Unter dem wohlklingenden Titel der Bildung und Ausbildung greift der Staat in rasantem Tempo immer intensiver in die individuelle Lebensgestaltung ein, ohne dass sich hiergegen nennenswerter Widerstand regt. Mit dem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr kann es den meisten Politikern gar nicht schnell genug gehen, und die eben erst beschlossene Ausbildungspflicht bis 18 soll, geht es nach Kanzler Kern, gar bis 25 verlängert werden.
Andere staatsbürgerliche Pflichten werden infragegestellt (Wehrpflicht) bzw. abgeschafft (Wahlpflicht). Hingegen steigt die Anzahl an Jahren, deren Gestaltung der Staat den Bürgern vorschreibt, auf dem Bildungssektor nachgerade exponentiell: Die sechsjährige Schulpflicht aus den Tagen Maria Theresias wurde 1869 auf acht Jahre und 1962 auf neun Jahre erweitert. Mit Einführung des ersten verpflichtenden Kindergartenjahres 2011 wurden es zehn Jahre „Bildungsverpflichtung“, die mit der an die Schulpflicht anschließenden Ausbildungspflicht heuer sprunghaft auf 13 Jahre angestiegen sind.
Ein gewaltiger Sprung um gleich 50 Prozent, nämlich von 14 auf 21 Jahre (das zweite verpflichtende Kindergartenjahr ist bereits eingerechnet), ist das Vorhaben der SPÖ (Kern: „Unsere Vorstellung wird sein, dass wir die Ausbildungspflicht auf 25 ausdehnen“). Das „Barcelona-Ziel“ der EU, 33 Prozent aller unter Dreijährigen außerhäuslich zu betreuen und somit Menschen ihre ersten 25 Lebensjahre hindurch in Institutionen zu sozialisieren, fügt sich nahtlos in dieses Bild.
Kindergartenpflicht – Schulpflicht – Ausbildungspflicht. Das Hochhalten der „Bildung“ übernimmt den Hoffnungsgedanken, der mit humanistischer Bildung traditionell verknüpft war, kennt jedoch keinen für sich freien Inhalt mehr, der eine ebenso freie, zwanglose Beschäftigung nach sich zog, sondern kreist um Fertigkeiten. Bildung „als solche“ oder als universaler Hoffnungsgedanke wird dadurch nur unbestimmter, was es ebenfalls erleichtert, ohne viel Aufhebens eine Pflicht an die andere zu reihen.
Analog zur Wehrpflicht oder zur Steuerpflicht steht hierbei nicht bloß die Kürzung staatlicher Zuwendungen (AMS-Bezug, Sozialhilfe) für Personen, die zumutbare Ausbildungen verweigern, im Raum, sondern es drohen handfeste Verwaltungsstrafen auch für diejenigen, die staatliche Alimentierung gar nicht beantragen.
Der Glaube an die „Bildung“ scheint grenzenlos: Mangelnde Sprachkenntnisse, ethnische Konflikte, Vorurteile, Extremismen – immer ist „Bildung“ die Antwort, die alle Probleme löst, und niemals mit ein Grund jener Probleme, die sie zu lösen verspricht. „Wir schaffen es“, weil wir sodann ohnehin alle bilden. Wenn kein vom Staat strukturierter Abschluss erworben wird, womöglich ein Leben lang, auf dass lebenslanges Lernen wirklich „lebenslang“ heißt und man der staatlichen Bildungs-Zwangsbeglückungs-Maschinerie auch mit 25 nicht entkommt.
„Bildung“ ist die selbstverschuldete Unmündigkeit, die sich als „Mündigkeit“ kaschiert. Sie ist das Verharren in einer Warteposition auf ein Danach, das am Ende gar nicht stattfindet. (Macht aber nichts, denn Bildung gilt weithin als Selbstzweck.) Dass die Ausdehnung der Bildungspflicht in beide „Richtungen“ mit der Tatsache einhergeht, dass immer jüngere Kinder und immer ältere Erwachsene den Status des „Jugendlichen“ beanspruchen, ist kein Zufall. Ungeniert wird denn auch von einer Ausdehnung der Ausbildungspflicht für Jugendliche (!) bis 25 berichtet. Gewählt wird zwar mit 16, doch als erwachsen gilt man für die politische Klasse auch mit 18 nicht.
Die individuelle Freiheit des Staatsbürgers wird abgeschafft, so, wie schon seit geraumer Zeit die Autonomie des Subjekts als Illusion (etwa als Funktion neuronaler Prozesse) „entlarvt“ wird. Ja, der Staatsbürger selbst wird mit dem Nationalstaat abgeschafft, auf dass das Subjekt jenen Raum verliert, in welchem es seine Substanz hätte und seine Freiheit wirklich wäre. Zugleich wird der Staat mit der Unerfülltheit des Subjekts (des vormaligen freien Bürgers) immer wichtiger und mächtiger, dessen Anspruch der Allgemeinheit zu verbürgen. An die Stelle des autonomen Subjekts tritt ein Wir, das quer zu aller Inklusionsrhetorik Ausschlüsse setzt. (So sei die Kritik der ÖVP am wirtschaftspolitischen Kurs Kerns „Ausdruck einer bestimmten rechten Ideologie“ – womit offenbar alles gesagt sei.)
Die Frage ist nicht mehr, ob ein weiterer Eingriff in die Erziehungshoheit der Eltern gerechtfertigt werden könne, sondern bloß, ob „wir“ uns (jetzt schon) ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr leisten können. Selbst FPÖ-Volksanwalt Fichtenbauer beklagte in seiner Stellungnahme zum Ausbildungspflichtgesetz bloß, dass die Ausnehmung behinderter Jugendlicher eine mittelbare Diskriminierung darstelle. Die Freiheit, mit 16 eine Weltreise zu unternehmen, ein Jahr mit Freunden oder am PC zu verbummeln oder auch (gewollt) in Gelegenheitsjobs zu arbeiten, ist Geschichte.
Erst recht erweckt eine Ausbildungspflicht bis 25 viele Fragen: Darf ein 19-jähriger HTL-Absolvent nicht mehr dank seiner guten Ausbildung zu arbeiten beginnen? Ein 20-Jähriger keine eigene Firma mehr gründen, ohne zugleich weitere Ausbildungen zu absolvieren? Muss selbst ein 24-jähriger Studienabsolvent noch ein Jahr in irgendeiner Ausbildung zubringen? Doch selbst wenn es nur darum geht, bis 25 eine über einen Pflichtschulabschluss hinausgehende Ausbildung abgeschlossen zu haben, bleibt die Frage, warum man die Qualifikation nicht dem Individuum überlässt.
Dem Staat geht es seinerseits genau um das Individuum, das sich seiner bestmöglichen Förderung nicht entziehen möge. Vor 30 Jahren hieß es noch, der Kindergartenbesuch sei wichtig, damit ein Kind sich an eine Gruppe gewöhnt und mit anderen Kindern spielt und teilt. Heute ist der Kindergarten ein „Bildungsgarten“ mit fixen Lehrplänen, der ganz auf die Förderung individueller „Kompetenzen“ ausgerichtet ist. Die einzelnen Kinder gehen einander, streng genommen, gar nichts mehr an.
Das Zerrbild (!) des Subjekts kehrt als „Kompetenzbündel“ wieder, das unter der Ägide des Staates als totaler Institution optimal auf Arbeitswelt und Gesellschaft, auf Diversität und Interkulturalität oder worauf immer vorbereitet werden soll. Wenn schon Hegel Bildung mit Betrug und Selbstbetrug konnotieren konnte, beziehen dies die meisten Interpreten freilich nur auf ein unterstelltes Statusdenken des (deutschen) „Bildungsbürgers“.
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und BHS-Lehrer.