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Am Beispiel Wallonie: Demokratie und Subsidiarität

Weil das wallonische Regionalparlament einige Forderungen erpressen will, könnte ein gesamteuropäischer Handelsvertrag mit Kanada scheitern. Das ist total absurd, selbst wenn in den nächsten Tagen doch noch eine Letzte-Augenblick-Rettung gefunden werden sollte. Das muss eigentlich auch jenen seltsam vorkommen, die aus unerfindlichen Gründen neuerdings Handelsverträge für Teufelszeug halten, nachdem schon zahlreiche andere solcher Abkommen zum allseitigen Nutzen völlig problemlos seit vielen Jahren laufen. Das zeigt genau, wie Subsidiarität, wie Demokratie nicht organisiert sein darf. Das ist aber keineswegs ein Gegenargument gegen Subsidiarität und mehr Demokratie. Ganz im Gegenteil.

Im Grunde hat auch Österreich ein ganz ähnliches Problem: Bei viel zu vielen Materien müssen alle Bundesländer und zugleich der Bund zustimmen. Damit sind Erpressungen und Blockaden durch jede einzelne Körperschaft Tür und Tor geöffnet. Als ob nicht schon in jedem einzelnen Parlament, in jeder einzelnen Koalition die Willensbildung schwer genug ist.

Wie schwer das ist, sieht man in Österreich derzeit besonders intensiv: am Ringen um die Mindestsicherung, am Ringen um den Finanzausgleich, am Ringen um die Schulorganisation. Nirgendwo scheint mehr wirklich etwas zu gelingen. Bestenfalls kommen am Ende faule Kompromisse zustande, die aber in Wahrheit nur Ausgangspunkt für noch mehr Blockaden und Ineffizienzen bilden. Und daran ist ausnahmesweise nicht der Zwist zwischen den Parteien, sondern das Mitmischen von viel zu vielen Köchen, pardon: Körperschaften schuld.

Sowohl auf europäischer wie auch auf österreichischer Ebene darf aber deswegen das Subsidiaritäts-Prinzip keineswegs über Bord geworfen werden. Vielmehr müsste eine funktionierende Lösung dafür ganz anders aussehen: Sie müsste in einer Entflechtung der Zuständigkeiten bestehen. Entweder der Bund (beziehungsweise die Union) ist für eine Materie zuständig oder die Bundesländer sind es (beziehungsweise die EU-Mitgliedsstaaten, wie auch immer die intern ihre Willensbildung organisieren).

Das heißt gewiss nicht, wie es in Brüssel wie Wien viele Zentralisten missverstehen wollen: "Alle Kompetenzen nach oben". Ganz im Gegenteil. In vielen Materien ist eine Kompetenzverlagerung nach unten, eine bürgernahe Lösung und in der Folge ein Wettbewerb, welches Bundesland (welcher Mitgliedsstaat) ein Aufgabe besser erfüllt, ein starker Anreiz für mehr Dynamik, für Verbesserungen in jenen Ländern, die hintenliegen.

Zu einer solchen richtigverstandenen Subsidiarität muss aber auch gehören, dass die Länder zugleich die Verantwortung für die Finanzierung all der Dinge übernehmen, die sie selbst regeln, also für die dafür jeweils notwendige Höhe der Steuern und Abgaben. Sie können dann nicht mehr nur für das muntere Ausgeben verantwortlich sein und das dafür nötige Geld ständig von oben verlangen.

Das heißt nicht, dass es keinen Ausgleich zwischen strukturschwachen und starken Regionen geben darf. Dieser Ausgleich sollte jedoch immer an objektiven Kriterien orientiert sein (etwa Bergbauern- oder Insellagen oder sozialen Indikatoren). Keinesfalls darf jedoch dieser Ausgleich, das Ausmaß von Solidarität so organisiert sein, dass der, der mehr ausgibt, der ständig immer mehr Schulden macht, dann auch immer mehr bekommt. Wie etwa Griechenland.

Dort aber, wo die Staaten (oder Regionen) beschlossen haben, etwas gemeinsam und zentral zu organisieren, dort sollte das auch wirklich ohne Blockademöglichkeiten zentral stattfinden. Das ist in vielen Materien das einzig Sinnvolle. Oder soll es wie im Mittelalter wieder eine steirische Außen- und Verteidigungspolitik geben?

Auch der internationale Handel ist schon jahrzehntelang eine solche EU-zentral organisierte Aufgabe. Er zählt zusammen mit dem Binnenmarkt zu den großen und eindeutigen Erfolgsstorys der EU. Er wird aber jetzt im Zuge des Scheiterns der Union in der Euro-, Schulden- und Migrationskrise schwachsinnigerweise zertrümmert.

Noch vor einem Jahr war rechtlich für die meisten Europarechtsexperten eigentlich klar, dass auch die Handelsverträge mit Nordamerika so wie viele andere frühere eine reine EU-Kompetenz sind. Doch dann hat eine schwache EU-Kommission dem Staatenpopulismus nachgegeben und die Verträge zur gemischten Materie erklärt. Worauf dann eben jetzt sogar ein wallonisches Regionalparlament die Blockademacht bekommen hat.

Schon gar nicht heißt das, dass in der EU zu viel Demokratie falsch wäre oder Dinge blockieren müsste. Nur müsste es dann ein wirklich demokratisches EU-Parlament geben, wo auch jede Stimme gleich viel wert ist, und wo nicht etwa die eines Malta-Bürgers dreizehnmal so schwer wiegt wie die eines Deutschen.

Auch Direkte Demokratie könnte gesamteuropäisch gut funktionieren. Nur müsste diese so gut organisiert und durchdacht sein wie im Mutterland der Direkten Demokratie. Dort kann auch nicht ein einzelner Kanton (was vergleichbar mit der Wallonie wäre) etwas blockieren. Sondern jede Abstimmung braucht dort das „Doppelte Mehr“, also sowohl eine Mehrheit der Gesamtschweizer Stimmen, wie auch eine Mehrheit der Kantone (genauer: der abgegebenen Stimmen in jedem Kanton).

Aber so wie die Bastler an der österreichischen Verfassung haben auch die an der EU-Verfassung immer nur ihre Elitenmacht im Auge gehabt. Sie haben „Subsidiarität“ und „direkte Demokratie“ zwar oft im Mund geführt, aber in Wahrheit so geregelt, dass sie glauben konnten, ihre zentralistische Macht abgesichert zu haben.

Und jetzt werden sie ausgerechnet von der Wallonie vorgeführt. Ein Treppenwitz der europäischen Geschichte. Dabei würde sich das Parlament dieses - besonders armen! - Teils Belgiens mit Sicherheit nicht gegen einen Handelsvertrag stellen, wären solche Verträge keine europäische Kompetenz, sondern müssten von jedem Teil Europas eigenverantwortlich abgeschlossen werden. Denn würde sich in diesem Fall die Wallonie so wie etwa Nordkorea dem internationalen Handel verwehren, dann würde dieser halt links und rechts an dieser ohnedies krisenbehafteten Region vorbeifließen. So dumm wäre ein wallonisches Parlament nicht. Es blockiert nur deshalb, weil es jetzt alle anderen Siebenundzwanzigzweidrittel Mitgliedsstaaten erpressen kann.

Freilich wäre eine solche Lösung für alle schlecht, wenn jedes europäische Land einzeln Handelsverträge abschließen  müsste. Denn dann hätten alle europäischen Regionen und Staaten nur eine schwache Verhandlungsmacht gegenüber großen Mächten. So wie europäische Firmen auch heute noch ohne die Schiedsgerichtsvereinbarungen eines Handelsvertrags vor amerikanischen Gerichten massiv diskriminiert werden.

Noch schlechter ist nur eines, was aber von der österreichischen Zwentendorf-Abstimmung bis zu Ceta auf europäischer Ebene ständige Praxis ist: nämlich die Entscheidungsprozesse erst dann auszulösen, wenn alles fertig ist. Wenn um Milliarden ein Atomkraftwerk fertig gebaut ist, wenn ein internationaler Vertrag mit Tausenden Detailregelungen jahrelang ausverhandelt worden ist. So macht sich jedes System lächerlich. In diesen und fast allen ähnlichen Fällen ist die Politik - ob Kreisky, ob Juncker, ob der Europäische Rat - ja ohne zwingenden rechtlichen Grund immer erst im Nachhinein umgefallen.

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