Noch einmal Martin Luther: Die theologische Verwirrung und ihre Folgen

Im Anschluss an meine Rezension über Paul Hacker, „Das Ich im Glauben bei Martin Luther – Der Ursprung der anthropozentrischen Religion“, in diesem Blog vom 17. November – die große Diskussionen auslöste und mir aus meinem Umfeld und Freundeskreis, auch aus dem protestantischen, äußerst aufschlussreiche und durchaus ermutigende Rückmeldungen einbrachte – und zum Zweck weiterer kritischer Erörterungen im Hinblick auf das herannahende „Luther-Jahr“ 2017 sei hier noch ein weiteres Standardwerk zur Theologie Martin Luthers präsentiert: Theobald Beer: „Der fröhliche Wechsel und Streit – Grundzüge der Theologie Martin Luthers."

Es handelt sich um einen Klassiker katholischer Luther-Analyse. Prälat Beer (1902-2000) stammte aus der Nähe von Landshut in Niederbayern und ging in den 30er Jahren in das Bistum Dresden-Meißen (Bautzen, Leipzig). Somit war ihm der Protestantismus nicht nur aus Büchern sondern auch aus der davon geprägten Kultur vertraut. Beer wurde zum Fachmann, der auch lutherische Kirchenmänner über Luther belehren und gegebenenfalls korrigieren konnte.

Als für einen spezialisierten Adressatenkreis konzipiertes theologisches Fachbuch setzt es ein überdurchschnittliches Maß an Vorbildung und Problembewusstsein voraus. Der damalige Professor Joseph Ratzinger, der Beer an die Universität Regensburg zu einschlägigen Seminaren holte, lobte es mit enthusiastischen Worten.

Aussageabsicht

Die Grundaussage des umfangreichen Werkes ist, dass Luther

  1. sich von der klassischen biblisch-katholischen Theologie, besonders in der Gnadenlehre, ablöste
  2. die Lehren seines Ordensvaters Augustinus und des allgemeinen Lehrers Thomas von Aquin verwarf, und
  3. für seine Neuerungen auch eine neue Terminologie einführte und die althergebrachte mit neuen Bedeutungen füllte

„Der Einfluss des Neuplatonismus, der pseudohermetischen Literatur und der Gnosis (…) lässt seine Polemik gegen die griechische Philosophie und gegen die Scholastik in einem ganz anderen Licht erscheinen“ (J. Ratzinger).

Die polemische Neufassung der Gnadenlehre färbt auf alle anderen theologischen Traktate ab, besonders natürlich auf die Trinitätslehre und die Christologie.

Von dieser Neuausrichtung erhält die lutherische Theologie ihre schillernde und esoterische Qualität. Oft ist sie nicht auf den Punkt zu bringen, da es immer auch widerstreitende Aussagen gibt:

„Lutherforscher klagen: Die Sprache Luthers kann den reinen Logiker, für den die Eindeutigkeit der verwendeten Begriffe und Denkmittel oberstes Gesetz ist, zur Verzweiflung bringen. Aber nicht nur die Sprache, sondern die Sache selbst ist es, die den Widerspruch in sich trägt“ (173).

Beer muss daher, um Luther einigermaßen gerecht zu werden, dessen Lehre zu Gnade, Glaube und Rechtfertigung, zu Christologie und Anthropologie, auf etwa fünfhundert Seiten detailreich rekonstruieren. (Davon ist allerdings ein erheblicher Teil Apparat mit lateinischen und deutschen Luther-Zitaten, die eher für den Fachmann von Interesse sind, somit für das Gesamtverständnis nicht gelesen werden müssen.)

Widersprüche im lutherischen Denken

Es ist doch bezeichnend, dass jemand, der das Prinzip „Sola Scriptura“ („die Bibel allein“) als Schlachtruf ausgegeben hat, Schriften im Umfang von 127 Quartbänden (etwa 80.000 Seiten) hinterlässt (Weimarer Ausgabe).

Das ist nicht der einzige Widerspruch bei Martin Luther:
Beer stellt an manchen Stellen heraus, wo und wie Luther von der katholischen Lehre und von der Bibel (die entgegen der üblichen protestantischen Polemik eben zusammengehören) abweicht.
„Um Luthers Anliegen zu verstehen, kann man nicht von der Schrift ausgehen (…)“ (331).

Es ist bizarr zu sehen, wie jemand, der vorgeblich ein Verteidiger des Sola-Scriptura-Prinzips ist, den Apostel Paulus für dessen Lehre kritisiert:
„Nicht nur den Papisten macht Luther den Vorwurf, dass sie zwei Dinge miteinander vermischen, er ist auch der Meinung, Paulus verletze im Galaterbrief 3,5-6 die Regeln der dialektischen Schlussfolgerung, d.h. er halte Würdigkeit und Folge (im Sinne Luthers) nicht auseinander“ (167).

Neue Lehren

Inhaltlich geht es dabei um den „fröhlichen Wechsel und Streit“. Von der Idee ist es ungefähr das, was die katholische Theologie als admirabile commercium, als „wunderbaren Tausch“ bezeichnet: Christus nimmt die Schuld der Menschen auf sich und lässt sie im Gegenzug an der göttlichen Natur Anteil erhalten (vgl. 2 Petr 1, 4). Dabei formuliert Luther aber neuartige und sehr komplizierte Lehren, die sich aus dem Bibeltext nicht ergeben und die Kontinuität bisheriger Bibelauslegung abbrechen:

„Die Schlüssel, die Luther zur Eröffnung der Heiligen Schrift benützt, sind geformt nach der neuplatonisch-neupythagoreischen Philosophie, nach dem gnostisch beeinflussten Bild vom geköderten Leviathan und nach dem an Mysterienkulte erinnernden Wechsel. Damit kann jedoch die Heilige Schrift nicht erschlossen werden, es werden vielmehr Widersprüche in sie hineingetragen und die Türe zu ihrem Verständnis verschlossen. Bultmann spricht, mit Berufung auf Luther, von dem großen Rätsel oder Widerspruch im Neuen Testament, wie aus dem Verkündiger der Verkündigte wurde“ (406).

Die Auswirkungen sind enorm:
Um seine Sicht der Dinge durchzusetzen, muss Luther sogar die menschliche Natur vor dem Sündenfall als „Kot“(!) bezeichnen – was völlig unbiblisch ist („Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ – Gen 1,31) und der Weisheit des Schöpfers Hohn spricht. Luther muss hier eine geistige Verwandtschaft zum Häretiker Markion (2. Jhdt.) und zum Manichäismus (3. Jhdt.) konstatiert werden, gemäß denen die Schöpfung schlecht bzw. sogar böse sei.

Auch die wahre menschliche Natur Jesu Christi wird zur „Larve“ herabgesetzt, was die wirkliche Menschwerdung des Wortes (nach Joh 1, 14) abschwächt und zu (unzitierbaren) christologischen Entgleisungen führt (389).

Dem widerspricht wiederum Luthers Festhalten an „alle[n] Elemente[n] der katholischen Marienverehrung“ (381), insbesondere den Dogmen der Unbefleckten Empfängnis und der Himmelfahrt(!). Die Mariologie steht aber dadurch wiederum als „getrenntes Feld“ da (und verliert konsequenterweise im Protestantismus jede Bedeutung).

Bei Luther fällt praktisch alles auseinander, was eigentlich zusammen gehört.

„Theologische Spitzfindigkeiten“ oder geschichtsmächtige Weichenstellungen?

Viele Leser mögen sich unter Umständen fragen, ob das nicht alles akademische Spitzfindigkeiten sind, die mit dem „realen Leben“ nichts zu tun hätten.

Dem ist eben nicht so.

Luthers Theologie, die aus privat-persönlichen Gründen von seiner Rechtfertigungs- und Gnadenlehre ihren Ausgang nahm, brachte direkt und indirekt großen Einfluss auf Politik und Kultur hervor. Denken wir nur an die Schwächung der Abwehr gegen die türkische Aggression über den Dreißigjährigen Krieg bis zum preußischen Militarismus (der ohne die lutherische Staatshörigkeit nicht denkbar gewesen wäre).

„Reformation“ und Revolution – Das Fischen im Trüben

Diejenigen revolutionären Bewegungen, die man nachträglich unter dem irreführenden Schlagwort „Reformation“ zusammenfasste, waren von Menschen geprägt worden, die ihre eigenen Lieblings- oder auch Wahnideen den Mitmenschen aufnötigen wollten (vgl. Eric Voegelin: Luther und Calvin – Die große Verwirrung) und zu diesem Zweck alte traditionelle Bindungen zerschneiden mussten.

Obgleich die kirchliche Situation zur Zeit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert unbestritten reformbedürftig war, nämlich im eigentlichen Sinn des reformare, des „in die rechte Form Zurückbringens“, hat Luther das Reformanliegen verfehlt.

Dass man heutzutage Wahrheitsfrage, Glaube und Moral aus der Öffentlichkeit verbannt, dafür dort alle möglichen Perversionen zelebrieren lässt, ist ein Armutszeugnis unserer Zeit. Und auch indirekte Folge der Reformation, da sich deren Protagonisten nur auf ihr eigenes Gewissen beriefen (wie ehrlich auch immer) und das Glaubensgut des geoffenbarten Glaubens und der Moral über den Haufen warfen. Wenn also Pater Martin sagen durfte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, dürfen es andere vermutlich auch.

Man darf eben nicht vergessen, dass aus der Revolutionierung des Glaubens auch eine Revolutionierung der Moral folgt, somit in erster Linie auch eine Selbstermächtigung für unautorisiertes, eigennütziges und egozentrisches Handeln. Die Versuchung, im Trüben zu fischen, wurde und wird für viele Glaubensneuerer (nicht: Glaubenserneuerer!), Spalter und Gurus übermächtig. Auch Luther gestand sich selber allerhand zu, was die klassische Moral verboten hatte.

Aber nur ein gemeinsamer wahrer Glaube, der die mit der Herrschaft Beauftragten mit den Beherrschten verbindet und beide zu derselben Verpflichtung zu Wahrheit und Wohlwollen, kann Willkürherrschaft und Sklaverei verhindern, und zwar sowohl in der Glaubensgemeinschaft als auch in der politischen Gemeinschaft.

Beer spricht an einer Stelle die psychische Verfasstheit Luthers an, ohne sie näher auszuführen. Der versierte Leser spürt jedoch, dass die Luthersche Uminterpretation des gesamten überlieferten Glaubens, einschließlich des Wortlautes der heiligen Schrift, etwas Pathologisches an sich hat. Anders ist die Verbissenheit der Realitätsverweigerung nicht zu erklären.

Resümee

Dieses Buch gehört zur Pflichtlektüre für alle, die im offiziellen katholisch-lutherischen „Dialog“-Betrieb engagiert sind. Dort ist ja bekanntlich die Gefahr inhaltsleerer Phraseologie und des konsequenten und willentlichen Aneinandervorbeiredens am größten. Das Konzept scheint dort zu sein: Wenn man seinen Job nicht verlieren will, muss man den Dialog prolongieren und darf unter keinen Umständen zu einem konkreten Ergebnis kommen, etwa zu einer Wiedervereinigung der getrennten Christen.

Aber ein Dialog, der diesen Namen verdient (gemäß den Dialogen Platons oder dem berühmten Dialogue Concerning Heresies des hl. Thomas Morus von 1528, der die „reformatorischen“ Positionen, eben Martin Luthers und William Tyndales, widerlegt), benötigt eine inhaltliche Erdung.

Nicht zuletzt sollten sich die katholischen Hierarchen, besonders die Bischöfe und Kardinäle deutscher Sprache, dieses Buch vornehmen. Es wäre angesichts ihrer theologischen Desorientierungen eine gute Nachhilfe.

Nachdem das Buch Luther ernst nimmt und dessen Lehre gründlichst durchleuchtet, dabei auf klassische Polemik oder psychologische Interpretationen verzichtet, eignet es sich besonders für protestantische Gelehrte, die sich über ihre Glaubensvoraussetzungen intensiver Rechenschaft geben wollen. Betriebsblindheit gibt es ja nicht nur in Industriebetrieben oder Vereinen.

Prälat Beer war selbst kein Konvertit, daher fehlte ihm auch der für Konvertiten oft charakteristische Übereifer bzw. der Hang zur Polemik. Angesichts sehr ausladender unparteilich-neutraler Darstellungen lutherischer Gedankengänge fragt man sich aber, ob manchmal nicht mehr Würze angezeigt gewesen wäre.

Dem Johannes-Verlag Einsiedeln, der für seine spirituelle Reihe „Christliche Meister“ beliebt ist, gebührt das Verdienst, Theobald Beers Meisterwerk für Forschung, Apologetik und Kontroverstheologie zu einem günstigen Preis zugänglich gemacht zu haben. In Zeiten eines gewaltigen Konformitätsdrucks und einer von oben verordneten offiziösen Geschichtsschreibung und -deutung ist derartige Literatur von kaum zu überschätzendem Wert.

Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit – Grundzüge der Theologie Martin Luthers, Johannes-Verlag, Einsiedeln, 2. vermehrte Auflage 1980, 563 Seiten, 12,--; Horizonte Neue Folge 19 (Erstausgabe Benno-Verlag, Leipzig 1974)

MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe, Philosoph, Katechist, reiche Erfahrung im interkonfessionellen Gespräch

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