Vor einigen Wochen befasste sich das Tagebuch mit der seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegebenen Riesenorgel. Der Beitrag hat ein gewaltiges Echo ausgelöst. Eine erstaunlich rasch wachsende Gruppe von Bürgern kämpft nun um diese Orgel. In der Folge ein Beitrag eines renommierten Organisten der die Orgel besser kennt als kaum ein anderer.
Viele Jahrzehnte tobte ein Streit zwischen zwei Richtungen des Orgelbaus, dessen Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Dabei ging es – kurz gesagt – um die Gegnerschaft zwischen
- der "barocken" und
- der "romantischen" Schule.
Die barocke hatte die Oberhand gewonnen, was bis in jüngste Zeit hinein zu einer bilderstürmerischen Zerstörung vieler bedeutender Orgeln der romantischen Richtung führte.
Heute ist man klüger: Wert und Berechtigung romantischer Orgeln sind wieder stärker ins Bewusstsein gekommen. In neuester Zeit geht der Trend dahin, bei Generalüberholungen von "barockisierten" Orgeln des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese wieder in den Originalzustand zurückzuführen.
Heute experimentiert man vermehrt mit einer Art "Universalorgel", die für alle Arten und Stile von Orgelliteratur bestmöglich geeignet sein soll. Das ist allerdings nur bei größeren Orgeln möglich. Der Dom zu St. Stephan hat ein solches Instrument, nutzt es aber nicht.
Eine Universalorgel liegt brach
Die Riesenorgel von Johann M. Kauffmann im Dom zu St. Stephan ist die größte Orgel, die jemals in Österreich errichtet wurde und bis heute das größte Musikinstrument der Republik. Auch sie ist ein spätes Opfer des Orgelkrieges. Seit 1991 ist sie stillgelegt.
Sie wurde nach einer internationalen Ausschreibung an die Firma Kauffmann vergeben, die zuvor bereits das Provisorium auf der Empore und die Chororgel zwischen Haupt– und Wiener Neustädter Altar errichtet und betreut hatte. Kauffmann erhielt den Zuschlag, weil er bereits seit dem II. Weltkrieg die Orgeln im Dom betreute, in Wien ansässig war und durch 104 Orgeln allein in der Hauptstadt seine Leistungsfähigkeit bewiesen hatte. Auch international war die Firma renommiert, stehen ihre Orgeln u.a. in Italien, Kroatien, Ägypten, Togo und China. Domorgelbaumeister Kauffmann vertrat die Zunft auch in europäischen Gremien.
Mit deutscher Hilfe
Der Bau des gewaltigen Werkes dauerte von 1956 bis 1960. Die Orgelweihe fand am 2. Oktober 1960 statt und wurde – unter reger Anteilnahme der Wiener Bevölkerung – von Franz Kardinal König gemeinsam mit Joseph Kardinal Frings (Köln) vorgenommen. Der deutsche Staat hatte sich wesentlich an den Kosten beteiligt, die Pfeifen und der Spieltisch wurden von deutschen Orgelfirmen (Laukhuff, Giesecke, Meisinger) geliefert. Die Trägerkonstruktion stammt von Wagner–Biro, die den Prospekt tragenden Engel vom Osttiroler, aus Prägraten stammenden Bildhauer Josef Troyer, die dem tonnenschweren Brustwerk eine überirdische Leichtigkeit verleihen.
Ein Instrument der Superlative – auch qualitativ
Mit ihren 125 klingenden Registern (Pfeifenreihen/Klangfarben) könnte jede Orgelliteratur an dieser Orgel – von Renaissance bis zeitgenössisch – gespielt werden. Mit den zusätzlichen Koppeln, freien Registraturen, Crescendowalze usw. ist das Spektrum der Klangfarben, die ein Organist erzielen kann, praktisch unbegrenzt. Das Spielsystem (= die Verbindung der Taste mit der Pfeife) sind elektropneumatische Taschenladen, wie sie auch der "Papst" des romantischen Orgelbaus, Aristide Cavaillé-Coll verwandt hat. Hohe Präzision und Geschwindigkeit sind die Vorteile dieses Systems. Außerdem verursacht es keine Nebengeräusche.
Die Riesenorgel ist europaweit eines der letzten Beispiele des romantisch–expressionistischen Orgelbaus, die noch existieren! Nicht zuletzt ist sie eine der letzten Riesenorgeln der Welt.
Die innere Bauweise der Orgel verrät größte Sorgfalt des Erbauers! Die Leitungsverlegungen und Steuer–Schnittstellen sind gut durchdacht und sehr sorgfältig ausgeführt. Das Pfeifenwerk ist von hervorragender Qualität in Material und Verarbeitung.
Instrumente dieser Bauart sind rar, in dieser Größe Rarissima. Ihr Erhalt ist auch für die nachkommenden Generationen wichtig und lehrreich.
Der Prospekt – ein "Geniestreich"
Der vom Dombaumeister Architekt Kurt Stögerer gemeinsam mit dem Orgelbauer entwickelte Prospekt stellt laut Prof. Karl Schütz (emeritierter Prof. für Orgelkunde an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien) den schönsten Freiprospekt (ohne Gehäuse) Europas dar. Er fügt sich sowohl kontrapunktisch als auch harmonisch in die gotischen Gewölbe der Empore ein.
Ein Denkmal
Die Orgel steht unter Denkmalschutz. Die zuständige Abteilung des Bundesdenkmalamtes plädiert für den Erhalt der Orgel. Die Orgel ist ein Symbol für den Abschluss des Wiederaufbaus des Domes und somit Stimme ganz Nachkriegs-Österreichs.
Die Gegner
Die Kritik der Orgelgegner richtete sich vor allem gegen die angeblich "klanglich unbefriedigende Leistung". Irgendwelche professionellen, seriösen Untersuchungen an der Riesenorgel wurden niemals durchgeführt.
In der Tat konnte aufgrund des enormen Platzbedarfes der Dommusik die Aufstellung der Register nicht ideal gelöst werden. Das Problem ist jedoch weitaus kleiner als von den Kritikern in Verkennung akustisch-physikalischer Gegebenheiten dargestellt. Hier sind wesentliche Verbesserungen mit geringem Aufwand möglich.
Kann man etwas verbessern?
Dem zweiten Vorwurf, die Intonation des Pfeifenwerks sei nicht optimal, kann durch eine sorgfältige Neuintonation begegnet werden. (Intonation ist nicht mit dem Stimmen zu verwechseln. Es geht hier um die Klangfarbe, nicht um die Tonhöhe. Gestimmt werden muss jede Orgel sowieso regelmäßig.) Dies ist der aufwändigste Teil der Instandsetzung (bei 10.000 Pfeifen sehr personal- und zeitintensiv).
Die gesamte Orgel müsste eigentlich schon lange routinemäßig gereinigt und gewartet werden. Das sollte bei jedem derartigen Instrument ohnehin etwa alle zehn bis 20 Jahre erfolgen. Weitere Verbesserungen im Klang würden durch akustische Klangkeilee und kleine Reflexionsplatten erzielt werden, mit denen die Aussprache der Pfeifen nach vorne geleitet, alle horizontal auslöschenden Innenreflexionen aufgehoben und die Klangenergie nach außen abgeleitet werden könnten und dabei von vorne vollkommen unsichtbar blieben.
Bei den Schwellkästen des 3. Manuals könnte man eventuell die oberen Jalousieflächen erweitern, vor allem aber den Anstellwinkel im Vollöffnungsbereich auf 45 Grad vergrößern.
Viele der genannten Maßnahmen, so wirkungsvoll sie auch sein würden, stellen sowohl arbeitstechnisch als auch finanziell relativ wenig Aufwand dar.
Die wichtigste und aufwändigste Maßnahme wäre die komplette Überarbeitung der Intonation. Und eine der wenigen Riesenorgeln, die die Welt noch besitzt, wäre gerettet!
Der in Wien lebende Organist und Musikprofessor Prof. Franz Falter hat auf der Riesenorgel mehrere hundert Konzerte gegeben. Er hat auch das einzige erhaltene Tondokument der Orgel bespielt, eine Polydor-Schallplatte.