Europa in der Sackgasse

Besser hätte das Timing nicht klappen können: Der Titel der Veranstaltung im Club Unabhängiger Liberaler mit Botschafter Manfred Scheich – dem einstigen Chefarchitekten des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union – stand nämlich bereits längst fest, als die EU sich anlässlich der aktuellen Ereignisse in Zypern aufmachte, neue Gipfel der Währungs- und Vertrauenskrise zu erklimmen.

Gleich zu Beginn stellte der Diplomat klar, daaa die Behauptung, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ (so die deutsche Kanzlerin Angela Merkel) schlicht falsch sei. Europa sei eben mehr als eine Währungsunion. Die Beschwörung der Bedeutung der gemeinsamen Währung, respektive deren Krise, verstelle vielmehr den Blick auf die eigentlichen Gründe für die Probleme der Gemeinschaft. Diese bestünden in Divergenzen – oder in mangelnder Kohäsion – in wirtschaftlicher, politischer, kultureller, sozialer Hinsicht und in den Unterschieden der historischen Blickwinkel, unter denen die Union in verschiedenen Mitgliedsländern gesehen werde.

Mit dem 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht, sei „eine Schwelle überschritten“ worden. Mit den darin niedergelegten Zielen – insbesondere mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – wären tiefe Eingriffe in die Autonomie der Nationalstaaten verbunden gewesen. Während man bei der Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion vorangekommen sei, stünde die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik daher bis heute nur auf dem Papier – sie finde einfach nicht statt.

Eine der Ursachen der Probleme bei der Verwirklichung der geplanten Ziele bestehe in der laufenden Änderung der Parameter, der nicht Rechnung getragen werde. Die „Gründerväter“ des Europagedankens seien, da sie selbst nicht nur einen, sondern sogar zwei Weltkriege erlebt hätten, vom Gedanken der Errichtung einer dauerhaften Friedenszone beseelt gewesen. Auch die massive „Bedrohung durch die sowjetischen Panzerarmeen“ habe maßgeblichen Einfluss auf deren Denken ausgeübt. Für die heutige Politikergeneration dagegen hätten diese Faktoren keine Bedeutung mehr. Mit dem „Friedensargument“ sei niemand mehr zu mobilisieren, da besonders die jüngere Generation gar keinen anderen Zustand kenne und ihn daher als selbstverständlich gegeben betrachte. Das „emotionale Unterfutter“ sei somit dahin.

Man dürfe auch nicht übersehen, dass die Erweiterung der Union von anfangs sechs auf nunmehr 27 Mitglieder zu einer starken Zunahme der Heterogenität geführt habe. Schließlich sei die politisch-ideologisch, nicht aber ökonomisch motivierte Einführung einer gemeinsamen Währung deshalb ein schwerer Fehler gewesen, weil er den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedsländern jeden währungspolitischen Spielraum genommen habe. Der Euro sei für sie – im Außenverhältnis – einfach „zu teuer“. Das ihnen angelegte „währungspolitische Korsett“ behindere ihre gesunde Entwicklung. Nationale Weichwährungspolitik sei eben deutlich leichter verkraftbar als harte Austeritätspolitik, die stets besonders die Ärmeren schwer treffe.

Die im Maastrichtvertrag vereinbarten Verschuldungsgrenzen seien niemals ernst gemeint – deren Durchsetzung und Strafdrohungen politisch völlig unmöglich gewesen. Als ähnlich unwirksam werde sich auch der eben verschärfte „Stabilitätspakt“ erweisen. Schon im Jahr 2000 habe Jacques Delors (ehemals Kommissionsvorsitzender) im kleinen Kreis von einem kommenden „System von Ziehungsrechten“ – im Klartext Transferzahlungen – gesprochen.

Wenn auch unterstellt werden kann, dass alle Beteiligten von den besten und edelsten Absichten geleitet waren, sei doch in deren Umsetzung – bis zum heutigen Tage – vieles schief gelaufen.

Das schlechte Krisenmanagement seit 2008 sei sogar dazu angetan, das kollektive Vertrauen in das im Grunde gute, „alternativlose“ Projekt EU zu unterminieren. Trotz riesiger Transferzahlungen (allein Griechenland habe bereits 240 Mrd. Euro erhalten) sei man keinen Schritt weitergekommen. Die Schuldenberge würden weiter wachsen und die beinharte Austeritätspolitik würge jede wirtschaftliche Erholung in den Krisenstaaten ab. Schlimmer noch: Die Gräben zwischen den einzelnen Mitgliedsländern würden ständig breiter. Wir erlebten gegenwärtig antideutsche Ressentiments, ja gar eine „Germanophobie“, wie man sie längst überwunden geglaubt hatte.

Hauptschuld daran trüge die Währungsunion, die letztlich die wirtschaftliche Entwicklung der schwächeren Mitglieder behindere. Die nun auf den Weg gebrachte „Bankenunion“ werde an den strukturellen Problemen der Eurozone nichts ändern. Auf Dauer werde es so kommen, dass die Wähler in den Nettozahlerländern nicht auf Linie gehalten werden könnten. Und in den Empfängerländern werde man sich nicht dauerhaft ausländischen (deutschen!) Diktaten unterwerfen wollen.

Lösungsansätze

Zur Frage nach Auswegen und Lösungen meinte der Botschafter, dass eine „Transferunion“ aus den genannten Gründen kein nachhaltig tragfähiges Konzept sei.

Es gebe – was besonders Liberale stören müsse – keine „Ordnungspolitik“ mehr. Stattdessen werde nur noch „manipuliert“. Die Lösung der Verbindung von Handlung und Haftung sei fatal. Damit werde die Selbstverantwortung für ökonomisches Handeln ausgeschaltet, was im Gegenzug zu einer Zunahme der bürokratischen Kontrolle führe.

Stereotyp erhobene Forderungen nach „mehr Europa“ seien hohle Phrasen. Schließlich wäre damit eine supranationale Autorität mit direktem Durchgriffsrecht auf sämtliche nationale Politiken verbunden. Diese Vorstellung sei – nicht nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt – absolut unrealistisch.

Was sollte also geschehen? Scheich plädiert für eine „Phase des Konsolidierens und Verharrens“ und für ein „Herunterschrauben der Ambitionen“ [im Hinblick auf eine weitere politische Integration, Anm.]. Es sei mit „mehr Flexibilität“ und einer „variablen Geometrie“ der Maßnahmen auf die weiteren Entwicklungen zu reagieren. Eine „Schrumpfung der Eurozone“ sei vermutlich notwendig – und mit Hilfen und Zahlungen durch die stärkeren, darin verbleibenden Staaten auch zu schaffen.

In der an sein Referat anschließenden Debatte konstatierte Scheich im Hinblick auf Autonomiebestrebungen innerhalb einzelner EU-Staaten (UK/Schottland, Spanien/Katalonien) „gegenläufige Phänomene“: Einerseits wolle niemand raus aus der Europäischen Union, anderseits aber doch weg vom Nationalstaat. Er bewerte das als Ausdruck der „Identitätssuche“.

Zur Frage der Tendenz zur Überregulierung: Diese sei jeder großen Bürokratie inhärent. Zentralbürokratien tendierten nun einmal zur Machtakkumulation und jede Regulierung bedeute mehr Macht für die Zentrale. Der unbändige Wunsch des Europaparlaments nach Ausweitung seines Budgets sei eine typische Folge. An dieser Stelle erfolgte aus dem Publikum der Einwurf, dass zahlreiche EU-weite Regelungen die, nicht zuletzt von Wirtschaftsvertretern geforderte, Folge des Binnenmarktes seien. Scheich kritisierte, dass die nationalen Parlamente die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente zur Beeinspruchung von Aktivitäten der Zentralbürokratie nicht nutzen würden.

Fehlentwicklungen und Alternativen

Dass die Verknüpfung des Schicksals der EU mit jenem der Gemeinschaftswährung falsch sei, wäre schon daran zu erkennen, dass es den Binnenmarkt bereits 15 Jahre gegeben habe, ehe der Euro eingeführt wurde. Der Binnenmarkt – und dabei handle es sich um den Kern der EU – funktioniere aber auch ohne gemeinsame Währung.

Auch im Lichte der heutigen Tatschen bereue er sein Engagement für den Beitritt Österreichs zur EU nicht. gerade als EU-Befürworter müsse man indes Fehlentwicklungen erkennen, benennen und zu korrigieren versuchen. Im Übrigen habe der Beitritt dem „Wesen des Österreichers“ entsprochen. „Wir wollten dabei sein!“ An einer „europaskeptischen Haltung“ könne er nichts Falsches erkennen. „Skeptiker sind meist bessere Menschen als Gläubige (sic!).“ Skepsis sei eine Tugend, kein Makel.

Zypern hätte – bei korrekter Anwendung der Beitrittskriterien – niemals aufgenommen werden dürfen (keine geteilten Staaten!). Griechenland hatte für den Fall der Verweigerung des zypriotischen Beitritts jedoch mit einer Blockade der „Osterweiterung“ gedroht. Für Griechenland selbst habe es – lange zuvor – ein „negatives Avis der Kommission“ gegeben. Die Freundschaft zwischen dem damaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing und dem griechischen Ministerpräsidenten Karamanlis (Vater) sei aber schließlich Grund genug gewesen, dessen Aufnahme dennoch zu akzeptieren.

Das „Dogma Euro“ behindere, wie auch die „Verherrlichung“ des Lissabon-Vertrages, das Denken an Alternativen und sei daher schlecht. Die Größe des Bevölkerungsvolumens sei nicht maßgeblich für die internationale Bedeutung der EU – dabei handle es sich um eine schwerwiegende Fehleinschätzung. Eine funktionierende „Achse Paris-Berlin“ sei nach wie vor das Um und Auf der Union. Beide – sowohl die Deutschen als auch die Franzosen – brauchten außerdem die Briten in der EU. Deutschland, um den Interventionismus der Franzosen zu bremsen und die Franzosen, um mit dem mächtigen Nachbarn nicht allein dazustehen.

Die Kritik, wonach diejenigen schwer enttäuscht wurden, die sich von einem Beitritt Österreichs zu EU mehr Freiheit erwartet hatten, konnte der Botschafter nicht entkräften. Insbesondere die mit der Entwicklung des Binnenmarktes in keiner Beziehung stehenden Aktivitäten, wie etwa  das „Gender-Mainstreaming“, Diskriminierungsverbote und andere umfassende Regulierungen des Privatlebens, würden von vielen Bürgern als ernste Bedrohung ihrer Freiheit erlebt. Von dem von Botschafter Scheich beschworenen „Europa der Aufklärung“ scheinen wir uns jedenfalls recht rasant wegzubewegen…

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

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