Die Republik der Dilettanten

2012 hat der Kulturhistoriker und Zeitkritiker Thomas Ritzschel ein außerordentlich lesenswertes Buch mit dem Titel „Die Stunde der Dilettanten“ veröffentlicht. Er zeigt darin, wie im Laufe der letzten Jahrzehnte ein bestimmter Menschentyp gesellschaftsmächtig wurde, der zwar nichts kann, sich aber alles zutraut.

Dieser breitete sich zunächst in der Kunst aus, wo mit dem Verschwinden verbindlicher Stile gnadenlose Beliebigkeit Einzug hielt, und sich bloße Exzentriker und Nonkonformisten zu Genies hochstilisierten. Nachdem die Maßstäbe von objektiver Qualität und handwerklichem Können sich aufgelöst hatten, begann die Idee, sich durch „Kreativität“ mit „Selbstverwirklichung“ beglücken zu können, zum massentauglichen Phänomen zu werden. Es erstaunte daher nicht mehr, wenn bloße „Aktionskünstler“ sich plötzlich im Rang eines Goethe oder Mozart sahen.

Im Zuge der Beseitigung des Humboldtschen Bildungsideals in der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts begann sich die Herrschaft der Dilettanten auszubreiten. Humboldt hatte das Bildungsideal an die Gleichzeitigkeit von mühsam erworbenem Wissen und der Einwurzelung in der moralischen Tradition geknüpft und damit vor dem hemmungslosen Technokraten einerseits und dem kenntnislosen Schwärmer andererseits gleichermaßen gewarnt.

Insbesondere die Zeitlosigkeit des in einem Kulturraum langsam gewachsenen Wissen und die Absage an den Zwang zur sofortigen „Umsetzung“ und „praktischen Nutzung“ alles „sinnvollen Wissens“ kennzeichnete die Bildungseinrichtungen des deutschsprachigen Raumes unter dem Eindruck des klassischen Bildungsideals. Diese Einrichtungen – Universitäten und Schulen - brachten viele Generationen verantwortungsbewusster Entscheidungsträger in allen gesellschaftlichen Bereichen hervor, die es verstanden, nicht sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen, sondern die ihnen anvertrauten Menschen und ihre Nöte ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen.

Mit dem Voranschreiten der „Modernisierung“ hallt seit einem halben Jahrhundert der Ruf nach „Entstaubung“ und „Entrümpelung“ der Lehrpläne, nach „Praxistauglichkeit“ und „Zeitgemäßheit“, nach „Chancengleichheit“ im Schulwesen und nach Beseitigung angeblich privilegierter Bildungseliten durch die Hallen von Parlamenten und Regierungseinrichtungen ebenso wie durch den medialen Blätterwald. „Wissen“ wird demokratisiert, Meinung ersetzt Kenntnisse, und – darf man wohl hinzufügen – der Glaube an Gott wird durch den Glauben an die eigene Bedürfnisbefriedigung ersetzt.

„Du kannst alles – wenn du nur willst.“ Das ist die Losung des Dilettanten. Und die Zerstörung der Verbindlichkeit zeitloser Bildung erzeugt das Biotop seiner Ausbreitung. Fünfzig Jahre sozialistische Bildungspolitik und ihre Duldung bzw. Mitverantwortung durch die sogenannten bürgerlichen Parteien Europas konnten nicht ohne Wirkung bleiben. Funktioneller Analphabetismus, das Herabbrechen der sittlichen Norm und die Lust, alle Lebensbereiche als bloße Show zu begreifen, machen sich überall bemerkbar. „Das Leben ist ein Hit.“

In diesem Biotop der Orientierungslosigkeit wird der Dilettant zur dominierenden Figur. Beauty-Docs werden zu Society-Stars, Charity-Ladies machen Sozialpolitik, Sportler werden zu Sängern und It-Girls füllen die Farbseiten auflagenstarker Tagesmedien. Der Dilettant ist fachlich unbefangen und von unerschütterlichem Selbstbewusstsein. Es gibt daher kein Gebiet, auf dem er sich nicht zu vermeintlichen Höchstleistungen berufen fühlt. Gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen liefern ihm dafür ein dickes Unterfutter.

So führte die verfehlte Politik einer hemmungslosen Ausdehnung der Geldmenge zur raschen Aufzucht verantwortungsloser Hasardeure. „Start ups“, New Economy, Technologie-Revolutionen und Börsebooms. „Moderne Finanzprodukte“ und astronomische Gewinnphantasien, Spekulanten ohne wirtschaftliche Kenntnisse, Banker ohne Hemmungen und Anleger ohne Hausverstand bewiesen, dass auch die Wirtschaft zur Spielwiese der postmodernen Spaßgesellschaft werden kann und wurde. Denn der „Finanz-Guru“ ist der Inbegriff des Dilettanten.

Die Show, der Schein, der überzeugende Auftritt, die Illusion und die mediale Resonanz bilden die Lebensgrundlagen des Dilettanten. Partys, Netzwerktreffen, Promi-Events, Galas und andere Inszenierungen machen ihn zu einer Persönlichkeit des öffentlichen Interesses, dessen einziger Maßstab es ist „dazu zu gehören“. Und so bevölkern Stil-Ikonen, Studienabbrecher, Verkäufertypen und Autodidakten alle Lebensgebiete der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Sie überzeugen aufgrund ihrer Anmaßung und sie glänzen, weil sie sich nicht scheuen, überall mitreden zu können und auf alles eine Antwort zu haben.

Es überrascht nicht, dass die Parteiendemokratie, die völlig mit der Bewußtseinsindustrie eines ideologisierten Mediensektors verwoben ist, geradezu treibhausartige Bedingungen für die universelle Herrschaft des Dilettanten bildet. Während wahre Demokratie nicht ohne moralischen und wertemäßigen Grundkonsens auskommt, beruht Parteiendemokratie – in Wahrheit die Diktatur von Parteien und Mediengewaltigen – auf Gleichschaltung, Mode, subjektivem Geschmacksurteil und der Verallgemeinerung hedonistischer Lust. Die Akteure der Parteiendemokratie sind demnach geradezu gezwungenermaßen Dilettanten.

Und das Publikum stört es nicht, wenn Minister zuerst in einem Ressort tätig sind, um aufgrund eines Beschlusses der Parteiräson übergangslos in einem anderen Ressort weiterzudilettieren. Wozu sollten sich auch in einer „demokratischen“ Gesellschaft Gesundheitsminister mit medinzinischen Kenntnissen, Verkehrsminister mit einer logistischen Fachausbildung, Verteidigungs- und Innenminister mit einem Basiswissen der Sicherheitspolitik oder gar Wirtschafts- und Finanzminister mit volkswirtschaftlichen Einsichten belasten? Dilettanten leben im Hier und Heute und scheuen den Ballast der Theorie und des historisch eingebundenen Wertebewusstseins.

Zum vermeintlichen Höhe- und Endpunkt des Dilettantismus entwickelte sich in den letzten Jahren die Unterhaltungsindustrie. Der herkömmliche Boulevard und die Zwischenetappe des „Infotainment“ wichen in ihrer Bedeutung einer geradezu rituellen Verabsolutierung des Dilettantismus, die besonders in der Television die Eckpfeiler der Programmgestaltung definiert.

Rietzschel widmet diesem gespenstischen Phänomen einen eigenen, eindrucksvollen Abschnitt in seinem Buch. Der Voyeurismus einer unterhaltungssüchtigen Mediengesellschaft hat dazu geführt, dass die dilettantischen Darbietungen nicht mehr einfach nur tolerierte Abgleitflächen der traditions- und wissenslosen Gesellschaft, sondern fanatisch ersehnte Beweise eines Triumphs der plebejischen Herrschaft wurden. Unter dem Primat der Quote entfalten Quizmaster, Moderatoren, Talkmaster und andere Hohepriester der Vermassung eine regelrechte Diktatur des schlechten Geschmacks.

Der auftretende Dilettant muß nichts wissen und nichts können – er muss nur bereit sein, sich vorführen zu lassen und zum Gaudium des Publikums ein wahrer Trottel, also „einer von uns“ zu werden. „Dschungelcamp“, „Deutschland sucht den Superstar“, „Dancing Stars“, „Millionenshow“, diverse „Alltagsdokumentationen“ („Sex im Osten“), Doku-Soaps und ähnliche Formate befriedigen die defizienten Gelüste der Zuschauer.

In diesem „Hochamt des Diletantismus … sind es die Jedermänner, … die die Talk-, Quiz- und Showmaster um sich versammeln. Wer immer zu ihnen kommt, tut es freiwillig, glücklich darüber, im Fernsehen auftreten zu dürfen. Alles darf er dort sein, solange er nur das Publikum amüsiert, nicht den Eindruck vermittelt, über ihm zu stehen. ´Der Zuschauer will keinen Hero sehen. Er ist ja selbst keiner. Wenn Leute sich blamieren, fühlt er sich automatisch besser`“, zitiert Ritzschel den Casting-Karrieristen Daniel Küblböck (S. 223).

Wer hätte geglaubt, das nach derartigen Darbietungen der letzten Jahre noch eine Steigerung möglich sein könnte? Der aktuelle Wahlkampf der Bundespräsidentschaftskandidaten beweist: Es gibt sie! Unter dem Druck der quotengeilen Medien und der sie konsumierenden Unterhaltungs-Junkies haben sich die Kandidaten in ein Korsett abstruser Vorführungen zwingen lassen, als deren Effekt die Unernsthaftigkeit und Sinnlosigkeit des gesamten politischen Sektors geradezu zwingend unter Beweis gestellt wird.

Exakt im Stile von Casting-Shows werden die Kandidaten für das „höchste Amt im Staat“ genussvoll durch die hohe Schule des Dilettantismus geschleift. Sie bekommen vom Showmaster Aufgaben zugewiesen, in denen sie, wie Tanzbären, verschiedene Zirkusnummern ausführen müssen. Geduldig versuchen sie sich als Köche von Eierspeis und behübschen sich dabei mit den Insignien eines würdigen Chefkochs. Sie dilettieren als Fremdenführer, Lebensberater und Alleinunterhalter in Outdoor-Inszenierungen, wobei die höchste fiktive Punkteanzahl für eine besonders distanzlose Unterwürfigkeit gegenüber den „einfachen Mitbürgern“ vergeben wird. In der Haltung abzuprüfender Unterstufler müssen sie nach einem zugeteiltem Stichwort sinnentleerte Schülerreferate halten. Die persönlichsten und intimsten Details werden abgefragt.

In den – mittlerweile berühmt gewordenen – 15-minütigen Zweierpaarungen, mehr oder weniger offiziell als „Speed dating“ bezeichnet, werden die Kandidaten aufeinandergelassen wie scharf gemachte Kampfhähne, deren vorzeitige Verendung als Zugeständnis an den Blutdurst der Zuschauer hingenommen wird. Die höheren Weihen des Aktionismus erhalten sie allerdings als Beifahrer eines Chauffeurs, der sich als Journalist ausgibt und die Probanden in seinem schicken Oldtimer durch die Kulisse der Landschaften Österreichs führt, während dessen diese ihre Leutseligkeit, ihren Humor, ihr Improvisationstalent und ihre Bereitschaft zur Selbstverleugnung unter Beweis stellen müssen.

Am Ende der Fahrt erhalten sie, ähnlich wie bei Überraschungs-Automaten im Prater, ein beziehungsvolles Geschenk aus dem Handschuhfach des Autos und müssen dieses auf möglichst originelle Weise kommentieren, ohne sich darüber zu ärgern, dass der entnommene Gegenstand auf irgendwelche persönlichen Schwächen Bezug nimmt.

Sämtliche dieser Inszenierungen haben den Charakter einer choreographierten Fiktion. Die Kandidaten werden in allen möglichen Disziplinen geprüft und vorgeführt, nur nicht in jenen, die für die Funktion erforderlich oder gar bedeutend sind, für die sie sich der Wahl stellen. Auch die sogenannten Elefantenrunden werden nicht als inhaltliche Konfrontationen angelegt, sondern so, als ob es sich dabei im die Abhaltungen von Assessment-Centers handelt, im Zuge derer die Prüflinge auf hintergründige Weise psychoanalytisch beleuchtet werden sollen.

Die radikalste Variante der Beseitigung jedes zusammenhängenden Gedankens ist die, mittlerweile in mehreren Wahlkämpfen zum Einsatz gebrachte, Unterhaltungsform des sogenannten word rap. Der Kandidat bekommt Stichworte hingeworfen, wie Nachbars Bello seinen Hundekuchen serviert bekommt, und muss blitzschnell eine originelle Reaktion herausrülpsen, ohne sich dabei zu sehr zu blamieren oder lächerlich zu machen, wobei genau das natürlich der Zweck des Dressuraktes ist.

Es ist nicht bekannt, unter dem Einfluß welcher Flüssigkeiten oder Pülverchen die zuständigen Redakteure der Fernsehanstalten die genannten Formate ausgebrütet haben. Auch weiß man nicht, ob die Programmmacher Wetten darüber abgeschlossen haben, ob ihre Versuchskaninchen im konkreten Vollzug wirklich bereit sind, sich auf diese Weise endgültig für jede ehrenhafte Arbeit entqualifizieren zu lassen. Fest steht aber, dass im Dschungelcamp des Präsidentschaftswahlkampf jede Chance auf eine ernsthafte Beschäftigung mit den großen gesellschaftlichen und politischen Fragen der Gegenwart nachhaltig beseitigt wurde.

Selbst dort, wo in Interviews ansatzweise „inhaltliche“ und nicht persönliche Fragen gestellt wurden, ging es ausschließlich um die Mobilisierung von Reflexen, die Erzeugung von Stigmata und die Stimulierung niedriger Formen der Konfrontation. Was soll die Verbeißung in die Fragen, wer wen angeloben oder entlassen würde, was dem einen oder anderen Gegenkandidaten unterstellt wird und was ein längst vergessener Sager an Emotionen hervorruft, sonst sein?

In einer funktionierenden Demokratie wäre das Wählerpublikum über die Konzepte und Vorhaben betreffend die existenziellen Probleme der Menschen informiert worden, und über die Frage, wie weit ein Bundespräsident eine diesbezügliche Rolle spielen kann und soll. Die Kandidaten hätten ihre Einschätzungen der Krisenherde der Welt und deren Bedeutung für unser Land dargeboten. Und sie hätten nicht ihre Befindlichkeiten, sondern ihr Weltbild und ihre Wertvorstellungen öffentlich gemacht, auf der Basis derer sie sich als moralische Instanz und als Moderator in schwierigen Situationen des Gemeinwesens einzubringen gedenken.

Es ist bemerkenswert, dass es keiner der Kandidaten abgelehnt hat, sich als Praterfigur medial vorführen zu lassen. Nicht einer hat zum Ausdruck gebracht, dass er sich nicht auf gruppendynamische Spielchen zur Optimierung des Unterhaltungswertes einläßt, und zwar nicht deshalb, weil er ein Spielverderber ist, sondern weil er alles daran setzen muß, die Würde des Amtes, für das er die Ehre hat zu kandidieren, vor Beschädigung zu bewahren. Stattdessen haben alle die Castingshow der Dilettanten willfährig mitgemacht.

Das ist eine melancholische Erfahrung angesichts der bereits sowieso in einer sehr späten Phase der Zerrüttung befindlichen Parteiendemokratie. Denn es nicht schwer zu prognostizieren, dass die word raps ihrer Funktionsträger erst im nahenden vollständigen krisenhaften Untergang verklingen werden.

Mag. Christian Zeitz ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Angewandte Politische Ökonomie.

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