Es ist eigentlich unvorstellbar, aber dennoch sehr wahrscheinlich: Jene Frau, die so viel Unheil angerichtet hat wie kein anderer deutscher Bundeskanzler der Nachkriegszeit, hat beste Chancen, in wenigen Tagen überlegener Wahlsieger, wieder deutscher Regierungschef und damit mächtigster Politiker Europas zu werden. Das scheint nach dem einzigen direkten Duell mit dem sozialdemokratischen Herausforderer Martin Schulz schon so gut wie fix, auch wenn die Umfragen so viele Deutsche wie noch nie unentschlossen zeigen. Aber Angela Merkels Vorsprung ist so gewaltig, dass er nicht mehr einholbar sein dürfte. Wie konnte es dazu kommen?
Das hat mehrere Ursachen.
- Die Konkurrenz durch die anderen drei Parlamentsparteien ist durchwegs jämmerlich. Sie dürften alle drei vor einem Wählerverlust stehen.
- Vor allem die SPD – die einzige andere Partei, die als einzige überhaupt eine Kanzlerkandidaten-Alternative aufgestellt hat, – ist in einem maroden Zustand. Sie findet trotz hektischer Versuche kein zugkräftiges Thema. Sie hat einen Kanzlerkandidaten, der mehr marktschreierisch als sympathisch wirkt. Und der in der Schlussphase des Wahlkampfs auch immer mehr verkrampft wurde – während Angela Merkel spiegelbildlich zunehmend lockerer wurde. Auch beim Fernsehduell mit Merkel hat er nicht punkten können. Vor allem klang er zeitweise so, als würde er von rechts argumentieren, was halt bei einer Partei, die immer explizit für die "Flüchtlinge" eingetreten ist, und die stärker auf deutschtürkische Stimmen hofft als jede andere Partei, nicht sonderlich glaubwürdig ist.
- Nicht nur die SPD, sondern auch die beiden anderen Linksparteien (Grün und die "Linke") stehen bei den für die Deutschen wichtigsten Themen für genau dieselbe falsche Politik wie Merkel, vor allem beim Migranten-Tsunami und bei der exzessiven Griechenlandhilfe. Ja, noch mehr: Alle drei Linksparteien gelten sogar als treibende Kräfte, die Merkel in diese falsche Politik hineingetrieben haben. Sie haben überdies durch die Hamburger Exzesse gewalttätiger Linksextremisten weiter an Sympathien verloren.
- Die typischen Grünthemen (Klima, Feinstaub, Diesel, Umwelt, Feminismus, Gendern, Veganismus, Kampf dem Auto, Political Correctness, schwule Sexualerziehung, Rechte der NGOs, Kampf gegen Rechts usw.), die auch von den Sozialdemokraten sehr stark adoptiert worden sind, tauchen bei keiner einzigen Umfrage als relevant auf. Sie interessieren ausschließlich die politisch-mediale Klasse. Überdies hat Merkel der Linken viele dieser Themen durch Übernahme weggenommen.
- In der CDU selbst hat Merkel mit genialem Machtinstinkt, der sich raffiniert hinter weiblicher Sanftmut tarnt, sämtliche Konkurrenten brutal aus dem Weg geräumt. Daher finden sich heute rund um Merkel nur noch total loyale oder gar unterwürfige CDU/CSU-Politiker (bis auf den Finanzminister, der zwar ein unstürzbares Denkmal seiner selbst ist, der aber auf Grund von Alter und Behinderung alle Kanzlerambitionen aufgegeben hat). Auf die eine oder andere Weise abgeschoben wurden von Merkel etwa die Herren Kohl, Merz, Koch und Bosbach, die sich ihr nicht unterordnen wollten. Der (Plagiats-)Abgang des Verteidigungsmisters Guttenberg dürfte ihr zumindest recht willkommen gewesen sein. Und auf einer Stufe darunter hat sie den ebenso brillanten wie Merkel-kritischen CDU-Frauen Kelle und Lengsfeld jede Chance genommen.
- Bleiben die beiden derzeit außerparlamentarischen Parteien FDP und AfD, die zwar beide mit ziemlicher Sicherheit in den Bundestag kommen werden, die aber schon auf Grund des Fehlens eines schlagkräftigen Parteiapparats keine Chance haben, in Größenordnungen zu kommen, die Merkel gefährlich werden könnten.
- Die FDP ist zwar eine absolut glaubwürdige, vernünftige und auch personell überzeugende wirtschaftsliberale Partei. Sie ignoriert aber beharrlich die für die meisten Bürger zentralen Themen. Eine aktuelle Umfrage zeigt, was die Bürger derzeit wirklich beschäftigt – jedoch nicht die FDP:
- 56 Prozent der Deutschen sehen den Themenkomplex "Zuwanderung und Integration" als größte Herausforderung an (im Vorjahr waren es sogar 83 Prozent).
- Dahinter steht am zweiten Platz das Thema "Sorge vor Armut" (17 Prozent), das von allen Linksparteien getrommelt wird, und wo sich die FDP schwer tut zu erklären, dass eigentlich sie die einzig funktionierenden Antworten auf das Armutsproblem darauf hat.
- Dritter Platz: "Furcht vor Kriminalität" (16 Prozent).
- Vierter Platz: "Terrorismus" (9 Prozent).
Nichts davon sind FDP-Themen.
- Bleibt die AfD: Für sie wären die derzeit prognostizierten rund 10 Prozent zwar insofern ein Erfolg, als dass das mehr als eine Verdoppelung des Wähleranteils von der letzten Wahl bedeuten würde. Und als sie damit gute Chancen hätte, zur Nummer drei im Bundestag zu werden. Es wäre auch der historisch größte Erfolg einer Start-Up-Partei. Nur: Thematisch ist das Potenzial der AfD eigentlich viel größer. Sie vertritt bei drei der vier zuvor genannten Hauptsorgen der Deutschen viel klarer den Standpunkt der Wähler, als es alle anderen Parteien tun. Die AfD wird jedoch noch immer von schweren internen Geburtswehen gebeutelt, die sie für viele nur schwer wählbar machen:
- Ständig wird die Parteispitze unfreundlich abgelöst;
- Dabei wird viel zu viel öffentlich gestritten;
- Die AfD hat ihre anfängliche, durch Parteigründer Luke verkörperte Wirtschaftskompetenz verloren, die zwar derzeit nicht das Wichtigste für eine Partei ist, die aber dennoch den meisten Wählern nicht als verzichtbar erscheint;
- Jetzt tritt die Partei mit einer Doppelspitze von zwei Kandidaten zur Wahl an, die kaum Zeit gehabt hatten, sich für die Wähler zu einer vertrauten Erscheinung zu machen;
- Überdies hätte die AfD schon bei den Grünen lernen können: Die Wähler mögen keine Doppelspitzen;
- Unter den regionalen Funktionären der AfD tauchen immer wieder extreme Typen auf, die nicht begreifen, dass 95 Prozent der Wähler Anklänge an den Nationalsozialismus ablehnen;
- Dazu kommt die geschlossen einheitliche Anti-AfD-Kampagne fast aller Medien, die nur Hass auf die AfD verbreiten und die ihr kaum ermöglichen, die eigenen Standpunkte ordentlich darzulegen;
- Dazu kommen die Antifa-Schlägertrupps, die jedes Auftauchen der AfD bekämpfen und jeden Veranstaltungssaal bedrohen, der ihr Quartier gibt. Das schüchtert viele Menschen ein, sich offen zu ihr zu bekennen;
- Die AfD hat sich aber auch selbst jede Möglichkeit genommen, angesichts der letzten beiden Punkte glaubwürdig um Mitleid zu werben: Hat sie doch selbst mit Methoden, die bisher nur auf der Linken üblich waren, Veranstaltungen von Merkel durch Dauerpfeifkonzerte gestört.
- Ein besonders starker Antrieb für Merkels Räder ist aber die seit einigen Monaten sensationell gute Wirtschaftslage. Deutschland erzielt heuer 18 Milliarden Euro Überschuss in den öffentlichen Haushalten, die Arbeitslosigkeit ist fast verschwunden und alle Wirtschaftsumfragen strotzen vor Optimismus. Das hilft Merkel, auch wenn ihr das ohne sonderliches eigenes Verdienst in den Schoß gefallen ist. Denn:
- Dabei spielen globale Konjunkturtrends eine entscheidende Rolle,
- die deutschen Exporteure profitieren mehr von der Niedrigzins-Politik der EZB als Staaten wie Italien, denen die EZB damit eigentlich helfen wollte,
- die Finanz- und Wirtschaftspolitik war eindeutig Reservat von Wolfgang Schäuble, in das sich Merkel kaum einzumischen wagte,
- und vor allem profitiert Deutschland heute von der Agenda 2010. Das war die vor einem Jahrzehnt unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder erfolgte Beschneidung eines überbordenden Wohlfahrtsstaates (die Merkel damals allerdings aus der Opposition heraus durchaus mitgetragen hat).
- Am meisten dürfte Merkel aber helfen, dass die SPD und die vielen mit ihr sympathisierenden Medien bis zuletzt von einem Kanzlerduell Merkel-Schulz reden, sodass viele konservative Wähler letztlich doch, wenn auch zähneknirschend Merkel wählen. Denn noch weniger als die Merkel-Politik wollen sie einen linken Bundeskanzler (es sei denn vielleicht, dieser würde eine Fortsetzung der Politik Schröders versprechen).
All das kommt derzeit Merkel zugute, obwohl ihr noch vor einem Jahr kaum jemand ein politisches Überleben prophezeit hatte. Dennoch darf nicht vergessen werden: Das Register der Sünden und Fehler Merkels ist übel und lang. Diese Sünden mögen aus Zynismus begangen worden sein, aus Dummheit, aus populistischem Opportunismus, als Konsequenz eines eigentlich linken Persönlichkeitsmusters, oder aus der taktischen Kalkulation heraus: Wenn die CDU weit nach links rückt, haben die Linksparteien keine Luft zum Atmen mehr.
Diese gleiche Strategie ist übrigens auch lange von der ÖVP in Österreich eingeschlagen worden (vor allem durch Busek und Pröll, aber auch durch Riegler und Mitterlehner, soweit bei diesem überhaupt eine Strategie erkennbar gewesen ist). Diese Strategie führte in der Alpenrepublik zum Aufblühen einer Partei rechts der ÖVP, der sich die konservativen Wähler zunehmend zugewandt haben – zumindest zeitweise.
Merkels Sündenliste
Eine Auflistung der ärgsten Sünden Merkels, die konservative Menschen so schwer verärgert haben, die unabhängig vom derzeitigen Konjunktur-Zwischenhoch die Zukunft Deutschlands und Europas in vielerlei Hinsicht belasten:
- Die allerschlimmste Fehlentscheidung Merkels war die Öffnung der Grenzen für alle Migranten, unabhängig davon, ob diese nun echte Flüchtlinge, Wirtschaftsmigranten oder getarnte Terroristen sind.
- Sie hat damit offenen Rechtsbruch begangen, hat sie doch das rechtlich bindende Dublin-Abkommen kurzerhand ausgehebelt. Sie hat für diese Grenzöffnungspolitik weder auf deutscher noch europäischer Ebene irgendein Gesetzgebungsgremium befasst. Bis heute nicht.
- Merkel kämpfte gegen die kollektive Sperre der Balkanroute (die unter Mithilfe zweier österreichischer Minister erfolgt ist). Dabei war das die eindeutig erfolgreichste Maßnahme gegen den Migranten-Tsunami.
- Merkel setzt bis heute statt dessen auf die Türkei als Migrationsstopper und lässt diese durch Milliarden bestechen. Sie ignoriert dabei sogar die Verwandlung der Türkei in eine Diktatur. Sie ignoriert, dass die Türkei das Aufblühen des "Islamischen Staats" überhaupt erst ermöglicht hat. Sie will in ihrer Verblendung nicht einmal den EU-Kandidatenstatus für die Türkei beenden.
- Merkel setzt keinerlei wirkungsvolle Initiativen für eine möglichst baldige Wiederabschiebung aller Migranten, oder wenigstens jener ohne echten Asylanspruch. Das hätte zwar nur als gemeinsame Aktion der EU-Staaten wirklich Chancen, dabei hätte sie aber als Chefin des mächtigsten Land Europas eine Schlüsselrolle (das Ziel solcher Initiativen müsste sowohl eine Änderung des europäischen Asyl- und "Schutz"-Rechts wie auch ein effizienter Druck auf alle Herkunftsländer sein, sämtliche Migranten zurückzunehmen). Vom wirksamsten Weg einer Lösung, dem "australischen" Modell, gar nicht zu reden.
- Merkel ignoriert die Gefahren und Probleme durch die Islamisierung, auf die sie nur die läppische Antwort wusste: Mehr in die Kirche gehen.
- Sie beschloss über Nacht, die Atomkraftwerke binnen weniger Jahre abzuschalten, obwohl sich keine auch nur annähernd funktionierende Ersatzenergie abzeichnet (dieser Abschaltungsbeschluss war eine vom Boulevard getriebene Spontanreaktion auf den Tsunami in Japan, auf den der Rest der Welt und die Japaner selbst viel rationaler reagiert haben).
- Sie ließ blitzschnell die "Ehe für alle" Gesetz werden.
- In der Vorlaufzeit zum britischen Brexit-Referendum hat sie keine sonderlichen Anstrengungen gezeigt, die Briten durch kreative Lösungen in Europa zu halten.
- Sie ist hauptverantwortlich für die Abschaffung der Wehrpflicht während einer kurzen Phase der Ruhe in der internationalen Sicherheitslage. Die restlichen Sünden in Stichwortform:
- Das Brechen vieler rechtlicher Schranken durch die viele Hundert Milliarden schwere "Griechenland-Rettung", die zur Gänze auf Kosten der Sparer und Steuerzahler in Deutschland, Österreich und einigen anderen westlichen Ländern geht.
- Die Einführung einer Mietpreisbremse, die automatisch für Wohnungsknappheit sorgt.
- Die Einführung von Frauenquoten.
- Die wachsende Distanz zu den USA, denen sie etwa in der Nordkorea-Frage zuletzt wieder voll in den Rücken gefallen ist. Statt dessen posiert sie gerne mit dem sehr weit links stehenden Kanadier Trudeau.
- Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft.
- Abschied vom Leitbild der Familie im traditionellen Sinn.
- Kein Widerstand gegen das "Gender Mainstreaming".
- Und zu schlechter Letzt sei auf die auffallende Harmonie verwiesen, die Merkel gegenüber Frankreichs Macron zeigt, dessen Tendenzen zur (weiteren) europäischen Schuldenkollektivierung sie in keiner Weise energisch entgegentritt.
Zu all diesen mehr oder minder direkt und persönlich von Merkel zu verantwortenden Fehlern kommt die zumindest für eine CDU-Politikerin seltsame Tatsache, dass sie einst in der DDR durch keinerlei Distanzierung vom Regime aufgefallen ist, obwohl sie am Ende des Kommunismus schon 35 Jahre alt gewesen ist. Sie hat sich vielmehr opportunistisch arrangiert.
Das drängt auch eine entwicklungspsychologische Frage auf: Wo hätte die Opportunistin Merkel in einem totalitären Staat, in dem sie problemlos durchgetaucht ist (die Hinweise auf eine Stasi-Mitarbeit Merkels sind allerdings nicht erhärtbar), ein gesundes und selbstverständliches Demokratieverständnis entwickeln können? Damit erscheint aber auch ihre ständige Masche, ständig etwas als "alternativlos" darzustellen, in einem ganz anderen Licht, nämlich als starkes Indiz einer autoritär-undemokratischen Grundhaltung. In der DDR war ja auch alles, was die Machthaber wollten, angeblich alternativlos. Alternativen gibt es nur in der Demokratie.
Das Charisma der Charismalosigkeit
Das besonders Erstaunliche am Erfolg Merkels: Sie ist eine langweilige Rednerin. Ihr fehlt eigentlich alles, was man herkömmlich als "Charisma" bezeichnet hätte. Aber vielleicht ist ja gerade das das Charisma der 21. Jahrhunderts, vielleicht sind die Menschen der lauten Töne von Strache bis Schulz überdrüssig? Auch der Stil von Macron, May und Rajoy bestätigt diese Annahme. Trump ist freilich ein Gegenbeispiel.
Mit Sebastian Kurz, dem anderen Spitzenkandidaten, der kurz vor dem Wahlsieg stehen dürfte, hat sie sachpolitisch so gut wie gar nichts gemeinsam, obwohl die beiden eigentlich zur gleichen Parteienfamilie gehören. Dafür jedoch gleich drei wichtige Eigenschaften:
- enormer Fleiß, sodass beide wirklich in jeder Frage, zu der sie sich äußern, fundiert informiert wirken;
- große Selbstbeherrschung, sodass ihnen nie eine Formulierung entschlüpft, die sie später bereuen müssten – den Gegenparteien ist es auch in hitzigen Parlamentsschlachten nie gelungen, sie durch noch so aggressive Angriffe aus der Ruhe und Kontrolle zu bringen;
- und erstaunliches Selbstbewusstsein, das auch an die zwei letzten amerikanischen Präsidenten erinnert. Vier typische Äußerungen der vier Genannten:
- "Yes, we can";
- "Ich werde mich ganz klar entschuldigen, irgendwann in einer hoffentlich weit entfernten Zukunft. Wenn ich jemals etwas falsch gemacht habe";
- "Ich werde auch das schaffen, so wie die Balkansperre, von der niemand geglaubt hat, dass ich das schaffen werde";
- "Wir schaffen das".
Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.
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