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Sehr mutig, sehr feige: ein erstaunlicher Regierungsstart

Noch nie wohl ist in diesem Land eine neue Regierung angetreten, die in ihrer personellen Struktur ebenso spannend wie zugleich hochriskant ist. Denn nur ein einziges Regierungsmitglied – der neue Bundeskanzler – hat auch schon selbst jemals Regierungserfahrung gesammelt. Das kann man nur als mutig bis tollkühn bezeichnen. Das steht in einem merkwürdigen Kontrast zum eher feigen Inhalt des 180-Seiten Programms.

Quasi zum Ausgleich für diesen erstaunlichen personellen Mut hat uns die Koalition nämlich ein Papier vorgelegt, das zwar viele hochinteressante und positive Punkte enthält – wenn auch zum Teil vage –, das aber gerade in den wichtigsten Fragen enttäuschend stark durch Vorsicht geprägt ist. Im Vergleich zu dem, was beide Parteien vor der Wahl so alles gesagt haben, könnte einem für dieses Einknicken vor den alten Strukturen auch das Wort Feigheit in den Mund kommen.

Zuerst zur Ministerliste. Zwar fehlt auf beiden Seiten gleichermaßen allen Ministern die Regierungserfahrung, aber dennoch gibt es signifikante Unterschiede zwischen den beiden Parteien. Die FPÖ-Liste ist mit Ausnahme der Außenministerin durchwegs mit Personen vertreten, die schon politische und parlamentarische Erfahrung haben.

Bei der Volkspartei ist es total umgekehrt. Da haben neben Sebastian Kurz lediglich der neue  Kulturminister Blümel und Landwirtschaftsministerin Köstinger politische Erfahrung, Ex-Rechnungshofchef Moser indirekt. Alle anderen aber gar nicht. Sie kommen praktisch alle aus – interessanten, aber unpolitischen – Positionen in Wirtschaft und Wissenschaft. Sie haben in diesen Positionen auch gute Figur gemacht – aber eben in total anderen Disziplinen.

Diesem ÖVP-Team wird man daher gewiss nicht nachsagen können, dass es Mitverantwortung für bestehende Zustände trägt. Ganz dieser Linie folgend zeichnet als Autor des Programms neben der FPÖ ja auch eine "Neue" Volkspartei (so als ob die ÖVP vereinsrechtlich neugegründet worden wäre).

In dieser Perspektive hat Kurz also bei Erstellung seiner Ministerliste folgerichtig gehandelt, obwohl er zumindest in den Herrn Rupprechter, Sobotka und wohl auch Schelling drei durchaus brauchbare ÖVP-Minister im Team vorgefunden hätte. Sie wären auch alle zum Weitermachen bereit gewesen und haben erst peinlich spät von ihrem Hinauswurf erfahren. Sobotka wird ins Parlamentspräsidium hin abgeschoben, wo das niederösterreichische Energiebündel wie die Faust aufs Auge hinpasst; und Rupprechter hat nun wohl wenig Chancen, nächster österreichischer EU-Kommissar zu werden. Beides ist schade, vor allem weil Österreich in Brüssel derzeit auf allen Ebenen katastrophal vertreten ist.

Kurz trägt jedenfalls die volle Verantwortung für die Aufnahme von lauter politischen Greenhorns ins VP-Team. Er wird daher wohl bald die altbekannte, aber für ihn offenbar neue Erfahrung machen müssen, dass man auch in der Politik das Handwerk zuerst gelernt haben sollte, damit einem keine argen Arbeitsunfälle passieren.

Anders formuliert: Die an sich brillante Quereinsteiger-Partie der ÖVP hat ein weit höheres Risiko, auf dem politischen Parkett auszurutschen als die biederen Polithandwerker der FPÖ. Denn diese wissen, worauf man aufpassen muss, und dass jedes falsche Wort angesichts der hiesigen Medienlandschaft zum lebenslangen Problem werden kann. Das ist irgendwie eine Umkehrung des Jahres 2000.

Ein zusätzliches Problem der meisten Quereinsteiger-Minister: Sie waren in den letzten zwei Monaten in keiner Weise in die Ausarbeitung des Koalitionspaktes involviert, müssen aber voll zu diesem stehen und ihn auch umsetzen. Das könnte überall dort heikel werden, wo dieser Pakt sich nicht nur in der üblichen Politlyrik ergeht, in der hehre, aber vage Ziele formuliert werden, und in der angekündigt wird, das etwas "zu prüfen" sei. Ja eh.

Dieses Problem wird vor allem für den neuen Finanzminister gewaltig werden, der damit wohl vor der Quadratur des Kreises stehen dürfte.

Die großen Frustrations-Punkte des Programms

Damit zum nun vorgelegten Programm. Wenn man es genau liest, wird man entdecken, dass es zu 90 Prozent auch das Programm einer schwarz-roten oder rot-blauen Regierung sein könnte. Spannend sind freilich vor allem die restlichen zehn Prozent. Dort enthält das Programm auch viele sehr positive Punkte, die sich bei einer Realisierung gut für Österreich auswirken würden. Am Ende dieser Analyse werden daher daraus die wichtigsten herausgeholt.

Dennoch sind die großen Enttäuschungen dieses Programm an die Spitze zu stellen. Sie sind vor allem deshalb so frustrierend, weil man in den Vorwahlprogrammen der beiden Regierungsparteien ganz anderes lesen hat können.

  • Die größte Frustration ist zweifellos das Begräbnis erster Klasse für die von beiden(!) versprochene direkte Demokratie. Es ist eine Frechheit und geradezu Verhöhnung der Bürger, dass es gemäß der nunmehrigen Ankündigung der Koalition frühestens im Jahr 2022(!), also erst NACH Ende der Legislaturperiode, die erste Volksabstimmung geben kann. Jeder Österreicher erkennt: Das ist der kaum getarnte Tod des großen Projekts.
    Genauso provozierend ist es, dass ein Volksbegehren selbst danach nur dann ein Referendum erzwingen können wird, wenn es 900.000 Unterschriften hat. Das ist unerträglich viel. Zur Erinnerung: die FPÖ hatte eine Grenze von 250.000 vorgeschlagen, die ÖVP von 640.000. Und jetzt soll 900.000 die Grenze der Relevanz werden!
    Zwei weitere Fakten zur Erinnerung: Von den 39 bisherigen Volksbegehren haben erst zwei mehr als 900.000 Unterschriften bekommen. Und in der Schweiz genügen überhaupt 100.000 (bei manchen Materien sogar 50.000) Unterschriften.
    Wir lernen daraus: Die Obrigkeit, also jetzt auch die schwarz-blaue Regierung, hält die Österreicher für neun Mal blöder als die Schweizer. Und während der nächsten fünf Jahre, wo es eben weiterhin überhaupt keine direkte Demokratie geben darf, für noch viel blöder.
    Ins Kapitel "für blöd halten" zählt übrigens auch der Primitivschmäh, dass dafür in dieser Zeit Volksbegehren zum "Bürgerantrag" werden sollen. Das schafft zwar einige zusätzliche juristische Schleifen, ist aber im Grund Dasselbe wie der Istzustand: Wenn die Mehrheit der 183 Erleuchteten im Parlament nicht will, landet das Volksbegehren weiterhin im Papierkorb.

Es erstaunt, dass die beiden Parteien das Volk sogar für so blöd halten, dass es das alles widerspruchslos frisst.

  • Hinter dieser Megachuzpe verblasst fast der zweite Minuspunkt im Programm: Es findet sich trotz viel einschlägiger Lyrik auf der ToDo-Liste der neuen Regierung keine einzige substanzielle Einsparung konkret und unmissverständlich festgelegt. Weder bei den Subventionen noch beim Pensionssystem, also bei den weitaus am meisten geldverschlingenden Positionen. Das ist langfristig eine Katastrophe und zeigt, dass diese Regierung letztlich genauso populistisch ist wie alle Regierungen unter SP-Führung. Eingespart wird nur in vagen verbalen Ankündigungen.
  • Fast genauso schlimm ist die sichtbar gewordene Beißhemmung gegenüber dem ORF. Während man gleichzeitig durch Wegfall der Pflichtanzeigen de facto den Tod der Wienerzeitung plant, glaubt man allen Ernstes noch immer, dass der viel mächtigere und viel einseitiger linke Propaganda machende ORF reformierbar ist. Damit hat sich die Intelligenz der Koalition als eine sehr reduzierte erwiesen.

Ebenfalls überaus bedauerlich ist das Fehlen:

  • eines strafrechtlichen Verbots der Medienbestechung aus Steuermitteln;
  • einer Abschaffung des behördlichen Genderns, das ja Amtstexte seit einigen Jahren noch unverständlicher gemacht hat, als sie schon immer waren (und das in Frankreich gerade gesetzlich verboten worden ist!);
  • einer dezidierten Abschaffung der Kalten Progression;
  • von echten Aufnahmsprüfungen vor der AHS;
  • und jeder konkreteren Ankündigung zumindest einer drastischen Einschränkung der Pflichtbeiträge zu den Kammern.

Die ambivalenten Programmpunkte

Etliches an den Vorhaben der Regierung ist lieb, ist gut gemeint, aber mit etlichen Fragezeichen zu versehen. So etwa:

  1. Eine "Reduzierung des Schilderwalds". Wer solche Banalitäten ohne nähere Erläuterung dafür schreibt, wie man das verfassungsrechtlich tun will, kann nur schwer ernstgenommen werden. Das sind naive Briefe ans Christkind.
  2. "Deregulierung" und "Entbürokratisierung": Beides ist richtig, wichtig und zentral. Aber als pauschale Ankündigungen habe ich das schon in vielen Programmen gelesen, ohne dass es Folgen hatte. Und auch diesmal kann ich kein Konzept erkennen, diese – juristisch oder interessenpolitisch ja enorm haarigen – Ziele wirklich kraftvoll umzusetzen.
  3. Sehr edel klingt gewiss die Ankündigung einer Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler, für die sich vor allem die FPÖ eingesetzt hat, sowie für die Nachfahren der Nazi-Opfer. Aber werden viele Südtiroler wirklich eine solche beanspruchen, wo es doch in Österreich die Wehrpflicht gibt, in Italien nicht? Und wird dann nicht Italien logischerweise sagen: "Jetzt sieht man, dass sich eh nur eine Minderheit in Südtirol nach Österreich sehnt"? Und öffnet man damit nicht den Weg für die Megakastrophe, dass dann auch die in Österreich lebenden Türken eine Doppelstaatsbürgerschaft beanspruchen werden? Und wird dann nicht der immer für Amokläufe gute VfGH diesem Anspruch endgültig das Tor öffnen?
  4. Viele werden auch den von der FPÖ gekommenen Punkt bejubeln, dass es nur noch fünf Sozialversicherungsträger geben wird. Nur wette ich jede Summe, dass das nichts bringt, dass dadurch das System nur noch viel teurer wird. Denn dann werden die derzeit noch zwischen einzelnen Krankenkassen unterschiedlichen Leistungen generell jeweils an die teuerste Variante angeglichen werden. Dann ist der Weg noch mehr verbaut worden, das Gesundheitssystem durch Wettbewerb und Selbstbehalte nachhaltig überlebensfähig zu machen.
  5. Sicher positiv ist, dass im Gegensatz zum ÖVP-Wahlprogramm auf eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit verzichtet wird. Traurig ist jedoch, dass die von der letzten Regierung beschlossene (noch dazu selektive) Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht zurückgenommen wird.
  6. Wirklich lieb klingt die Absicht, den gesamten Stromverbrauch bis 2030 auf "Erneuerbare" umzustellen. Nur störende Realisten wissen, dass das nicht einmal dann gelingen wird, wenn man jeden Quadratmeter Österreichs mit Windmühlen zubetoniert. Wenn man aber auch noch liest, dass die Regierung (da ist sie plötzlich sehr konkret) dazu auch "100.000 Dächer" mit "Speichern" und Voltaikanlagen zieren will, ahnt man, welche Verhässlichung durch dieses grüne Ziel auf Österreich zukommen soll.
  7. Positiv ist an sich die versprochene Vereinfachung der (derzeit sehr komplizierten) Berechnung des Kindesunterhalts. Zugleich zeigen die Programmschreiber aber ihre Ahnungslosigkeit, indem sie die Einführung der doppelten Residenz für Kinder nach der Scheidung ankündigen. Diese gibt es nämlich schon seit Jahren (und Praktiker sagen, dass sie sich als wenig sinnvoll erwiesen hat).
  8. Überhaupt nicht nachvollziehbar ist hingegen die Panik, die derzeit linke Parteien und Medien deswegen schlagen, weil sowohl die "Nachrichtendienste" des Verteidigungs- wie auch die des Innenministeriums künftig FPÖ-Ministern unterstehen. Ganz abgesehen davon, dass das auch schon unter schwarzen beziehungsweise roten Ministern ohne Problem und jede Alarmschlagerei der Fall war: Da gibt es absolut keinen Grund, sich zu fürchten. Denn alle drei österreichischen Nachrichtendienste sind so schwach, dass sie noch nie etwas wirklich Relevantes aufgedeckt haben.
  9. Die Einführung von Studiengebühren findet sich zwar erfreulicherweise in dem Papier – aber im Gegensatz zu den vor ein paar Tagen durchgesickerten Informationen in einer vorerst äußerst vagen Form.

Die vielen Positivpunkte

Trotz der aufgezählten Negativ- und Ambivalenz-Punkte kann dennoch kein Zweifel sein: In sehr vielen Punkten des Regierungsprogramms liest man auch sehr Positives, Wünschenswertes, Wichtiges. Trotz des zuvor skizzierten Frustes dürfen diese Punkte keinesfalls ignoriert werden. Sie sind auch ausdrücklich zu loben – selbst wenn sie hier in der Folge (vorerst) nur kurz angerissen werden können:

  1. Es soll mehr Wettbewerb auf der Schiene geben (was das ÖBB-Monopol schmälern und Kosten reduzieren wird).
  2. Es sind viele signifikante Verschärfungen im Asyl- und Migrationsbereich vorgesehen, insbesondere durch scharfe Kürzungen von Sozialleistungen. Das könnte zumindest potenziell (wenn nicht europäische und österreichische Höchstrichter in die Suppe spucken) die Attraktivität Österreichs für illegale Migranten und den Missbrauch des Asylrechts reduzieren.
  3. Die Rechtsberatung der Asylwerber soll nicht mehr durch die NGOs der Asylindustrie, sondern durch den Staat selber vorgenommen werden.
  4. Islamische Schulen und Kindergärten werden strenger kontrolliert.
  5. Das von der FPÖ früher abgelehnte Sicherheitspaket kommt (womit erstmals auf richterliche Anordnung auch WhatsApp-Kontakte überwacht werden können).
  6. Zugleich will man die Rot-Weiß-Rot-Card ausbauen (obwohl die FPÖ mit ihr nie Freude hatte), damit jene Arbeitskräfte und Forscher nach Österreich kommen können, die wir wirklich brauchen.
  7. Das Mandat der von Zwangsgebühren lebenden Hochschülerschaft soll präzisiert werden, also vom "allgemeinen", oft missbrauchten Mandat hin zu einer Serviceorientierung gebracht werden, was viele Exzesse strafbar machen wird.
  8. Die hier schon gelobte Umstellung von der Schulpflicht auf die Bildungspflicht bedeutet, dass man also so lange in der Schule bleiben muss, bis man lesen, schreiben und rechnen kann.
  9. Ebenso positiv sind die angekündigten externen Leistungs- und Sprachstandsüberprüfungen bei Kindern und Schülern.
  10. Das Gleiche gilt für die Schaffung eigener Deutschklassen, um Kinder reif für den Regelunterricht zu machen.
  11. Für viele Eltern eine wichtige Erleichterung ist die Schaffung von mehr AHS-Unterstufen (was die SPÖ ja vor allem in Wien derzeit sabotiert).
  12. Eine historische Leistung wird die Einführung eines Ethikunterrichts für alle jene sein, die nicht in den Religionsunterricht gehen.
  13. Besonders positiv ist, dass die von den (oft arbeitslosen) linken Politologen geforderte Einführung eines Pflichtgegenstandes "Politische Bildung" nicht kommt, in dem ja eine massive Indoktrinierung in Marxismus, Genderismus & Co gedroht hätte.
  14. Erfreulicherweise bleiben die Sonderschulen bestehen.
  15. Überaus positiv ist, dass bei den steuerlichen Maßnahmen die Einführung eines Kinderbonus von 1500 Euro jährlich weitaus am konkretesten im Programm steht – für Familien, die überhaupt Steuer zahlen. Das wird die Diskriminierung der Mittelstandsfamilien ein wenig reduzieren.
  16. Wichtig für die Familien, wenn auch vage, ist die geplante Entlastung des Familienlastenausgleichsfonds, der ja seit Kreiskys Zeiten für zahllose seltsame Zwecke wie die Subventionierung der ÖBB herangezogen worden ist.
  17. Erfreulich für die künftige wirtschaftliche Entwicklung ist der freilich ebenfalls vage Plan, die Körperschaftssteuer zu senken.
  18. Geradezu sensationell ist die Ankündigung von Eingriffen in die Bauordnungen der Bundesländer, wenn durch diese völkerrechtliche Verträge gefährdet sind. Auf Deutsch: Der Bund sucht erfreulicherweise nach rechtlichen Wegen, das Heumarkt-Hochhaus der Gemeinde Wien doch noch zu verhindern.
  19. Ein ganz wichtiger Schritt zur Schaffung von mehr Wohnraum ist die Ankündigung "marktkonformer Mieten" bei Neubauten, sowie von einigen weiteren Investitionsanreizen. Auf Deutsch: Es wird mehr in Wohnbauten investiert werden, weil man damit verdienen kann.
  20. Es findet sich eine völlig richtige Grundsatzlinie für die künftige EU-Politik: Weniger EU, dafür aber eine effizientere EU.

PS: Am erstaunlichsten rund um das Regierungsprogramm: Auch mehr als zehn Stunden nach seiner Veröffentlichung gibt es von keiner einzigen Oppositionspartei eine substanzielle oder gar detaillierte Reaktion. So hoch sind die Abgeordnetengehälter halt offenbar nicht, dass man sich an einem Advent-Wochenende die Mühe machen würde, das Papier durchzustudieren.

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