Die Genugtuung ist Erhard Hartung anzusehen. Ebenso wie Peter Kienesberger und Egon Kufner, zwei Kameraden aus dem Kreis einstiger Südtirol-Aktivisten, widerfährt ihm aufgrund von Forschungsergebnissen des Militärhistorikers Hubert Speckner endlich Gerechtigkeit. In jungen Jahren hatte sich Hartung, Spross einer alteingesessenen Tiroler Familie, im legendären BAS engagiert, dem „Befreiungsausschuss Südtirol“.
Ziel war ein wagemutiger Kampf für die Einheit des nach dem Ersten Weltkrieg geteilten Tirol. Diese Idealisten wollten – vor allem in den 1960-er Jahren – mittels Anschlägen auf italienische Einrichtungen die Weltöffentlichkeit auf das nicht anders als „Besatzungsregime“ zu nennende Gebaren Italiens in Südtirol aufmerksam machen und traten für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ein. Am Abend des 24. Juni 1967 stiegen die drei zur Porzescharte auf, zum Grenzkamm zwischen dem Osttiroler Bezirk Lienz und der italienischen Provinz Belluno.
Dort sollte die Gruppe, wie Kienesberger berichtet, mit von der italienischen Seite aus aufgestiegenen BAS-Aktivisten aus Südtirol Kontakt aufnehmen und einen verwundeten Kameraden zur Behandlung nach Österreich bringen. Als das vereinbarte Funkkontaktsignal ausblieb und stattdessen das kurze Aufleuchten eines Lichts zu sehen war, vermutete Kienesberger eine Falle des italienischen Geheimdienstes, brach das Vorhaben ab und kehrte mit seinen Kameraden zu deren Ausgangspunkt in der Gemeinde Obertilliach zurück, wo sie eine Stunde nach Mitternacht jenes Fahrzeug bestiegen, mit dem sie gekommen waren.
Just am Morgen des 25. Juni sollen – den offiziellen Ermittlungen zufolge – auf der Porzescharte vier italienische Soldaten zu Tode gekommen sein. Aufgeschreckt durch eine nächtliche Detonation seien sie zum Grenzübergang geeilt, wo – wie im Jahr zuvor – ein Strommast gesprengt worden war. Einer der Männer, der Alpini-Soldat Armando Piva, war demnach durch eine vergrabene Sprengfalle schwer verletzt worden und noch am selben Tag gestorben. Einer eingeflogenen Spezialeinheit soll dasselbe passiert sein: Carabinieri-Hauptmann Francesco Gentile und die Fallschirmjäger Mario di Lecce und Olivo Dordi hätten eine zweite Sprengfalle ausgelöst und seien dabei getötet, ein vierter Soldat, Marcello Fagnani, schwer verwundet worden.
Des von Politikern und Medien so genannten „blutigsten Attentats des Südtirol-Terrorismus“ wurden der im Zusammenhang mit früheren BAS-Aktionen bekannte Elektrotechniker Kienesberger, der bis dahin unauffällige Arzt Dr. Hartung sowie der Unteroffizier des österreichischen Bundesheeres Kufner bezichtigt und schließlich angeklagt. In Florenz wurden Kienesberger und Hartung zu lebenslänglicher, Kufner zu 24 Jahren Haft verurteilt; die Urteilssprüche ergingen 1971 in Abwesenheit der Angeklagten und fußten auf Gesetzen aus der Zeit des Faschismus.
Aufgrund von Erkenntnissen deutscher und österreichischer Höchstgerichte verstieß das florentinische Verfahren ebenso wie andere vor italienischen Gerichten geführte Südtirol-Prozesse vor allem dadurch, dass die Angeklagten nicht zur Hauptverhandlung geladen wurden und ihnen weder die Anklageschrift noch das Urteil zugestellt worden war, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
In Österreich wurden die drei hingegen freigesprochen. Der Freispruch war – wider alle staatsanwaltschaftlichen Bemühungen, die Täter mittels Schuldnachweis zu überführen – letztlich auf das durch Gutachten untermauerte Hauptargument der Verteidigung zurückzuführen, wonach die ihnen zur Last gelegten Taten im vorgegebenen Zeitrahmen nicht hatten durchgeführt werden können. Wozu die Anwälte ein Weg-Zeit-Diagramm ins Feld geführt hatten, mit dem sie die Geschworenen für ein „in dubio pro reo“ gewinnen konnten.
Die italienische Verurteilung ist indes nach wie vor in Kraft. Die drei gelten als „Terroristen“, und dies nicht nur in Italien, wo sie, reisten sie ein, mit Verhaftung rechnen müssten, sondern auch weithin in der Publizistik und, was ebenso schlimm ist, in der wissenschaftlichen Südtirol-Historiographie. Der Historiker Hubert Speckner, der sich drei Jahre lang intensiv mit der „Causa Porzescharte“ befasst hat, kommt nun zu einem anderen Urteil.
Er hat in dieser Zeit alle verfügbaren österreichischen Akten eingesehen, methodisch vorbildlich aufbereitet und ausgewertet. Dazu gehören auch für die Republik „sicherheitsrelevante“ und „streng geheime“, wie die Protokolle der Geheimverhandlungen zwischen den österreichischen und italienischen Sicherheitsbehörden in Zürich (ab Sommer 1966), von denen Nationalrat und Justizministerium allenfalls marginal in Kenntnis waren und die den Anwälten der Beschuldigten seinerzeit vorenthalten worden sind.
Speckner hat dann nach zwei ausführlichen Ortsbegehungen mit Fachleuten sowie gründlichen Analysen seine Schlüsse gezogen. Für ihn ist es höchst zweifelhaft, ob die vier Opfer überhaupt auf der Porzescharte zu Tode gekommen waren. Weder die österreichische noch italienische Seite haben Totenscheine, Obduktionsbefunde oder eine amtliche Tatortbeschreibung in den in Österreich geführten Verfahren vorgelegt.
Zeugen aus Österreich, wie Innenminister Dr. Franz Hetzenauer, ein gebürtiger Tiroler und der Osttiroler Bezirkshauptmann Dr. Othmar Doblander, die nach der Tat unabhängig voneinander den Tatort besichtigten, wurden nicht zu den Prozessen geladen. Hartung, pensionierter Anästhesie-Professor der Uni-Klinik Düsseldorf, sagt, was Speckners Forschungen bestätigen: „Die Berichte dieser Persönlichkeiten wurden offensichtlich bewusst zurückgehalten. Sie belegen, dass der angebliche Tatort ungeschützt war und anders ausgesehen hatte, als er Tage später von einer italienisch-österreichischen Kommission vorgefunden wurde“.
Der ehemalige österreichische Justizminister Prof. Dr. Hans Richard Klecatsky ist heute wie damals davon überzeugt, dass es sich bei dem „angeblichen Attentat um eine rein inneritalienische Manipulation auf der Porzescharte“ gehandelt hat. Plausibel begründet lautet daher eine von Speckners Schlussfolgerungen, dass die Soldaten vielmehr auf dem unweit gelegenen Kreuzbergsattel, wo laut Zeugenaussagen eine Verminungsübung italienischer Heereseinheiten stattgefunden hatte, einem Unfall zum Opfer gefallen und herbeigeschafft worden sein könnten, um im damals angespannten bilateralen Verhältnis Rom-Wien Österreich der „Begünstigung von Terroristen“, ja selbst des „Staatsterrorismus“ zu bezichtigen. Das angebliche „Porze-Attentat“ hatte Italien zum Vorwand genommen, um als Gründungsmitglied sein Veto gegen den Beginn von Verhandlungen über Österreichs EWG-Assoziierungsbegehr einzulegen.
Es passte auch nur allzu gut in die damalige „Strategie der Spannung“. Diese „Strategia della tensione“ wurde von verschwörerischen Kreisen betrieben, die in geheim(bündlerisch)en Vereinigungen neofaschistischen Zuschnitts wie „Ordine nuovo“ und „Avanguardia Nazionale“ organisiert waren. Sie waren auch verankert in Teilen italienischer Dienste sowie im geheimen „Gladio“-Netzwerk des Militärs. Sie wollten (letztlich erfolglos) die gesellschaftliche Unterfütterung für einen Wechsel in Italien hin zu einem autoritären Regime vorbereiten.
An führender Stelle in Südtirol wirkte dabei das Gladio-Mitglied Dr. Silvano Russomanno mit, der just in den Zürcher Geheimgesprächen den Vertretern österreichischer Sicherheitsbehörden gegenübergesessen war. Es war ein Ziel der italienischen Dienste, mittels fingierter Anschläge die Südtiroler Freiheitskämpfer zu diskreditieren. Sie wollten damit – nicht ohne Wissen und Zustimmung, ja sogar auf Geheiß politischer Verantwortungsträger – politisch Druck auf Österreich ausüben. Darin involvierte oder gar Regie führende Leute des Gladio-Netzwerks hatten als Teil der geheimen italienischen „Stay behind“-Einheiten das zusätzliche Interesse, die Spannungsmomente zu erhöhen, ein Bedrohungsbild zu erzeugen und die Südtirol-Aktionen im Sinne ihrer Umsturzpläne zu instrumentalisieren.
Es gab daher im Rahmen der „Strategie der Spannung“ durchaus nicht wenige „getürkte“ Attentat(sversuch)e. Senator Marco Boato ließ im 1992 veröffentlichten parlamentarischen Untersuchungsbericht auch auf Südtirol bezogene auflisten. Höchst aufschlussreich sind Passagen, in denen die Namen der besonders in die Südtirol-Aktionen involvierten Personen aufgelistet sind – zu ihnen zählt besagter Russomanno. Der Carabinieri-Oberst Amos Spiazzi spricht davon, dass „der Staatsapparat in den Südtirol-Terrorismus involviert gewesen“ sei.
Der venezianische Untersuchungsrichter Felice Casson deckte 1990 aufgrund seiner Recherchen in den Archiven des Militär-Abschirmdienstes SISMI die Existenz einer „geheimen komplexen Struktur innerhalb des italienischen Staates auf“. Er machte 622 Gladio-Mitglieder namhaft. Er fand heraus: Sowohl Mitarbeiter des SISMI respektive der Vorgängerorganisation SID, die 1964 auf den aufgelösten SIFAR gefolgt war, neofaschistische Organisationen wie „Avanguardia Nazionale“ und „Ordine Nuovo“, wie auch Teile des Gladio-Netzwerks, die unter anderem in Gruppierungen wie API (Associazione Protezione Italiani) und MIA (Movimento Italiani Alto Adige) wirkten und zu denen auch „Gladiator“ Russomanno gehörte, hatten von den 1960-ern bis in die 1980-er Jahre „zahlreiche politisch motivierte Terroranschläge und Morde in Italien begangen“.
Oberster Drahtzieher war General Giovanni De Lorenzo, ursprünglich Leiter des Militärgeheimdienstes SIFAR, danach Kommandeur der Carabinieri-Truppe, aus der heraus er Vertrauensleute ins Gladio-Netz einschleuste. Der „Gladio-Prozess“ 1994 in Rom warf ein bezeichnendes Licht auf die Umtriebe De Lorenzos und seiner Mannen, auch in Südtirol. Angeklagt waren unter anderen General Paolo Inzerilli, ehemaliger SISMI-Chef und Kommandeur der illegalen Gladio-Einheiten sowie das Gladio-Mitglied Francesco Stoppani. Eigens dazu angeworben, sollte Stoppani Kienesberger entweder nach Italien entführen oder liquidieren. Inzerillo hatte in dem Verfahren die früheren Minister Ruffini (Inneres) und Rognoni (Verteidigung) beschuldigt, von alldem gewusst zu haben.
Peppino Zangrando, als Präsident der Belluneser Anwaltskammer von hoher Reputation, stellte in der „Causa Porzescharte“, in der er jahrelang recherchiert hatte, ein Attentat des BAS in Abrede. 1994 wollte er den Fall neu aufrollen, sein Wiederaufnahmeantrag scheiterte aber an der Staatsanwaltschaft.
Die angebliche Täterschaft bedurfte im Licht all dieser damals aufwühlenden Vorgänge zwingend einer neuen Durchleuchtung. Dieser Aufgabe hat sich Hubert Speckner auf methodisch zu rühmende Weise unterzogen. Er förderte mit seiner prägnanten Studie neue Einsichten und Erkenntnisse zu Tage, an denen in Hinkunft niemand vorbeikommen wird, der ernst genommen werden will. Seine überzeugenden Darlegungen sollten nicht zuletzt auch dazu führen, jenes obskure florentinische Urteil aus der Welt zu schaffen, mit dem Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon Kufner 1971 gänzlich wahrheits- und rechtswidrig für eine nicht begangene Tat verurteilt und damit zu Mördern gestempelt worden sind. Sie bedürfen dringend der öffentlichen Rehabilitierung.
Herrolt vom Odenwald ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.
Biblographische Angaben
Hubert Speckner: „Zwischen Porze und Roßkarspitz …“ Der „Vorfall” vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, Wien (GraWis) 2013, ISBN 978-3-902455-21-5; 368 S. € 29,70