrieren, waren Firmen bestrebt sogenannte Blockbuster zu kreieren, d.h. Medikamente, die jährlich mehr als 1 Milliarde $ einbringen. Dies sind auf der einen Seite Medikamente – wie z.B. für Indikationen von Herz-Kreislauferkrankungen oder Lipidstoffwechsel-Störungen – für die es mehrere Millionen „Kunden“ gibt, aber auch Medikamente für sehr seltene Erkrankungen mit nur wenigen tausend Patienten, deren Anwendung dann bis zu 409 000 $ im Jahr (Soliris; 8000 Patienten mit paroxysmal nocturnal hemoglobinuria) kostet. Allerdings können 7 - 8 von 10 neu eingeführten Medikamenten die Gestehungskosten bei weitem nicht einbringen und ihre Entwicklung muß daher von den Blockbustern getragen werden.

Probleme in Pharma

Eines der wichtigsten ungelösten Probleme: Während - wie bereits erwähnt - die Ausgaben für F&E seit den 70er Jahren auf das mehr als 10-fache gestiegen sind, ist die Produktivität, d.h. die jährliche Ausbeute an neuen Medikamenten gesunken. Gemessen am Pool präklinischer Kandidaten, die in die klinische Prüfung eintreten, sind die „pipelines“ zwar voller geworden, jedoch stiegen die Ausfallsraten in den klinischen Phasen noch wesentlich stärker. Die Wahrscheinlichkeit eines Präparats, das am Anfang der klinischen Prüfung steht, zur Marktreife zu kommen, ist von 10 % im Jahr 2002 auf 5 % im Jahr 2008 gesunken.

Ein weiteres Problem: das Ende der Blockbuster Ära? Im Jahr 2009 gab es 125 Blockbuster, die rund 300 Milliarden $ einbrachten (d.i. mehr als 1/3 des globalen Medikamenten-Umsatzes). Bei einer Reihe gerade der gewinnträchtigsten Blockbuster erlöschen nun die Patente und sie werden durch billige Generika ersetzt. Entsprechende Umsatzrückgänge bis 2016 werden mit rund 130 Milliarden $ eingeschätzt. Bei Pharma-Giganten wie z.B. Pfizer oder AstraZeneca sind rund 40 % des Umsatzes von diesem Rückgang betroffen. Ein entsprechender Ersatz durch neue Blockbuster ist (noch) nicht in Sicht.

Wie reagieren nun die Konzerne: Sie fusionieren, vergrößern damit die pipeline der Substanzen, lassen weniger erfolgversprechende Gebiete auf und reduzieren Duplizitäten. Im letzten Jahrzehnt entstanden aus insgesamt rund 50 großen Pharma-Firmen 10 Pharma-Multis, gleichzeitig wurden zahlreiche durchaus erfolgreiche Institutionen geschlossen und es gingen 300.000 Jobs verloren. Das Schließen von Einrichtungen in Europa und zum Teil auch in den USA wurde kompensiert durch die Verlagerung von Einrichtungen nach China, Indien, Süd-Korea – Länder, die in den letzten Jahren höchstes Wachstum am Pharma-Markt aufwiesen, hochqualifiziertes Personal bereitstellen, dabei aber billig produzieren.

Was noch dazu kommt: Infolge der Wirtschaftskrise und der Sparmaßnahmen in Europa wird nicht nur bei den Medikamentenkosten gespart und verstärkt auf Generika umgestellt, einige Länder schulden der Pharmaindustrie für Medikamentenlieferungen insgesamt 13 - 15 Milliarden € (Spanien als größter Schuldner 6,34 Milliarden € ). Es wächst die Besorgnis, daß diese Schulden nicht mehr bezahlt werden können.

Pharma ist zur Zeit mit diesen und weiteren Problemen konfrontiert und hat wenige erfolgversprechende Strategien zu deren Lösung aufzuweisen.

 

Anmerkungen der Redaktion

Weiterführende Information:

Wesentliche Informationen und Daten in diesem Artikel stammen aus frei zugänglichen Quellen:

Pharmaceuticals & Biotech Industry Global Report — 2011
Transformation of the Pharmaceutical industry –mergers, acquisitions, outsourcing, patent expiration, price cuts, growing regulatory pressures . . .

The Big Pharma Recession Survey 2011
“Recently a number of high profile pharmaceutical companies have announced significant job cuts and many pharmaceutical professionals feel uncertain about their job stability in 2012”

EFPIA - The Pharmaceutical Industry in Figures. Key data – 2011 update
Global trends and the European market.

Eurostat, External and intra-European Union trade, Monthly statistics

sowie dieses Video der VFA: MISSION MEDIKAMENT: Forscher im Einsatz für die beste Medizin

Die Autorin

Inge Schuster wird hier etwas näher vorgestellt.

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