Gastkommentare

Vormoderne und moderne Kultur

30. Oktober 2024 20:20 | Autor: Leo Dorner
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In säkularen Kulturen müssen sich Werte "zerteilen" – ein deutsches Wort für das halblateinische "Differenzieren" oder "Ausdifferenzieren". Wie diese Begriffe und deren Unterschiede zu verstehen sind, ist für das Selbstverständnis der modernen Kultur fundamental. 

Im Unterschied zum "Zerteilen" geschieht das eigentliche "Zerfallen" der Werte – genau und aktuell genommen –, wenn die moderne Kultur entweder von vormodernen Kulturen unterwandert wird, wie aktuell durch den Islam, oder wenn sie selbst Utopien gebiert, deren Zielen sich das bisherige Gesamtleben unterwerfen soll, wie aktuell durch "woke" Gerechtigkeitsideologien und "grüne" Klima-Weltrettungsideologien.

Diese beiden versuchen das bisherige Wirtschafts- und Kulturleben so rasch wie möglich lahmzulegen und nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu reglementieren, die sich oft als Endzeitvorstellungen präsentieren.

Das "Zerteilen" der Werte hingegen führt unmittelbar zu einem "Reichtum der Vielfalt", der mittlerweile zu einem Zentralwert der modernen Kultur aufgestiegen ist, und der es ermöglicht, das genannte "Lahmlegen" zu kaschieren oder als Vorurteil rückständiger Ideologien zu denunzieren. In diesem Sinn ist auch die aktuelle EU auf ewiges Anfangen und Erweitern, auf ein unaufhaltbares "Weiter-so" gestimmt.

Doch ist der "Reichtum der Vielfalt" ein prozessualer Wert, der sich ständig weiter zerteilt, als wäre seine Substanz ein Fass ohne Boden.

Der Prozess des immerwährenden Zerteilens besagt, dass an seinem (unerreichbaren) Ende, unübersehbar viele Teilwerte (mit ihren Teil-Öffentlichkeiten) resultieren, die als Identitätswerte immerhin noch begrenzte ("spezifische") "Wirs" begründen und (oft fanatisch) zusammenhalten, während das große Gesamt-Wir in einen Abgrund zu verschwinden beginnt, der knapp hinter dem Horizont der nächsten Zukunft wartet und droht.

Die allerletzte Stufe des Zerteilens sind beispielweise Künste von Künstlern, die sich selbst und ihre Werte für einen unersetzlichen Wert nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Gesamtleben der Kultur halten, obwohl sich dieses bereits mit unübersehbar vielen Teilwerten und Teilöffentlichkeiten angefüllt hat. Oder auch Wissenschaften von Wissenschaftlern, die ihr Spezialgebiet immer weiter spezialisieren, sei es in den Natur- oder in den Kulturwissenschaften.

Doch hat die digitale Kulturrevolution (seit der Jahrtausendwende) auch diesen Prozess durchdringend und radikal verändert. Welchen mathematischen "Zerteilungsprozessen" die digitale Welt sich verdankt, ist kein Geheimnis. Der neue Algorithmus rechnet anders als die bisherigen. Alle digitalen Stammtische sind von den vordigitalen oder gar von den vormodernen Wertegemeinschaften ungefähr so weit entfernt wie Pluto von der Sonne. 

Der Grund des Zerteilens, und warum wir damit nicht mehr aufhören können, ist seit spätestens 1800 kein Geheimnis. Philosophisch formuliert: Die theoretische Vernunft der Menschheit muss sich, weil radikal reflexiv geworden, ihres Grundes oder Abgrundes durch freies Denken in begründeten Begriffen versichern. Es gibt nun keine Realität mehr, die nicht bis "ins Letzte" hinterfragt wird, weshalb im Zuge der Aufklärung zuerst die Religion(en) ins Visier geriet(en), weil sie Begriffen von Offenbarungen huldigen, die ermächtigt seien, sich gegen alle säkularen Anfragen der Vernunft taub und gleichsam tot zu stellen. 

Aber dieser Konflikt zwischen Vernunftreligion und Offenbarungsreligionen, der nicht zufällig nach dem verheerenden Dreißigjährigen Religionskrieg und dem Beginn der Epoche der Aufklärung in Europa einsetzte, wurde von einem weiteren großen Teilungsprozess überlagert. Dieser führte zu zwei verschiedenen Kulturen in einer und derselben. Geistes- und Naturwissenschaften stehen sich seither wie zwei Fremde gegenüber, die sich zufällig und kurz vor Ort begegnen, um sich danach wieder ihren je eigenen Teilungsprozessen und deren unbegrenzt vervielfältigbaren Reichtümern zuzuwenden.  Wobei Kulturwissenschaften, die sich nicht mehr Geisteswissenschaften zu nennen wagen, ihre eigene Krise als Sich-Selbst-Fremdwerden erfahren. Was sich selbst fremd wird, soll und will sich verabschieden.

Bereits in der frühen Antike (Vorsokratiker) wurde der Konflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften unvermeidlich, (Heraklit versus Demokrit) und in der späten, hellenistischen Antike ebenso der Konflikt zwischen Vernunftreligion/Philosophie und Offenbarungsreligionen – zunächst gegen das polytheistische Paradigma, danach gegen das monotheistisch-christliche Paradigma. 

Die Geburt der modernen Naturwissenschaften

Dennoch bedurfte es noch eines Jahrtausends, ehe Bacons Novum Organum (1620) erfolgreich gegen das aristotelische Organon, dem auch die mittelalterliche Kirche und Theologie noch gefolgt war, aufbegehrte.

Die Gründung der modernen Naturwissenschaft verdankte sich einem neuen philosophischen Paradigma, das aus seinen Reflexionen über Gott und die Welt die Konsequenz einer neuen Botschaft zog:  Bacon, der "Evangelist der Wissenschaft" verkündete, dass man zwar Gott nicht verstehen könne, sehr wohl aber seine Schöpfung, wenn man ihr mit Beobachtung, Experiment und induktiver Argumentation auf den Leib rücke.

Dennoch war nicht ein besseres Verstehen von Natur und Welt der Zweck und das eigentliche Ziel des neuen Wissenschafts-Paradigmas. Nicht nur, warum und wie Vögel fliegen können, wurde jetzt gefragt, sondern wie der Mensch eines Tages selbst fliegen könnte, nachdem man der Natur das Gesetz des Fliegens abgelauscht habe. Sei dieses Gesetz erkannt, könne man vielleicht Dinge und Bedingungen herstellen, unter denen sich auch der Mensch fliegend in die Lüfte erheben wird.

Eine bessere Beherrschung der oft feindlich und unerklärlich agierenden Natur strebte diese neue Philosophie an. Und dazu wurde eine Phalanx neuer Naturwissenschaften einberufen, die ab sofort in alle Richtungen der Natur vorrücken sollte, um ihre Prophezeiung zu erfüllen. 

Neue Göttersöhne seid ihr, hatte das Christentum verkündet, neue Herren der Natur könnt ihr werden, verkündete die Botschaft der neuen Philosophie. 

Die erfüllte Prophezeiung

Deren Prophezeiung hat sich erfüllt: Eine neue Wissenschaft, die systematisches Beobachten und Experimentieren als neuen Stein der Weisen mit sich führt, werde die größten Fortschritte für das Wissen und die Wissenschaft des Menschen erobern. Aber nicht nur Fortschritte im Wissen, wie gleich anfangs verkündet wurde. Denn lediglich wissende Herren der Natur wären allenfalls "philosophierende" Herren und Besitzer gewesen, die auf ihrem neuen Grund und Boden nicht als wirkliche Besitzer hätten herumfahren und herumwerken wollen und können.

Weil aber der neue Stein der Weisen nicht selbst durch systematisches Beobachten und Experimentieren mit Beständen der Natur gefunden worden war, sondern durch eine anfangs noch riskante Behauptung eines Geistes namens Francis Bacon, der mit sich zu Rate gegangen war, um eine neue Reflexion über und dadurch eine neue Perspektive auf Gott und Welt zu finden, wissen wir, wer den Stein der modernen Naturwissenschaften ins (erfolgreiche) Rollen gebracht hat. Nicht diese selbst, sondern ihr philosophierender Pate.

Könnte Francis Bacon heute, vielleicht zusammen mit Elon Musk, auf einem Bildschirm und womöglich "live" verfolgen, wie eine Raumschiffrakete nach einem Rundflug im All punktgenau in ihre Abschussrampe wieder zurückkehrt, würde Bacons "Quod erat demonstrandum" das weit zurückliegende Gründungsjahr 1620 als historisches Wunder ehren. Und das Ereignis selbst vielleicht als "technisches Wunder", worauf ihn Elon Musk allerdings belehren müsste: Die alle Natur beherrschende neue Menschheit ist bereits bei der Atombombe als allerletztem "Wunder der Technik" angelangt.

An ihre Geburtsstunde werden die modernen Naturwissenschaften nicht gern erinnert, weil Wissenschaften, die zu weltweiter Dominanz aufgestiegen sind, als führendes Paradigma des wissenschaftlichen Wissens verehrt werden und daher als konkurrenzlos gewordene Sieger das Zielband erreicht zu haben glauben. Nobelpreise für Philosophen wurden auch für das nächste Jahrtausend im Voraus storniert.  

Die Ablösung des alten durch den neuen Ordo (Aristoteles musste Bacon den Vortritt lassen) beschert der nicht-szientifischen Philosophie spätestens seit Leibniz, und gleichgültig in welcher Spielart der philosophia perennis, eine immerwährende Frage und Reflexion: Warum musste eine spezielle Art der menschlichen Vernunft, die szientifische, weltbeherrschend werden? Obwohl diese doch unzählige Fragen der menschlichen Existenz nicht einmal als unabdingbare Fragen erkennen kann? (Man lese, wie hilflos Bacon die Rache als moralische Vernunftfrage zu erörtern versucht; es war nicht sein Metier.) 

Hier muss die Philosophie ihr Haupt beugen und der Geschichte den Vortritt lassen: Auch die szientifische Art ist eine der menschlichen Vernunft, die einmal die Geschicke der Menschheit bestimmen sollte. Vereinzelte Genie-Vorläufer in der Antike (Archimedes) sind dagegen kein Einwand. 

Die Entzauberung der Natur

Einen anderen Einwand gegen diese Diskussion zwischen Philosophie und Naturwissenschaft erhebt die Religion. Die Entzauberung der Natur durch das Christentum sei der eigentliche Anfang auch der Naturwissenschaften gewesen. 

Doch daran ist lediglich richtig, dass das Christentum ein Unmögliches möglich machte: Die Überwindung der polytheistischen Religionen der Antike, zuletzt der Römer und Griechen, die nach christlichen Begriffen extreme Formen von Aberglauben praktizierten. Es ist historisch belegt, auch wenn es moderne Historiker immer wieder zu ignorieren oder zu verharmlosen versuchen, dass zentrale politische Entscheidungen der antiken Kulturen durch religiöse Instanzen, die den Befehlen der Götter folgten, bestimmt wurden. 

Ob Krieg oder Frieden zwischen Nachbarkulturen geboten sei, darüber entschied zuerst der staatliche Amtspriester, wenn er die streng geregelten Riten der Vogelflugbeschauung oder die Leberbesichtigung ausgewählter Opfertiere vorgenommen hatte. Und der politisch letztentscheidende Politiker (Konsul, Diktator, König) bestätigte allenthalben die religiöse Vorausentscheidung, um sich nicht eines Frevels gegen die zuhöchst amtierenden Götter schuldig zu machen.

Was natürlich-menschlich nicht ausschloss, dass die Politik mit dem religiösen Willen der Götter zu "packeln" versuchte, umso mehr, wenn sie in der Kurie der Auguren bestochene "Mitentscheider" an Land gezogen hatte.

Immerhin hatten die Römer die grausamen Opferriten des Gottes Moloch in Karthago hinter sich gelassen. Dessen Priester forderten, als es ans letzte Eingemachte Karthagos ging, die Tötung der Kinder aller höheren Familien. (Für Romane-Leser mit starken Nerven: Flaubert, Salammbô 1862.)

Nachdem das Christentum 313 dank Konstantin Staatsreligion geworden war, wäre der Gedanke an die Gründung neuer Wissenschaften, noch dazu der Natur, ein sinnloser Luxus gewesen.

Denn die Konsolidierung der neuen weltlichen Macht im Gewand der Kirche zog vor, was immer auch Christus in der Bibel über das Verhältnis von "Kaiser und Reich Gottes" gesagt haben mochte.

In der heutigen Rückblick-Perspektive versuchte allein die byzantinisch-orthodoxe Konfession des Christentums eine Theologie von Christus als allwissendem Pantokrator zu inthronisieren. Wie noch heute in der Mönche-Republik auf Berg Athos anschaulich zu besichtigen ist. 

Aber warum musste die theoretische Vernunft der Menschheit reflexiv werden, nachdem sie die Anker der Religion gelichtet hatte? Eben deshalb.

 

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.

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